Aristoteles: Gesammelte Werke. AristotelesЧитать онлайн книгу.
müsse, oder ob man in Krankheitsfällen dem Arzte folgen und bei der Wahl eines Feldherrn einem kriegstüchtigen Manne seine Stimme geben solle; ebenso, ob man einem befreundeten Manne mehr Dienste leisten müsse als einem tugendhaften und tüchtigen, und ob man Liebe und Gunst eher einem Wohltäter wieder erweisen als einem lieben Gefährten zuvor erweisen müsse, wenn beides zusammen nicht möglich ist. Alle solche Fragen genau zu entscheiden, ist gewiß nicht leicht, da hier viele und mannigfache Unterschiede auftreten, je nachdem die fragliche Sache groß oder klein und die betreffende Handlung mehr sittlich schön oder mehr notwendig ist. So viel indessen steht außer Zweifel, daß man nicht Einem alles gewähren solle, und ebenso, daß meistens die Pflicht, empfangene Wohltaten zu vergelten, der Pflicht, Gefährten gefällig zu sein, vorangeht, indem die Wohltat einem Darlehen verglichen werden kann, auf das der Gläubiger ein größeres Recht hat als der Gefährte. Aber vielleicht gilt selbst das nicht für alle Fälle. Es fragt sich z. B.: muß einer, der aus Räuberhänden losgekauft worden ist, seinen Befreier, wer er auch sei, wieder loskaufen und ihm selbst, wenn er nicht gefangen ist, aber das Lösegeld wieder haben will, es zurückzahlen, (1165a) oder muß er zuerst seinen gefangenen Vater loskaufen? Man sollte doch meinen, da sei man noch eher verpflichtet, den Vater loszukaufen als sich selbst.
Wie gesagt nun, im allgemeinen gilt die Regel, daß man vor allem seine Schuld bezahlen muß; wenn aber in einem freiwilligen Dienste das sittlich Schöne oder die Notwendigkeit überwiegt, so muß man zugunsten dieser Momente von der Regel abweichen. Denn manchmal entspricht es nicht einmal der Forderung der Gleichheit, wenn man einen empfangenen Dienst erwiedert, wenn nämlich jemand einem Manne, dessen Rechenschaft ihm bekannt ist, gutes erwiesen hat, und ihm dann der andere, obschon er ihn für schlecht hält, vergilt. Man darf ja mitunter nicht einmal einem Menschen, der einem geborgt hat, wieder borgen; denn er hat im Vertrauen, das Geld wiederzubekommen, einem rechtlichen Manne geborgt, während man die Zurückzahlung von einem gewissenlosen Menschen nicht erwarten kann. Verhalte sich nun die Sache wirklich so, oder habe man blos so gemeint, so trägt das nicht viel aus; denn im ersten Falle ist die Würdigkeit beider Teile nicht gleich, und im zweiten Falle handelt man wenigstens nicht unvernünftig. Man sieht also hier unseren oft wiederholten Satz bestätigt, daß die Erörterungen über die menschlichen Affekte und Handlungen keinen höheren Grad von Bestimmtheit zulassen als ihr Gegenstand.
Daß man nun nicht allen dasselbe schuldet, und auch seinem Vater nicht alles hinzugeben braucht, wie man ja auch dem Zeus nicht alles opfert, unterliegt keinem Zweifel. Da vielmehr Eltern, Brüder, Jugendgenossen und Wohltäter verschiedene Ansprüche haben, so muß man jedem das grade ihm Gebührende und Angemessene erweisen. Und so verfährt man auch in der Tat. Zu Hochzeiten lädt man die Verwandten ein; denn mit ihnen teilt man das Geschlecht und darum auch das Interesse an den das Geschlecht berührenden Handlungen. Ebendeshalb meint man auch, daß sich zu Bestattungsfeiern vorzugsweise die Verwandten einfinden müssen. Den Eltern soll man vor allem den Lebensunterhalt gewähren, da man hierin ihr Schuldner ist, und es höheren sittlichen Wert hat, den Urhebern seines Daseins den Unterhalt zu gewähren, als in diesem Sinne für sich selber zu sorgen. Auch Ehre soll man den Eltern wie den Göttern erweisen, doch nicht alle Ehre; denn die Mutter erhält schon nicht die gleiche Ehre wie der Vater; auch nicht die Ehre, die man dem Weisen oder dem Feldherrn erweist, sondern man gibt dem Vater die ihm gebührende Ehre und ebenso der Mutter die ihr gebührende. Auch jedem Älteren soll man die Ehre des Alters erweisen, durch Aufstehen, Einräumen des Ehrenplatzes bei Tische und was dergleichen mehr ist. Den Jugendgenossen wiederum und Brüdern gegenüber gehört sich Offenheit und Gemeinsamkeit in allen Stücken. Ebenso muß man nun auch den Verwandten, Zunftgenossen, Mitbürgern und allen sonstigen Genossen stets das ihnen Gebührende zu erweisen suchen, und dabei nach Möglichkeit ihre Vertrautheit mit uns, ihre Tugend und den Wert, den sie für uns haben, berücksichtigen. Bei Personen von gleicher Abstammung ist das Urteil hierüber leichter, bei Fremden schwerer. Doch darf man deshalb nicht davon abstehen, sondern muß die Ansprüche eines jeden so weit zu ermitteln suchen, als es eben geht.
Drittes Kapitel.
Man kann auch zweifeln, ob man die Beziehungen zu (1165b) solchen Freunden, die nicht die Alten bleiben, abbrechen darf und soll, oder nicht. Es scheint jedoch der Abbruch der auf dem Nutzen oder der Annehmlichkeit beruhenden freundschaftlichen Beziehungen, wenn diese Voraussetzung nicht mehr vorhanden ist, keinem Bedenken zu unterliegen. Man war ja nur Freund dieser Annehmlichkeit oder dieses Nutzens, und es ist natürlich, wenn mit ihrem Wegfall auch die Liebe aufhört. Wohl aber dürfte man sich beklagen, wenn jemand, der des Nutzens oder der Annehmlichkeit wegen Freundschaft hielt, sich stellte, als täte er dies wegen unseres Charakters. Denn die meisten Mißhelligkeiten unter Freunden kommen, wie wir eingangs bemerkt haben, daher, daß die Freundschaft in Wahrheit eine andere ist, als man meint246. Wenn nun jemand hier sich selbst getäuscht und angenommen hat, er werde wegen seines Charakters geliebt, da doch der andere nichts dergleichen tat, so mag er die Schuld daran sich selbst zuschreiben; ist er aber durch die Verstellung des anderen getäuscht worden, so kann er demselben mit Recht deshalb Vorwürfe machen, und das weit mehr als einem Falschmünzer, da die Sache, die hier von dem Betrug getroffen wird, weit höher an Wert steht.
Wenn man aber jemanden als einem ehrenhaften Charakter seine Freundschaft geschenkt hat, und derselbe dann schlecht wird und sich auch als schlecht zeigt, muß man ihm da die Freundschaft und Liebe bewahren? Oder ist das nicht möglich, wenn doch nicht alles liebenswert ist, sondern allein das Gute? Aber man hat nicht blos keine Verpflichtung, einen schlechten Mann wie einen Freund zu lieben, man darf es auch nicht. Denn man darf kein Freund des Bösen sein und sich dem Schlechten nicht gleich machen; das täte man aber bei der Fortsetzung der Freundschaft; denn, wie schon gesagt, gleich und gleich gesellt sich gern247. Soll man aber nun in einem solchen Falle die Freundschaft sofort auflösen? Oder ist es nicht vielmehr so, daß sich das nicht immer und überall empfiehlt, sondern nur solchen Personen gegenüber, die keine Aussicht auf Besserung bieten. Dagegen ist es eine weit höhere Pflicht, denjenigen, die noch einer Besserung fähig sind, dazu behilflich zu sein, als dem Freunde materiellen Beistand zu leisten, da das sittliche Moment höheren Wert hat und enger mit der Freundschaft zusammenhängt. Wer aber die Freundschaft auflöst, tut nichts verkehrtes. Denn die bisherige Neigung galt einem solchen Menschen nicht. Da er also ein anderer geworden ist, und man ihm nicht wieder aufhelfen kann, so scheidet man von ihm.
Wenn aber der eine Freund der alte bliebe, der andere aber tugendhafter würde und hierin den ersten um vieles überträfe, könnte er ihn da noch fort und fort als seinen Freund behandeln? Daß das unmöglich wäre, sieht man am besten bei großem Abstände beider Teile, wie er z. B. bei Freundschaften aus der Knabenzeit sich herausbilden kann. Bliebe der eine geistig ein Kind, und der andere würde einer der besten Männer seiner Zeit, wie könnten sie da Freunde bleiben, da sie nicht denselben Geschmack hätten, und das, was ihnen Lust oder Unlust erweckte, nicht das Gleiche wäre? Auch an einander würde ihnen nicht das Gleiche gefallen oder mißfallen, und ohne das erschien uns eine Freundschaft als unmöglich, da kein Zusammenleben mehr sein könnte. Wir haben uns darüber schon ausgesprochen.
Muß man sich nun in diesem Falle zu dem ehemaligen Freunde etwa gar nicht anders stellen, als wenn er niemals unser Freund gewesen wäre? Gewiß nicht! Einer alten Vertrautheit darf man nicht vergessen, und wie man glaubt, gegen Freunde gefälliger sein zu müssen als gegen Fremde, so muß man auch gewesenen Freunden um der früheren Freundschaft willen etwas zugestehen, wenn nicht die Trennung wegen gar zu großer Schlechtigkeit erfolgt ist248.
Viertes Kapitel249.
Die