Feigling oder Führungskraft?. Nicole PathéЧитать онлайн книгу.
war es auch bei Herrn Anders. Er leitete bereits zwei Jahre den Aus- und Fortbildungsbereich eines Versicherungskonzerns. Zuvor hatte er im selben Unternehmen unterschiedliche Funktionen im Vertrieb ausgeübt, sodass ihm die Position in der Zentrale eine andere Perspektive und eine neue Aufgabenstellung bot. Herr Anders war von seinem Vorgesetzten auf die Stelle angesprochen worden und hatte bereits nach dem ersten Gespräch zugesagt. Einziger Wermutstropfen war die räumliche Entfernung zu seinem Wohnsitz und seiner Familie. Der neue Arbeitsplatz lag 450 Kilometer von seinem Heimatort entfernt.
Herr Anders entschloss sich, zunächst zu pendeln und nur an den Wochenenden nach Hause zu fahren. Er und seine Frau hatten vereinbart, dass die Familie an den neuen Arbeitsort umziehen würde, sobald Herr Anders in der neuen Aufgabe Fuß gefasst hatte. Dies war bereits nach drei Monaten der Fall und die Familie begann, die künftige Wohnsituation zu planen. Herr Anders und seine Frau kauften ein Grundstück an seinem neuen Wirkungsort und die Baumaßnahmen begannen. Bis zum Beginn des neuen Schuljahres wollten sie umgezogen sein, um ihren beiden Kindern den Start am neuen Gymnasium zu erleichtern.
Drei Monate vor dem geplanten Umzug bat der Vorstand Herrn Anders zu einem Gespräch. Er sei sehr zufrieden mit dessen Leistung und daher würde bereits eine neue Aufgabe an einem anderen Einsatzort auf ihn warten. »Da brauche ich Sie unbedingt und zähle auf Sie.« Dieses Angebot könne jedoch erst später genau benannt werden, da die Stelle aktuell noch besetzt sei. Daher wäre der Gesprächsinhalt selbstverständlich vertraulich und man bitte ihn gleichzeitig um Geduld. »Ich komme auf Sie zu, sobald sich die Dinge entsprechend konkretisiert haben und ich Ihnen Näheres dazu sagen kann.« Mit diesen Worten verabschiedete der Vorstand Herrn Anders.
»Es wäre ja verrückt, die ganze Familie umziehen zu lassen, wenn ich bald an einen anderen Standort versetzt werde«, dachte er und seine Frau teilte seine Sichtweise. Sie verkauften daraufhin das noch nicht ganz fertiggestellte Haus und lebten weiter damit, dass die Familie sich nur am Wochenende sehen konnte. Es war ja schließlich nur noch eine Frage der Zeit … Herr Anders wartete und sprach mit niemandem über das Gespräch mit seinem Vorstand. Als nach einem Jahr immer noch nichts passiert war, machte sich eine immer stärkere Unzufriedenheit in Herrn Anders breit. Die Belastung der Wochenendpendelei war ihm inzwischen anzumerken. Niemand verstand so recht, warum der Familienmensch Anders immer noch nicht mit seiner Familie zusammenwohnte. Die Situation hatte längst auch zu familiären Spannungen geführt. »Du hast gesagt, es ist nur vorübergehend und dann wohnen wir wieder unter einem Dach!«, waren die Worte seiner Frau und der Kinder.
Typisch Feigling: Abwarten
Wen wundert es, dass Herr Anders unzufrieden war? Doch aus Sorge, sich den nächsten Karrieresprung zu verbauen, sprach er den Vorstand nicht mehr auf die avisierte neue Aufgabe an. Er erinnerte sich an die Worte »Ich komme auf Sie zu, sobald die Dinge sich geklärt haben«. »Wenn ich ihn jetzt anspreche, sieht es so aus, als würde ich mich über seine Worte hinwegsetzen und drängen. Außerdem könnte der Eindruck entstehen, ich sei mit meiner aktuellen Aufgabe nicht zufrieden. Am Ende kippt das positive Bild, das der Vorstand von mir hat, und ich gefährde die bis jetzt gute Beziehung.« Diese Überlegungen hielten Herrn Anders tatsächlich eineinhalb Jahre davon ab, das Gespräch mit dem Vorstand zu suchen und die Situation zu klären.
Den Gedanken von Herrn Anders könnte man die Überschrift »Worst-Case-Szenarien« geben. Typisch für Feiglinge. Je länger sie über negative Verläufe nachdenken, sich diese regelrecht ausmalen, desto größer wird die Angst davor, dass es tatsächlich so kommen könnte. Die Chancen, die in einem Gespräch lagen, blendete Herr Anders lange Zeit aus. Erst nach eineinhalb Jahren fand er schließlich den Mut für ein klärendes Gespräch mit seinem Vorstand. Vorwürfe sind selten sinnvoll und so richtete er seinen Blick nach vorne. Auf seine gezielten und klaren Fragen an den Vorstand zur weiteren Planung seines Einsatzes bekam er die Antwort, dass in absehbarer Zeit keine Veränderung vorgesehen sei. An das Gespräch vor achtzehn Monaten konnte sich der Vorstand nur noch vage erinnern. »Mag sein, Herr Anders, dass es seinerzeit Überlegungen gab, die haben sich wohl aufgelöst.«
Herr Anders verließ das Gespräch mit einer Mischung aus Wut und Erleichterung. Die Wut richtete sich zum Teil gegen den Vorstand, der sich kaum noch an die geäußerte Jobperspektive erinnern konnte, geschweige denn, sich daran gebunden fühlte. Einen großen Teil seiner Wut richtete Herr Anders aber gegen sich selbst: Warum in aller Welt hatte er das damalige Gespräch einfach so stehen lassen, ohne jemals nachzufassen? Wie viele schlaflose Nächte hatte ihn die unklare Situation gekostet? Wie viele zermürbende Diskussionen mit seiner Familie? Die Erleichterung galt der Erfahrung, Mut aufgebracht und damit Klarheit erhalten zu haben. Der Inhalt war zwar nicht positiv, denn eine Beförderung ist etwas anderes als die Aussage, dass sich in den kommenden Jahren keine Veränderung ergeben würde. Aber die Klarheit war der Gewinn – darin lag die positive Erfahrung, die Herrn Anders für die Zukunft stärkte.
Eine späte Einsicht, aber immerhin eine, die ihn zukünftig vor vergleichbaren Situationen schützen würde. Fragezeichen ließ er seitdem nicht lange im Raum stehen, sondern nahm es mit Arthur Schopenhauer, der sagte:
Typisch Feigling: Hinhaltetaktik
So widerspruchslos Herr Anders das Ausbleiben einer zugesagten Beförderung hingenommen hatte, so widerspruchslos nahm Frau Kunze die Aussage ihres Chefs hin. Seit sechs Jahren arbeitete sie in Teilzeit als Sachbearbeiterin im Vertragsmanagement eines Energieunternehmens. Nach der Trennung von ihrem Mann lebte sie nun mit ihren beiden Kindern alleine und war darauf angewiesen, ihre Einkommenssituation zu verbessern. Also fragte sie ihren Vorgesetzten, ob sie ihre Teilzeitstelle auf eine Vollzeitstelle ausweiten könne. Ihr Vorgesetzter meinte, dies sei momentan im Unternehmen grundsätzlich schwierig, da Personalkosten reduziert werden sollten. Er müsse einen günstigen Zeitpunkt abwarten, dann würde er vorsichtig nachfragen. Doch: Kein Bild, kein Ton kam dazu von Frau Kunzes Vorgesetztem. Stattdessen hörte sie aus der Nachbarabteilung, dass einer Mitarbeiterin eine Vollzeitstelle genehmigt wurde und deren Chef sich sehr dafür eingesetzt hatte. Überhaupt lief in der Nachbarabteilung einiges anders: Die Mitarbeiter waren oft deutlich besser und schneller über Themen im Unternehmen informiert, und der Leiter der Abteilung war bekannt dafür, dass er seine Leute in gute Positionen weiterentwickelte. Es war bestimmt nicht einfach, mit der Kritik umzugehen, die dieser Leiter seinen Mitarbeitern stets zukommen ließ, sobald ihm ein zu optimierendes Verhalten aufgefallen war. Aber das war allemal besser, als nie irgendeine Rückmeldung zu bekommen. So wie Frau Kunze es bei ihrem Vorgesetzten erlebte.
Den perfekten Chef gibt es nicht – das wusste auch Frau Kunze. Aber ein Chef, der ständig »günstige Zeitpunkte brauchte, um vorsichtig etwas anzusprechen«, war nun wirklich nicht ernst zu nehmen. Letztlich hat Frau Kunze das Unternehmen enttäuscht verlassen, um woanders eine Vollzeitstelle anzunehmen. Schade – eine gute Mitarbeiterin, die eine Konsequenz aus der Feigheit ihres Vorgesetzten gezogen hat.
Führungskräfte geben klare Antworten
Als Führungskraft geht es keineswegs darum, den Mitarbeitern jeden Wunsch zu erfüllen. Das war sicherlich auch nicht die Erwartungshaltung von Frau Kunze. Auf jeden Fall wäre es wichtig und sinnvoll gewesen, ihr Anliegen ernst zu nehmen und an den nächsthöheren Vorgesetzten und /oder die Personalabteilung weiterzugeben. Somit hätte die Überlegung zu einer Vollzeitstelle auf breiterer Ebene stattfinden können – möglicherweise mit dem Ergebnis der Versetzung in eine andere Abteilung. Vielleicht wäre das Anliegen von Frau Kunze auch auf Ablehnung gestoßen. Wie auch immer ihre Frage nach einer Vollzeitstelle beantwortet worden wäre, sie hätte eine Antwort erhalten: ein klares Ja oder Nein oder die Angabe eines Termins, zu dem ihr eine Vollzeitstelle hätte angeboten werden können. Doch am Ende gab es lauter Widersprüche: Frau Kunze erfuhr von ihrer Kollegin, dass diese nun eine Vollzeitstelle besetzte. Und das, obwohl Frau Kunze doch gesagt worden war, momentan müssten Personalkosten reduziert werden. Ihr Wunsch käme daher zum falschen Zeitpunkt. Was stimmte denn nun? Schlimm,