Feierabend hab ich, wenn ich tot bin. Markus VäthЧитать онлайн книгу.
Dinge wie den mathematischen Dreisatz gar nicht mehr voraussetze. »Hauptsache, der Betreffende kann einigermaßen Deutsch und weiß, wie man die Hand gibt«, lautet sein resigniertes Fazit.
Ein Gymnasiallehrer (!) berichtete mir, seine Schüler würden Begriffe wie »addieren« und »subtrahieren« nicht mehr verstehen. Er sehe sich genötigt, auf die Behelfswörter »hinzunehmen« und »abziehen« auszuweichen.
Ein weiterer Gymnasiallehrer berichtete mir von der Beschwerde eines Schülers. Der Lehrer hatte ihm im Fach Deutsch ein Wort als falsch angestrichen. Doch dieses Wort, so der (deutschstämmige) Schüler, sei nicht »in den 1000 Wörtern Grundwortschatz enthalten«, die er wissen müsse. Und wir reden hier nicht von einer Brennpunkt-Hauptschule, sondern von einem ländlichen Gymnasium, wo angeblich »die Welt noch in Ordnung ist«.
Erfolg und (mediale) Aufmerksamkeit sind die neuen Währungen unserer Gesellschaft. Das bekommen junge Menschen heutzutage von Kindesbeinen an eingetrichtert. Und wieso sollten sie auch daran zweifeln? Ihre Eltern leben ihnen doch das entsprechende Weltbild vor.
Erfolg und (mediale) Aufmerksamkeit sind die neuen Währungen unserer Gesellschaft.
Sichtbarer beruflicher Erfolg ist so ziemlich das Einzige, wodurch wir uns noch unterscheiden. Familie? Fehlanzeige. Die Großfamilie ist tot, die Zahl der Singlehaushalte nimmt zu. 40 Prozent aller Paare, die zusammenleben, wollen nicht heiraten. Es könnte ja was Besseres nachkommen. Religiöse Identität? Gibt’s nicht mehr. Die Mehrheit der Menschen findet ihren Weg in die Kirchen gar nicht mehr beziehungsweise erst bei erneutem Ausbrechen einer Finanzkrise. Wenn’s dick kommt, kriecht man eben doch gern bei Mutti unter. Sozialer Kitt wie Vereine, Verbände oder Ähnliches? Alle diese freiwilligen Institutionen ächzen unter massivem Mitgliederschwund. Einzige Ausnahme sind Fitnessclubs, weil Menschen dort ihre Selbstoptimierung in einem anderen Bereich als dem der Arbeit ausleben und vorantreiben können.
Die jungen Leute merken das alles und richten sich entsprechend aus. Ein Bekannter von mir arbeitet mit Hauptschülern. Er versucht ihnen beizubringen, dass sie für ihren Lebens- und Berufsweg hart arbeiten müssen. Meist ohne Erfolg. Einer der Hauptschüler antwortete auf die Frage, was er denn werden wolle: »Geschäftsführer!« Und er wolle »einen Porsche fahren«. Wie er das denn bezahlen wolle? »Keine Ahnung. Werd’ ich halt Fußballspieler.« Und wenn das nicht klappt? »Scheißegal. Hartz ich eben.«
Immer öfter erleben all die Sozialarbeiter, Lehrer, Jugendbetreuer auf der einen Seite eine Realitätsblindheit bis zum Psychosenverdacht und andererseits eine Gier nach Status und Erfolg – die wir als Gesellschaft den Jugendlichen einpflanzen. Durch Werbung, Materialismus und eine »Du kannst alles schaffen«-Mentalität. Deshalb lassen sich junge Leute, die nicht mal im Ansatz singen können, von Dieter Bohlen in einer Weise demütigen, für die man in einem gestandenen Sadomaso-Studio eine Menge Geld hinlegen müsste. Sogar die so »Erfolgreichen« gehen vielleicht durch eine Saison, werden mit Knebelverträgen ausgepresst und dann gegen den nächsten Trottel ausgewechselt.
Wir sind kollektiv erfolgsgeil.
Diese Art von »Erfolg« ist fragwürdig genug. Doch als Schattenseite einer solchen Entwicklung ist man nicht nur für seinen Erfolg, sondern auch für seinen Misserfolg verantwortlich. Wo Klassen- und Standesbeschränkungen fehlen, wo man in einem weiten Feld und nicht mehr in einem begrenzten Parcours laufen muss, wo keine Kirche und kein soziales Netz mehr Schutz bieten, trifft einen die Wucht des eigenen beruflichen Versagens umso härter. Dieses Versagen muss nicht unbedingt Arbeitslosigkeit bedeuten. Man kann auch erfolglos und unglücklich sein, während man noch Arbeit hat. Gerade Burnout-Betroffene sind sehr gut darin, in ihrem Job Erfolgsziele so zu definieren, dass sie sie gerade nicht erreichen. So »motivieren« sie sich durch ihre Niederlage zu noch größerer Anstrengung.
Egal ob Burnout oder nicht, egal ob Unternehmensberater oder Bandarbeiter: Wir sind zum beruflichen Erfolg verdammt. Das System lässt keinen Spielraum mehr. Deshalb sind wir kollektiv erfolgsgeil. Wie eine Monstranz tragen wir unseren Erfolg vor uns her; er ist Zuckerbrot und Peitsche zugleich, gibt uns Motivation und droht uns gleichzeitig mit gesellschaftlicher und menschlicher Entwertung. Wir müssen gebraucht werden, die Gesellschaft muss unsere Arbeitskraft wollen, sonst zerschellt unser Schiff des Selbstvertrauens an der Klippe des eigenen Versagens.
Das ist auch der Grund, warum viele Langzeitarbeitslose nicht mehr vermittelbar sind. Bis auf wenige Ausnahmen, die sich einen Kern Selbstachtung bewahrt haben, ist besagtes Schiff zerschellt und unwiederbringlich gesunken. Der einzelne Arbeitslose hat in einer Zeit, die Arbeit als Lebensmittelpunkt begreift, seine Existenzberechtigung quasi an der Garderobe abgegeben. Nicht, dass ihm das jemand vorwerfen oder es so formulieren würde. Die Gesellschaft und deren kollektives Bewusstsein bringen ihn dazu, so zu denken. Eine für den Einzelnen dramatische, manipulatorische Meisterleistung.
Wir markieren unser Revier mit den Dingen, die uns die Werbeindustrie als erstrebenswert vorgaukelt.
Mit solchen Überlegungen beschäftigt sich der Arbeitnehmer, der gerade auf seiner Karrierewelle surft oder zumindest noch einen Job hat, nicht. Für ihn geht es vielmehr um die Sicherung des Erfolgs und seine Übersetzung in materielle Zeichen. Das Revier muss markiert werden, am besten mit den Dingen, die uns die Werbeindustrie als erstrebenswert vorgaukelt. Dafür gibt es zahlreiche Möglichkeiten: Autos, Reisen, Möbel, Kleidung, Uhren. Ein schöner Spruch lautet: »Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, mit Geld, das wir nicht haben, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen.« Neueste Zahlen des Zentralverbands der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) zeigen, dass 2009 allein im deutschen Fernsehen 3,7 Millionen Werbespots gesendet wurden.9 Das sind pro Tag knapp 10 137 und pro Stunde etwa 422. Die deutsche Werbebranche insgesamt machte 2009 einen Umsatz von fast 29 Milliarden Euro. Und diese Zahl beinhaltet bereits einen Rückgang des Umsatzes um 6 Prozent im Vergleich zum Jahr 2008.
Diese Werbung nennt Oliviero Toscani, der Macher hinter den umstrittenen Benetton-Werbekampagnen (in denen schon mal blutverschmierte Hemden mit Einschusslöchern gezeigt werden), schlicht »Verbrechen gegen die Intelligenz«, ein »künstliches und abgeschmacktes Reich, das uns seit bald dreißig Jahren verblödet«. In seinem furiosen Manifest gegen die herkömmliche Werbung rechnet Toscani ab: »Für Zehntausende von Dollar wird ein Supermodel in Szene gesetzt, um frischverliebten Friseusen ohne das nötige Kleingeld und schwärmerischen Sekretärinnen auf der ganzen Welt Parfums zu verkaufen. Sie alle werden heißgemacht auf einen unerreichbaren bürgerlichen Traum. Die Werbung verkauft keine Produkte oder Ideen, sondern ein verfälschtes und hypnotisierendes Glücksmodell. […] Man muss die breite Öffentlichkeit mit einem Lebensmodell blenden, dessen gesellschaftliches Ansehen es verlangt, dass man Garderobe, Möbel, Fernseher, Auto, Haushaltsgeräte, Kinderspielzeug, einfach sämtliche Gebrauchsgegenstände so oft wie möglich erneuert. […] Diese groben Vereinfachungen werden bis zum Erbrechen wiederholt.«10
Werbung soll zum Kaufen verführen. Produkte sollen mit Wohlgefühl assoziiert werden, mit Status, Exklusivität, sichtbarem Erfolg. Vielleicht glauben wir, dass ein solches Zeigen von Erfolg sexy ist. Was jedoch garantiert nicht sexy ist: den anderen mit der Nase auf die Spur des angeblichen eigenen Erfolgs stoßen zu wollen. Zur idealen Plattform für derart ichbezogene Inszenierungen haben sich soziale Netzwerke wie XING, Twitter oder Facebook entwickelt. Dort präsentieren sich manche »Jäger des verlorenen Erfolgs« mit einer Penetranz, als gäbe es kein Morgen.
Da faselt zum Beispiel eine Dame von der untergründigen Psychologie des Erfolgs – die sie natürlich exklusiv entdeckt hat – und vermarktet so ihr entsprechendes Buch. Sie lasse sich natürlich jederzeit zu einer Kontaktaufnahme herab, doch jetzt segle sie erst mal kreuz und quer durch Südostasien. Danach jedoch könne man sie gerne kontaktieren. Den Betrachtern ihres geblähten Segels will sie mit solch zartem Hinweis und der Subtilität eines Elefanten im Porzellanladen vor allem eines signalisieren: Schaut mal, wie schön, sexy und erfolgreich ich bin. Oder kürzer: Macht’s gut, ihr Luschen.
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