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Qualitätsunterschiede - Ralf Becker


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Bestimmtheiten der Wirklichkeit in rein quantitative aufzulösen«.29 Auch Simmel führt als Beispiel die Wärmemessung durch Thermometer an. Der paradigmatische Fall, an dem sich der »Übergang von dem qualitativ bestimmbaren zu dem quantitativ symbolischen Ausdruck«30 nachvollziehen lässt, ist jedoch das Geld. Die monetäre Symbolisierung der Wirklichkeit steht stellvertretend für eine immer umfassendere Rationalisierung des Lebens durch Zählen, Messen und Berechnen. Messen ist Wissen lautet die Parole dieses Denk- und Lebensstils. Das Geld repräsentiert das »messende, wägende, rechnerisch exakte Wesen der Neuzeit«.31 Die Geldwirtschaft »bewirkt von sich aus die Notwendigkeit fortwährender mathematischer Operationen im täglichen Verkehr. Das Leben vieler Menschen wird von solchem Bestimmen, Abwägen, Rechnen, Reduzieren qualitativer Werte auf quantitative ausgefüllt«.32 Aus der Analyse des Geldwesens gewinnt Simmel sein »Stilbild der Gegenwart«: »Die geistigen Funktionen, mit deren Hilfe sich die Neuzeit der Welt gegenüber abfindet und ihre inneren – individuellen und sozialen – Beziehungen regelt, kann man großenteils als rechnende bezeichnen. Ihr Erkenntnisideal ist, die Welt als ein großes Rechenexempel zu begreifen, die Vorgänge und qualitativen Bestimmtheiten der Dinge in einem System von Zahlen aufzufangen«.33

      Von diesem Intellektualismus zeugt auch und gerade die »rechnerisch-exakte Naturdeutung«:34 Die moderne Naturwissenschaft begreift »die Erscheinungen nicht mehr durch und als besondere Substanzen, sondern als Bewegungen […], deren Träger gleichsam weiter und weiter ins Eigenschaftslose abrücken«, und löst schrittweise die Weltinhalte »in Bewegungen und Relationen« auf.35 Was sich wie eine Vorwegnahme der fünf Jahre später publizierten Einsteinschen Relativitätstheorie (bzw. von Ernst Cassirers zehn Jahre später erschienenem Werk Substanzbegriff und Funktionsbegriff) liest, lässt sich ebenso an der Definition physikalischer Größen nach dem Internationalen Einheiten-System (SI-Einheiten) unter Verwendung von Naturkonstanten belegen. So ist beispielsweise das Kilogramm als Einheit für Masse (m) durch die Plancksche Konstante mit Hilfe der Definitionen von Meter und Sekunde festgelegt. Das physikalische Maßsystem bestimmt Maßeinheiten nicht mittels Substanzen (man denke z. B. an das Pariser Urmeter), sondern durch Beziehung zu anderen Maßeinheiten. Es ist kein Zufall, dass die Bedeutungsdimension von physis als das Wesen einer Sache aus dem modernen Naturverständnis völlig herausgefallen ist. Was als natürlich gelten kann, gibt sich nicht mehr substantiell, sondern wird allein in Relation zu messenden und rechnenden Erkenntnishandlungen bestimmt. Natürlichkeit ist ein Widerstandskoeffizient, der über die rein logische Widerspruchsfreiheit hinaus den Verknüpfungsspielraum von Messgrößen begrenzt.

      Die folgenden Untersuchungen beleuchten das Erkenntnisideal der ›Welt als einem großen Rechenexempel‹ von der ›rechnerischexakten Naturdeutung‹ her. Damit bewegen sie sich nicht außerhalb der zuvor skizzierten mehr oder weniger gesellschaftskritischen Gegenwartsdiagnosen. Vielmehr gründen die in diesem Buch versammelten Studien in der Hypothese, dass sich in gesellschaftlichen Verhältnissen ein Naturverhältnis des Menschen artikuliert. Diese systematische Voraussetzung ist freilich nicht neu – leitet sie doch bereits die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno (1944). Die beiden Autoren rekonstruieren bekanntlich die europäische Geschichte als eine Geschichte der Naturbeherrschung. Wir haben es daher nicht mit einer Alternative zu tun: entweder Gesellschaft oder Natur, sondern beide Dimensionen sind auf intrikate Weise ineinander verschlungen, die sowohl dem Kulturrelativismus als auch dem Naturalismus Hohn sprechen. Weder ist Natur bloß ein gesellschaftliches Konstrukt noch Gesellschaft ein Naturereignis. Vielmehr sind sie Aspekte der einen Welt des Menschen, die sowohl gesellschaftlich als auch natürlich verfasst ist. Mit Ernst Wolfgang Orth soll diese Welt des Menschen als Kultur bestimmt werden.36 Es mag auf den ersten Blick irritieren, Natur als Aspekt oder Dimension von Kultur aufzufassen. In einem wohlverstandenen Sinne bekenne ich mich durchaus zu einem moderaten Kulturalismus (siehe Kap. 1).

      Gegenwartsarchäologie

      Simmels Formulierung des neuzeitlichen Erkenntnisideals, das nicht zuletzt in der Geldwirtschaft eine materielle Grundlage hat, führt von der Diagnostik der Gegenwart auf ihre Archäologie zurück. Die Idee, »alle qualitativen Bestimmtheiten der Wirklichkeit in rein quantitative aufzulösen«, ist charakteristisch für die europäische Neuzeit und Moderne. Weder in der Antike noch im Mittelalter war dies die beherrschende wissenschaftliche Weltansicht. Mit Blick auf das Naturverhältnis tauchen in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung immer wieder zwei prominente Namen auf: Leonardo da Vinci (1452–1519) und Galileo Galilei (1564–1642). Diese beiden stehen emblematisch für einen Epochenbruch in der Naturforschung, der sich am Anfang der Neuzeit im 16. und 17. Jahrhundert vollzogen hat.

      Paul Valéry erkennt in Leonardo den Vorläufer einer Wissenschaft, deren Wesen darin besteht, »das Wissen vom Können abhängen zu lassen«. Die moderne Wissenschaft definiert Valéry als »die Gesamtheit der Rezepte und Verfahren […], die immer gelingen […]: alles andere ist Literatur«. »Ihr Vertrauen beruht einzig und allein auf der Gewißheit, ein bestimmtes Phänomen mittels bestimmter wohldefinierter Handlungsschritte reproduzieren oder wiedersehen zu können.« Das Herstellen übernimmt die »Bürgschaft« für das Wissen. »Wir wissen, was wir können. Alles übrige ist nur Austausch von Worten.«37 Die Philosophie, »zuständig für Qualitäten«, mit dem Wort als »Mittel und Zweck«, wandert somit von der Seite der Wissenschaft auf die der Literatur.38 Leonardo verstand unter »echtem Wissen nur etwas, dem irgendein Handlungsvermögen entsprach. Schöpferisches Tätigsein, Konstruieren waren für ihn untrennbar von Erkennen und Verstehen.« Mit diesem Denken »schlug er einen Weg ein, auf dem unser Geist sich heute bewegt«.39 Die »Arbeit des Geistes« hat »nicht mehr eine letzte Schau zum Ziel«;40 der aktive Geist löst den kontemplativen ab, und eine seiner wesentlichen Aktivitäten ist das Experiment. Im Experiment wird das Naturphänomen mittels Apparaten hergestellt. Die Technik ist das neue Prinzip der Naturerkenntnis. Für diesen Primat des Könnens steht in Valérys Rekonstruktion der modernen Episteme Leonardo Pate: »Das Trachten nach dem Automaten, nach Erkenntnis durch Konstruktion behauptete in seinem Denken die oberste Stelle.«41

      Das von Vico zugunsten der erst später sogenannten Geisteswissenschaften ins Feld geführte Axiom von der Austauschbarkeit des Wahren und des Gemachten trifft nach Valéry ebenso gut, wenn nicht noch besser auf die experimentierenden Naturwissenschaften zu: »Ich verstehe nur, was ich zu machen verstehe42 Aber auch die Theoretische Physik ist keine kontemplative Schau der Natur – erlauben die von ihr verwendeten mathematischen Gleichungen es doch, einen Naturvorgang durch Berechnung in Gedanken herzustellen. Das Experiment entscheidet dann über die Belastbarkeit der Formel in der äußeren Natur. Die Wissenschaft im Geiste Leonardos ist eine Wissenschaft von Handlungen.43 »›Ich kann‹, ›Wir können‹ – ist wesentlich für die Naturwissenschaften, insbesondere für die Mathematik.«44 Messen und Berechnen, Quantifizieren und Digitalisieren sind diejenigen Handlungen, die das Naturverhältnis der modernen Wissenschaften prägen. Valéry pointiert das Originelle dieser neuartigen Weltbeziehung in dem Satz: »Einzig Vermögen und Voraussicht sind also das wahre, solide Objekt der Wissenschaft und nicht die Erkenntnis, die Anschauung der Welt.«45 Es ist nicht nur der Finger (digitus), es ist die ganze Hand (manus), die zum Begreifen nötig ist. Wissenschaftliche Erkenntnis erhält somit manipulativen Charakter.

      Dieses technische Naturverhältnis, das die Neuzeit prägt, ist in der Lesart Hans Blumenbergs eine Reaktion auf den Nominalismus, der für das ausgehende Mittelalter charakteristisch ist. »So sind die Begriffe nur ›nomina‹, nicht ›conceptus‹, und ›richtig‹ und ›falsch‹ drücken nur die ökonomische Funktion des innerweltlichen Sich-Einrichtens und Sich-Zurechtfindens aus. Damit aber hat unser Erkenntnisvermögen von vornherein einen Charakter erhalten, den man getrost als ›technischen‹ ansprechen kann: es ist nicht vernehmend hingegeben an das Seiende, das ihm doch verschlossen ist, sondern es ist originär schöpferisch, eine ganz und gar menschliche, nur auf die menschliche Weltaufgabe hingeordnete Einheit von Begriffen und Gesetzen produzierend.« Auch für


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