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Qualitätsunterschiede - Ralf Becker


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an der Poiesis Ausdruck einer Entfremdungserfahrung. Während das Wesen der Dinge der theoretischen Erkenntnis unerreichbar bleibt, werden sie zum Material der praktischen Verfügbarkeit.

      Nicht Nominalismus, sondern gerade einen Platonismus sieht Ernst Cassirer bei Galilei am Werk, der die Platonische Unterscheidung einer Welt des Seins von einer Welt des Werdens durch Mathematik überwindet. Fortan erfassen Maß und Zahl nicht mehr nur das Unveränderliche, sondern auch den Bereich des Veränderlichen.47 Zugleich fällt die Aufteilung des Kosmos in eine sublunare, terrestrische und eine supralunare, himmlische Sphäre – das Universum lässt sich durch eine Mechanik beschreiben und deren Sprache ist die Mathematik. Außerdem verschwimmt die von Platon gezogene Grenze zwischen reiner und angewandter Mathematik.48 Es ist also gerade diese neoplatonische Mathematisierung der Natur, durch die sich nach Cassirer die Neuzeit vom Mittelalter unterscheidet.49 Die Mathematik war zwar schon lange vor der Renaissance ein Element der Kultur, aber erst durch Denker wie Leonardo oder Galilei wurde sie zu einer »neuen kulturellen Macht«. Mathematik ist fortan nicht bloß ein Feld, sondern das einzig gültige Kriterium des Wissens.50

      Für die neuzeitlich-moderne, »wissenschaftsgestützte technische« Kultur hat Jürgen Mittelstraß den Ausdruck Leonardo-Welt vorgeschlagen, die als solche »Produkt« und »Werk des Menschen« ist.51 Das Neuartige dieser mit der Renaissance anhebenden neuzeitlichen Welt sieht Mittelstraß wie Valéry in der »methodische[n] Verbindung von technischem Können und theoretischer Vernunft«.52 Charakteristisch für die Leonardo-Welt, in der wir nun seit 500 Jahren leben, ist die gegenüber Antike und Mittelalter neue Form instrumenteller, hergestellter Erfahrung auf der Grundlage technischer Konstruktionen. Mittelstraß unterscheidet zugespitzt zwischen dem Aristotelischen und dem Galileischen Erfahrungsbegriff: »Kennzeichnend für den Aristotelischen Erfahrungsbegriff ist […], dass er in Form einer noch vor-theoretischen Praxis […] sowohl Basis als auch Begründungsmittel einer theoretischen Praxis, der Praxis empirischer Wissenschaften ist.«53 Die Begriffe und Lehrsätze der Physik des Aristoteles werden aus der Alltagssprache gebildet, und die alltägliche Lebenspraxis ist es auch, die sie bestätigen soll.

      In der neuzeitlichen Naturwissenschaft tritt mit der systematischen Einführung des Experiments an die Stelle »der vor-theoretischen Lebenspraxis […] die technische Praxis« des Herstellens von Experimentalanordnungen, Messgeräten und letztlich auch von Erfahrung selbst. Der Galileische Erfahrungsbegriff ist im Gegensatz zum Aristotelischen »an die Bedingungen einer messenden Physik gebunden; als empirisches Wissen tritt nicht mehr auf, was sich als ein vor-theoretisches Wissen theoretisch fassen läßt, sondern was mit den Instrumentarien einer physikalischen bzw. technischen Praxis […] gewonnen wurde«.54 Angesichts dieses veränderten Verständnisses von Empirie verlieren die empirischen Wissenschaften methodologisch das »Interesse an einer vor-theoretischen Erfahrungsbasis«. Der vortheoretische Erfahrungsbegriff »gilt nunmehr als ›unwissenschaftliches‹ Pendant zur wissenschaftlichen, d. h. auf eine Theorie des Messens gegründeten Empirie«.55 Im Gegenzug wird jene Erfahrung als ›bloß subjektiv‹ abqualifiziert.

      Mittelstraß versucht, den vor-messtheoretischen Aristotelischen Erfahrungsbegriff methodologisch zu rehabilitieren, und übernimmt das für diesen Zweck von Friedrich Kambartel eingeführte Konzept des »lebensweltlichen Apriori«, das seinerseits auf Edmund Husserl zurückgeht. Der Galileische Erfahrungsbegriff soll durch den Aristotelischen nicht substituiert, sondern vielmehr supplementiert werden. Das Ziel ist die »Ergänzung« der ›Galileischen‹ theoretischen Praxis »um ihre vor-theoretischen […] Voraussetzungen«.56 Zu diesen vortheoretischen Voraussetzungen zählt Mittelstraß einerseits die »sprachliche Unterscheidungs- und Orientierungspraxis«, die auch eine Argumentationspraxis einschließt, und andererseits die »technische Praxis«, die ein elementares Herstellungswissen implementiert.57 Beides lässt sich, wie wir noch sehen werden, sehr gut an Husserls Rekonstruktion der Geometrie aus der Feldmesspraxis nachvollziehen. Genauso geeignet ist aber wiederum die Messbarmachung von Wärme als Temperatur. Die Erfindung des Thermometers setzt nicht nur ein Unterscheidungswissen über die Differenz zwischen warm und kalt voraus, sondern auch ein Herstellungswissen für die Produktion von Glasröhren usw. Naturwissenschaftliche Theorie ist undenkbar ohne verlässliche Messtechnik, und Messtechnik ist undenkbar ohne die kundige Herstellung von Messgeräten. Zielgerichtetes und interessegeleitetes Herstellungshandeln mit der ihm eigenen Normativität von Gelingen und Scheitern ist jedoch kein Naturvorgang, sondern eine menschliche Praxis.

      Allerdings ist festzuhalten, dass der von Mittelstraß beschriebene »Galileische Erfahrungsbegriff« beim Übergang von der Neuzeit in die Moderne eine doppelte Transformation durchlaufen hat: Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Abkopplung des Messens vom Erleben (z. B. Wellenschreiber, sog. Kymographen) und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch den Einsatz von Computersimulationen. Das vielleicht elaborierteste Beispiel für die Abkopplung des Messprozesses von jeglicher Anschauung ist heutzutage ein Teilchenbeschleuniger, der zwar ein Messgerät ist, jedoch keinerlei sinnliche Beobachtung ermöglicht. Die Forscher lesen vielmehr abstrakte Zeichen auf Computermonitoren ab. Gerade die Physik – zu denken wäre etwa an den Nachweis von Gravitationswellen durch Laserinterferometer – macht deutlich, in welch hohem Maße die moderne naturwissenschaftliche Empirie von der Ingenieurskunst abhängig geworden ist. Wer über die moderne Naturwissenschaft spricht, darf über Ingenieurswissenschaft nicht schweigen. Man könnte diesen Transformationsprozess auch als ein zunehmendes Blackboxing (Bruno Latour) der technischen Mittel beschreiben, die in empirischen Wissenschaften zum Einsatz kommen. In gewisser Hinsicht wandert die Erfahrung selbst in die Black Box der Mess- bzw. Simulationsapparatur. Die wissenschaftsgeschichtliche Fortentwicklung des »Galileischen Erfahrungsbegriffs« lässt damit fragwürdig erscheinen, wieweit in der Moderne überhaupt noch sinnvoll von Empirie als Erfahrung gesprochen werden kann.58

      Lebensweltapriori

      Die Erinnerung an das »lebensweltliche Apriori« ist zugleich eine Erinnerung an Husserl. Dessen Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936) ist für die folgenden Untersuchungen ein wiederkehrender Bezugspunkt. In § 36 findet sich jene Bemerkung, an die Kambartel und Mittelstraß anknüpfen: Demnach ist »alles objektive Apriori« der Wissenschaften »auf ein entsprechendes lebensweltliches Apriori« notwendig zurückbezogen.59 Sämtliche in den Wissenschaften erhobenen Geltungsansprüche lassen sich letztlich nur aufgrund ihrer epistemischen Verankerung in der Lebenswelt einlösen. Die Lebenswelt definiert Husserl kurz zuvor als »die raumzeitliche Welt der Dinge, so wie wir sie in unserem vor- und außerwissenschaftlichen Leben erfahren und über die erfahrenen hinaus als erfahrbar wissen. Wir haben einen Welthorizont als Horizont möglicher Dingerfahrung.«60 Würde es Husserl bei dieser Definition belassen, wäre der Schulterschluss zwischen Konstanz und Freiburg perfekt. Schon Rüdiger Welter hat jedoch ausführlich auf die grundlegenden Differenzen zwischen den Lebensweltkonzepten des Phänomenologen und der Konstruktiven Wissenschaftstheorie hingewiesen.61 Sie müssen deshalb nicht noch einmal hervorgehoben werden. Husserls Theorie der Lebenswelt ist von ihren bewusstseinsphilosophischen Grundlagen bis zu ihren ontologischen Ambitionen ein derart anders angelegtes Projekt, dass sich die anfänglich bemerkte Nähe auf den zweiten Blick mehr als eine von Schlagworten als von Begriffen herausstellt.

      Freilich stehen philosophische Begriffe nicht unter Patentschutz, und Husserl hält nicht die Rechte an dem der Lebenswelt. Ein Aspekt, der zu den zahllosen Anschlussunternehmungen beigetragen hat, liegt gerade in der Unschärfe des Husserlschen Lebensweltbegriffs, dessen Bestimmung als »Welthorizont« zudem den Charakter einer absoluten Metapher im Sinne Blumenbergs hat. Prägnanz gewinnt er am ehesten durch die Angabe dessen, was Lebenswelt nicht ist. Sie fällt zum einen nicht mit dem zusammen, was Husserl (historische) Umwelt nennt und was wir heute am ehesten als Kultur im Plural bezeichnen würden.62 Zum anderen ist sie die Welt der Dinge, so wie wir sie in unserem vor- und außerwissenschaftlichen Leben erfahren. Damit markiert das universale Lebensweltapriori methodologisch eine Grenze zum Kulturrelativismus wie zum Positivismus.


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