Atlan 465: Eine Handvoll Freiheit. Detlev G. WinterЧитать онлайн книгу.
Eintönigkeit des neuen Lebensrhythmus störte ihn nicht. Es machte ihm auch nichts aus, dass er der einzige Vertreter seiner Art an Bord war, dass es keinen weiblichen Noot gab, mit dem er sich hätte beschäftigen können. Für die Fortpflanzung mochten andere sorgen; er fühlte sich zu Höherem berufen. Er war auserwählt. Er ahnte, dass er einer großen Sache dienen würde, dass eine Bestimmung auf ihn wartete.
Was er nicht unterdrücken konnte, war seine Neugier. Die ZIEMEN war das Schiff eines Koordinators der Ewigkeit, sie war groß und geräumig, und fast überall durfte er sich frei bewegen. Nur der Bezirk, in dem sich der Koordinator selbst aufhielt, war für die übrigen Passagiere tabu. Niemand hatte den Kommandanten jemals zu Gesicht bekommen, niemand wusste, wer er war oder wie er aussah. Schon oft hatten Faderkyhl und seine Freunde darüber hitzige Gespräche geführt, aber niemand schien ernsthaft daran interessiert, das Geheimnis wirklich zu ergründen.
Nur ihn trieb es immer wieder in die Nähe des Kommandobereichs. Meistens kehrte er frühzeitig um, weil ihm das, was er wissen wollte, plötzlich nicht mehr wichtig erschien.
Diesmal jedoch hatte er sich zu weit vorgewagt.
Schon früher war ihm aufgefallen, dass er immer, wenn er einen neuen Vorstoß unternahm, einige Meter weiter vorankam als beim letzten Versuch, bevor ihn der Drang nach Umkehr überwältigte. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, hatte sich höchstens gesagt, dass sein Wissensdurst wohl doch geringer sei, als er sich selbst manchmal einbildete.
Heute erfuhr er, dass es andere Gründe hatte.
Der Korridor, den er entlangging, war unbelebt. Zu beiden Seiten waren Türen in die Wände eingelassen, hinter denen sich Ausrüstungsdepots und Lagerräume für technische Gerätschaften befanden. Faderkyhl interessierte sich nicht dafür. Er achtete nur auf die Leuchtplatten an der Decke, die eine angenehme Helligkeit verbreiteten und deren Anzahl dem Noot Maßstab dafür war, wie weit er diesmal in das Sperrgebiet vordrang. Weiter vorn erkannte er eine Kreuzung, und dahinter verschloss ein Schott den weiteren Weg.
Faderkyhls Spannung wuchs, vermischt mit einem deutlichen Gefühl des Unbehagens. Es sah so aus, als sollte es ihm heute gelingen, sein Ziel zu erreichen. Hinter dieser Wand würde er dem Koordinator der Ewigkeit, dem Befehlshaber über die ZIEMEN, gegenüberstehen. Unwillkürlich beschleunigte er seinen Schritt.
Doch plötzlich hielt er wie vom Blitz gerührt inne. Alle Fröhlichkeit und Zuversicht fielen von ihm ab. Drohende Dunkelheit drängte sich in seine Gedanken. Als hätte er eine unsichtbare Mauer durchdrungen, änderte sich die Perspektive seines Blickfelds. Er sah nur noch Schwärze. Er hatte Angst. Etwas überschwemmte seinen Geist mit elementarer Wucht.
Dies war nicht mehr die sich freundlich durchsetzende Einsicht, dass er gut daran täte umzukehren. Dies war eine massive Drohung, Ahnung schrecklicher Strafe. Er hatte eine Grenze passiert, deren Überschreiten ihm nicht gestattet wurde. Hier erwartete ihn nicht das angenehme, fröhliche Leben, nicht das Gespräch mit dem Kommandanten dieses Schiffes. Hier erwartete ihn der Tod.
Keinen Schritt weiter würde er gehen. Als wollte er um Vergebung flehen, breitete er hilflos die Arme aus. Das Rauchhorn pulsierte schmerzhaft. Die Schuppen auf seiner Haut verloren ihre blaue Farbe und wurden blass. Die Leere in seinem Hirn nahm zu. Wenn er noch lange hier stehen blieb, würde er den Verstand verlieren.
Er taumelte zurück.
Irgendwo waren Helligkeit, Sicherheit und Leben. Schmale Leuchtplatten schoben sich unter die Decke eines Korridors. Geschlossene Türen entstanden in massiven Wänden. Die Schwärze in seinen Sinnen schwand, als hätte jemand einen Vorhang zurückgezogen. Die Todesangst versiegte.
Zitternd blieb Faderkyhl stehen.
Nichts an der Umgebung hatte sich verändert. Friedlich und ruhig lag der Gang vor ihm, der in jene Bereiche führte, in denen er sich aufhalten durfte. Alles war wie sonst.
Vielleicht war er selbst in diesen schrecklichen Sekunden ein anderer geworden. Allmählich kehrte seine gewohnte Fröhlichkeit zurück. Er fühlte sich wohl, wie von einem inneren Zwang befreit. Das Bedürfnis, dem Koordinator der Ewigkeit gegenüberzustehen, war völlig erloschen.
Er war ausersehen, einer übergeordneten Bestimmung zugeführt zu werden. Damit konnte er zufrieden sein – und jetzt, nachdem er das Grauen erahnt hatte, war er es auch.
Er befand sich auf einem Sternenschiff.
Der Steuermann war ein Koordinator der Ewigkeit.
Der Koordinator war Tolfex.
Mehr Wissens bedurfte es nicht, um glücklich zu sein.
*
Der Scuddamore wich einen Schritt zurück. Die Eröffnung, mit einem Koordinator der Ewigkeit zu sprechen, musste ein Schock für ihn sein. Wahrscheinlich wurde er sich erst jetzt bewusst, dass er kein Bild von seinem Dialogpartner übermittelt bekam.
»Warum willst du uns bei unserem Kampf gegen die Aufständischen nicht unterstützen?«, fragte er, nachdem er sich wieder in der Gewalt hatte. »Du bist ein mächtiger Mann. Du könntest die Revolte niederschlagen. Auf dich würden sie hören.«
»Du versprichst dir zu viel von meiner Anwesenheit«, widersprach Tolfex kühl. »Ich habe einen klar umrissenen Auftrag des Dunklen Oheims auszuführen und kann mich nicht um Nebensächlichkeiten kümmern. Außerdem brauche ich mein Schiff für andere Zwecke, als euch von Breisterkähl-Fehr zu evakuieren. Euer Platz ist in den Forts.«
»Wir werden unsere Stellungen nicht mehr lange halten können«, prophezeite der Scuddamore. »Die Loyalen brauchen Unterstützung von außen.«
»Ihr werdet so lange durchhalten, bis ein neuer Neffe dieses Revier beherrscht«, verlangte Tolfex.
»Wann wird das sein?«
»Bald.«
Bevor der andere ihn weiter drängen konnte, unterbrach Tolfex die Verbindung. Er ertrug es nicht länger, den Scuddamoren jammern und betteln zu hören. Es widersprach allen Erfahrungen, die er bisher mit Vertretern dieser Kampftruppe gemacht hatte. Aber es zeigte ihm auch, dass seit dem Verschwinden des Neffen nichts mehr im Marantroner-Revier seinen gewohnten Gang nahm. Die Verhältnisse waren so verwirrend und unübersichtlich, dass nicht einmal mehr die Scuddamoren damit zurecht kamen. Die Ordnung war zerstört.
Es wurde Zeit, dass er seinen Auftrag erfüllte.
Dabei war er sich darüber im Klaren, dass noch etliche Schwierigkeiten auf ihn warten würden. Von jedem Volk, das im Marantroner-Revier beheimatet war, sollte er ein ausgewachsenes und gesundes Exemplar an Bord nehmen und seiner Bestimmung zuführen. Das war nicht leicht. Wie in allen anderen Revieren, waren auch hier Angehörige vieler Arten zwangsweise auf andere Planeten umgesiedelt worden. Im Lauf der Jahre hatten sie sich der jeweiligen Umgebung angepasst, waren zum Teil mutiert oder entartet und ließen von ihrer ursprünglichen Form oft kaum noch etwas erkennen. Dass der Dunkle Oheim nur an Vertretern der Stammvölker interessiert war, machte es für Tolfex doppelt schwer.
Von den Speichern der Kartei Gär hatte er sich Unterstützung erhofft. Aber die Datenbank war vernichtet. Die Informationen, die er hatte abrufen wollen, existierten nicht mehr.
Er würde sich etwas anderes einfallen lassen müssen, wenn er nicht eine endlose Suche riskieren wollte. Die Zeit drängte. Je länger das Marantroner-Revier verwaist blieb, desto größer wurde die Gefahr, dass sich die Verhältnisse überhaupt nicht mehr kontrollieren ließen.
»Der Noot ist wieder unterwegs«, meldete ein Überwachungselement mit modulationsloser Stimme. »Er nähert sich der Sperrzone.«
Tolfex schreckte auf. Beunruhigt richtete er den Blick auf einen Bildschirm, auf dem er den Weg des Echsenwesens verfolgen konnte. Schon mehrmals hatte der Noot versucht, zu ihm vorzudringen, und es hatte den Anschein, dass er sich von der dumpfen Ausstrahlung des Koordinators jedes Mal weniger beeindrucken ließ. Zielstrebig schritt er auf das Eingangsschott zu.
Im Grunde war es ein alarmierender Vorgang. Tolfex hatte dafür gesorgt, dass sich alle Passagiere seines