Fettnäpfchenführer Brasilien. Nina BüttnerЧитать онлайн книгу.
sagt ein paar einführende Worte auf Portugiesisch, die Linda nicht versteht. Die Gruppe wird stiller und schließlich lässt Marcelo sie mit den Schülern allein. Herrje, was jetzt? Erst mal ein paar Fragen stellen, denkt sich Linda.
»Bitte erzählen Sie von sich. Wie heißen Sie, was ist Ihr Beruf und warum lernen Sie Deutsch? Senhor ... äh ... Diego, wollen Sie anfangen?«
»Menina, ainda não sou senhor, graças a Deus« – Mädchen, noch bin ich Gott sei Dank kein Herr, empört sich Diegão. Die Gruppe lacht. Und Linda weiß nicht, was zum Teufel er damit meint. Sie kann doch einen gut und gerne zwanzig Jahre älteren Herrn nicht duzen!
»Also, ich heiße Diego. Die Leute sagen Diegão zu mir, weil ...«, er deutet auf seinen imposanten Bauch, der sein Hemd zur Tischkante hinwölbt, und allgemeines Gelächter bricht los. »Ich mache Architektur. Habe Frau und drei Kinder, sehr hübsch. Ich komme aus Paraná. Mein Opa ist auch deutsch. Deutsch ist schwierig, ich mag das. Nicht wie Englisch, amerikanisch. Ist eine interessante Sprache.«
Als Nächstes ist Ana Paula an der Reihe: »Ich heiße Ana Paula, habe fünfunddreißig Jahre. Bin verheiratet und wohne in Ipanema. Arbeite in Automobilindustrie, mag deutsche Autos. Gehe in viele Länder. Oft nach Deutschland, deswegen will lernen Deutsch.«
Alle schweigen in großer Achtung. Einer der italienischen Brüder macht weiter: »Ich heiße Manoel, habe vierzig Jahre. Ich bin verheiratet. Mein Beruf ist Ingenieur. Alle Maschinen kommen aus Deutschland. Viel Physik und Ingenieure in Deutschland.«
»Wollen Maschinen in Deutschland kaufen, nicht erst Import. Ah, ich heiße Edoardo. Komme aus Barra da Tijuca«, stellt sich auch der zweite Bruder vor.
Nun wirft Terezona ihre Haare nach hinten und beginnt: »Hallo, ich heiße Tereza. Ich komme aus kleine Stadt in Ceará. Ich arbeite viel mit Touristen. Viele Deutsche. Es gibt sehr schöne Männer in Deutschland.«
Darauf scheinen alle nur gewartet zu haben, plappern los, und João muss abwarten, bis die letzten Neckereien im Raum verhallen: »Ich heiße João. Studiere Philosophie an die UF. Habe zweiundzwanzig Jahre. Ich will lesen auf Deutsch Hegel, Kant und Nietzsche. Deutsch ist Sprache von Philosophie.«
»Guten Tag, heiße Gertrude. Habe siebenundvierzig Jahre und zwei Töchter. Meine Familie ist deutsch, in meiner Stadt die Alten sprechen Deutsch. Wir wollen die Tradition nicht vergessen.«
»Ich heiße Carolina. Habe vierzehn Jahre. Ich mache Kurs mit meiner Mutter und Schwester.«
»Ich heiße Renata, habe sechzehn Jahre. Ich will unsere Kultur verstehen und reisen nach Deutschland.«
»Danke!« Linda ist ganz beeindruckt von so vielen guten Gründen, Deutsch zu lernen.
»Jetzt du, Lehrerin«, fordert Diegão sie auf. »Warum du bist nach Brasilien gekommen?«
»Also gut. Ich heiße Linda Krätschmann, bin fünfundzwanzig Jahre alt, studiere Deutsch auf Lehramt. Ich mag deutsche Literatur. Nach Brasilien bin ich gekommen, weil ich das Klima mag, Strand und Meer und Fußball.«
»Du magst Fußball?«, fragt Mano.
»Was magst du an deutscher Literatur?«, unterbricht ihn João.
»Hm, Heinrich von Kleist, Franz Kafka, Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann ...« sammelt Linda ihre Lieblinge zusammen, zumindest die, die sich in der Öffentlichkeit sehen lassen können.
»Kennst du brasilianische Literatur?«, erkundigt sich Diegão. Da kommt Linda etwas ins Schwitzen.
»Paulo Coelho nur ...« Die Gruppe lacht wieder.
»O Brasil ficou famoso pelos corpos, não pelas mentes« – Brasilien ist für seine Körper berühmt, nicht für den Verstand, resümiert Ana Paula.
Langsam entwickelt sich eine Diskussion in Kleingruppen, die Schüler fallen sich gegenseitig ins Wort und vor allem ins Portugiesische. Linda steht etwas hilflos da und schaut zu. Als sich das Gespräch von alleine nicht legt, schlägt sie mit ihrem Stift leicht auf den Tisch und sagt laut und bestimmt: »So, Leute, es geht weiter. Schlagt mal eure Bücher auf Seite dreiunddreißig auf.«
Augenblicklich kehrt Stille ein, alle Augen richten sich fasziniert auf Linda. Diegão macht den Schlag auf den Tisch mit dem Stift nach und unterstützt: »É assim que se faz« – Richtig so, »Lehrerin Linda!«.
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Kein leichter erster Arbeitstag für Linda – so viele Begrüßungen und neue Menschen auf einmal. Dabei hat es Linda zunächst etwas irritiert, dass sich alle nur mit Vornamen vorgestellt haben. Da fühlt es sich so an, als wäre es gleich ein Freundschaftsverhältnis, in dem sie stehen, und kein professionelles. Dabei kennt man sich ja noch gar nicht.
Und Linda hat auch bemerkt, dass viele ihr mit Spitznamen vorgestellt wurden, zum Beispiel Diegão. Er heißt eigentlich Diego, nur wie soll Linda ihn anreden? Sie will ihn siezen, da ihr das respektvoller erscheint. Also nennt sie ihn senhor Diego, was wiederum für ihre Schüler ein gelungener Scherz zu sein scheint. Aber sie kann ihn doch nicht Diegão nennen – dann würde sie ihn ja daran erinnern, dass er zu dick ist, oder?
Überhaupt ist sich Linda unsicher, wie sie damit umgehen soll, dass die Gruppe einerseits alles toll und schön findet und ihr Komplimente macht, andererseits jedoch ständig Witze reißt – woher soll sie wissen, dass die nicht auf ihre Kosten sind?
Als Linda gegen den Lärm mit dem Stift auf den Tisch haut, erreicht sie zwar ihr Ziel, aber so ganz üblich scheint das nicht zu sein, wie sie an der verwunderten Reaktion ihrer Schüler abliest. Eine so energische Geste sind sie von einheimischen Lehrern nicht gewohnt. Und auch ihre Art sich vorzustellen war ungewöhnlich trocken und wortkarg.
HÖFLICHE ANREDE
Die höfliche Anrede wird in Brasilien vor allem für Autoritäten verwendet, und es können damit Hierarchieunterschiede oder Respekt ausgedrückt werden. So werden im Allgemeinen Polizisten und höhere Staatsbedienstete sowie ältere Menschen gesiezt.
Je nach den Erfordernissen einer Situation – also beispielsweise welcher Grad an Unterwerfung gerade verlangt wird – kann aber auch von einem auf den nächsten Satz zwischen formeller und informeller Anrede (tratamento formal /informal) gewechselt werden. So können sogar die eigenen Eltern gesiezt werden. Ein beständiges gegenseitiges Siezen beider Gesprächspartner ist eher unüblich und wird am ehesten im formellen Umfeld, beispielsweise auf dem Amt gebraucht.
»Pai, o senhor pode me emprestar seu carro?« – Vater, können Sie mir Ihr Auto leihen?
»Com licença, a senhora pode me explicar o caminho à escola de línguas?« – Entschuldigung, können Sie mir den Weg zur Sprachschule erklären?
Sie sprechen Ihr Gegenüber also formell mit o senhor/a senhora in der dritten Person an. In aller Regel wird aber auch beim Siezen der Vorname benutzt, vor den bei älteren Menschen die Anrede dona/seu gestellt wird:
»Seu Pedro, o senhor está bem de saúde?« – Herr Pedro, sind Sie bei guter Gesundheit?
Unabhängig von formeller oder informeller Anrede ist die Nennung der jeweiligen Funktion oder des Titels einer Person üblich. Sie wird vor den Vornamen gestellt oder kann auch alleine stehen. Ein Doktor kann doutor gerufen werden, und Linda wird in ihrer Funktion als Lehrerin eben professora Linda genannt.
Was können Sie besser machen?
Lindas Schüler entdecken zwei ihrer Lieblingsklischees über Deutsche in Linda wieder und sind daher sehr zufrieden, eine echte Deutsche vor sich zu haben. Eine solche darf auch mal auf den Tisch hauen und Autorität zeigen. Brasilianische Lehrer verkehren auf sehr freundschaftlicher Ebene mit ihren Schülern. Wenn ein Schüler den Unterricht stört, sprechen