Fettnäpfchenführer Mexiko. Büb KäzmannЧитать онлайн книгу.
blank geputzt. Auch der zweite Gang, ensalada césar, ist keine komplizierte Kreation, aber schmeckt und ist apart angerichtet. Der frische Romanasalat mit Croutons, Anchovis und geriebenem Parmesan, herzhaft gewürzt, macht Appetit auf mehr.
»Und erst der Wein – hervorragend! Ein Pinot Noir aus ...«, Anton kneift die Augen zusammen und hält die Flasche am ausgestreckten Arm von sich weg, »San Juan del Río«. Er füllt Lily und sich nach und hebt sein Glas. »Auf den gelungenen Abschluss eines herrlichen Wochenendes! Jetzt bin ich erst ein paar Tage hier, aber es kommt mir vor, als wäre ich schon ein halber Mexikaner. Und mit meinem Spanisch, das klappt doch auch schon ganz gut, findest du nicht?« Zufrieden lehnt sich Anton zurück.
Lily grinst – und spart sich den Kommentar. Es ist wirklich schön hier, aber so richtig wohl fühlt sie sich dennoch nicht zwischen all den feinen Leuten, den gestärkten weißen Tischdecken und dezenten Klavierklängen. Doch Anton hat darauf bestanden zur Feier des Wiedersehens und als Dank, dass sie sich die ersten Tage so gut um ihn gekümmert hat, noch einmal »so richtig schick essen zu gehen«, bevor Lily wieder nach Cholula zurückkehren würde.
»Welches Hauptgericht hast du bestellt?«, fragt er Lily.
»Lomo relleno, gefüllte Schweinelende. Und du?«
»Carne asado, gegrilltes Fleisch.«
Als wäre dies das Stichwort gewesen, erscheint wie aus dem Nichts der Kellner und drapiert die Gerichte mit elegantem Schwung auf dem gedeckten Tisch. Auch dieser Gang gibt dem Ruf des Restaurants recht. Gute Küche, geschmackvoll angerichtet, ohne komplizierten Schnickschnack, das ist offenbar die Devise. Ohne dass sie das abgesprochen hätten, verharren Anton und Lily einen Moment vor ihren Tellern und lassen Anblick und Aroma auf sich wirken. Als sie beide gleichzeitig mit tiefem Atemzug dem Duft nachschnuppern, müssen sie lachen.
»Wir sind halt Genießer. ¡Buen provecho!, guten Appetit!«, meint Lily.
»¡Buen provecho!«
Klack! Auf Antons Teller landet mit lautem Knall etwas Braunes, das wie ein Stein von weit oben heruntergefallen ist und sich als ein großer Käfer entpuppt. Er bleibt einen kurzen Moment wie betäubt liegen, rappelt sich dann auf, krabbelt behände vom Teller herunter und strebt übers weiße Tuch der Tischkante zu. Mit sicherem Griff stülpt Lily ihr leeres Wasserglas energisch über das Insekt, das jetzt hektisch versucht, dem durchsichtigen Gefängnis zu entkommen.
»Das ist ja eklig! Was ist das?« Anton beugt sich vor, um den Fang mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu in Augenschein zu nehmen.
»Das«, sagt Lily lakonisch, »ist eine Kakerlake. La cucaracha americana. Der Speedy Gonzalez unter den Insekten.«
ZÄHE BURSCHEN: KAKERLAKEN
Kakerlaken gibt es rund um den Erdball, v. a. aber in Tropennähe. Sie gelten als Überlebenskünstler, die wenig brauchen, fast alles fressen und lange Trocken- oder Hungerperioden überstehen. Sie scheuen das Tageslicht und sie sind schnell. Lilys Fang, cucaracha americana, die Amerikanische Großschabe kann pro Sekunde das 50-fache ihrer Körperlänge zurücklegen. Beim Menschen entspräche das 320 km/h. In Mexiko gibt es neben verschiedenen draußen lebenden Kakerlaken v. a. zwei Arten, die gerne in menschlichen Behausungen, in Mauerhohlräumen, hinter Fliesen oder Fußleisten leben: besagte cucaracha americana, die bis zu 37 Millimeter groß wird, und die etwa halb so große cucaracha alemana, die Deutsche Schabe.
Viele Menschen finden Kakerlaken abstoßend, aber es gibt andere, die von ihnen fasziniert sind oder sie gar züchten und zwar nicht nur als Futtertiere für Reptilien. Zum Ausprobieren hier ein Rezept für cucarachas al ajillo (Knoblauch-Kakerlaken), das allerdings auch bei Mexikanern nicht auf ungeteilte Begeisterung stößt: Zwei klein geschnittene Chilischoten und fünf fein gehackte Knoblauchzehen in einer halben Tasse Öl erhitzen und ein Dutzend Kakerlaken darin garen. Mit Salz und Pfeffer würzen.
Gesundheitlich problematisch sind nicht die Kakerlaken selbst, sondern dass sie allerlei Erreger herumtragen und auf Lebensmitteln hinterlassen können. Ihre während des Entwicklungsgangs abgestoßene und zu Staub zerfallende Haut sowie ihre Exkremente können Allergien und Asthma hervorrufen.
Die Bekämpfung der Überlebenskünstler ist nicht ganz einfach. Oft wird davor gewarnt, sie zu zertreten. Kakerlaken der Gattung cucaracha alemana tragen ihre Eier unterm Bauch. Diese Eier seien so hart, heißt es, dass man die Nachkommen zwar gewissermaßen zu Waisen mache, aber sie dann an der Schuhsohle mit sich trage und verbreite. Das ist falsch, denn so robust sind die Eier nicht. Richtig ist aber, dass man der Kakerlaken so nicht Herr wird, weil man nur wenige erwischt. Einer Redensart nach kommen bei einer zertretenen Kakerlake hundert andere zur Beerdigung.
Auch in Mexiko setzen professionelle Kammerjäger meist Gift oder Köderfallen ein und überbieten sich zum Teil mit Versprechen wie »¡El mejor sistema para atrapar cucarachas!« (Das beste System, Kakerlaken zu fangen!). Selbst wenn die Mittel wirken, kann es sein, dass die Medizin schlimmer als die Krankheit ist, wenn etwa Gifte nicht nur den Insekten, sondern auch Menschen und Haustieren zusetzen.
Auf jeden Fall ist es ratsam, nach der Reise bei der Ankunft zu Hause sein Gepäck sofort auszupacken, am besten in der Badewanne oder an einer anderen Stelle, wo man möglicherweise mitgebrachte blinde Passagiere gut erwischen kann. »Blind« hat in diesem Fall übrigens eine doppelte Bedeutung: Kakerlaken können fast nichts sehen, aber sehr gut riechen und fühlen. So lösen winzige Härchen an ihrem Körper beim Herannahen von Killer-Füßen blitzschnell einen Fluchtreflex aus.
Anton ist entsetzt. »Aber das kann doch nicht sein! Ich ruf den Ober. ¡Señor! Aquí hay una cucaracha.«
Plötzlich sind die Gespräche verstummt, nur noch die Hintergrundmusik ist zu hören. Besteck wird leise auf den Teller gelegt, Gläser werden lautlos abgestellt und Lily glaubt, die Ohren der anderen Gäste förmlich zu ihnen hinüberwachsen zu sehen, während die Gesichter jetzt ausdruckslos und unbeteiligt in der Gegend herumschauen und nur kurz, wie zufällig, zu ihnen blicken. Lily würde am liebsten im Erdboden versinken. Sie fühlt sich wie ihre Beute, die Kakerlake im Glaskerker, den Zuschauern hilflos ausgesetzt ohne die geringste Möglichkeit zu verschwinden.
EIN LIED VON KAKERLAKEN, MARIHUANA UND REVOLUTION: LA CUCARACHA
La Cucaracha, das spanische Wort für Kakerlake, kennen viele aus dem gleichnamigen Lied mit der eingängigen Melodie. Louis Armstrong hat es gesungen, Bill Haley und auch die Trickfilmfigur Speedy Gonzalez, »die schnellste Maus von Mexiko«. Entstanden ist La Cucaracha bereits im 19. Jahrhundert, berühmt wurde es Anfang des 20. Jahrhunderts.
Während der Mexikanischen Revolution, den Aufständen gegen den Präsidenten Porifirio Díaz, der das Land lange Zeit mit harter Hand, mit pan y palo (Zuckerbrot und Peitsche), regierte, wurde es als Spottlied gesungen. »Die Kakerlake kann nicht mehr laufen«, heißt es ursprünglich in dem Lied, »weil sie hinten keine Beine hat«. Nun sang man: »weil sie kein Marihuana mehr zum Rauchen hat«, und machte sich damit über einen General lustig, der zu den Gegnern des Rebellenführers Pancho Villa gehörte. Es entstanden eine ganze Reihe von Strophen und Versionen des Liedes, in denen es mal ironisch, mal pathetisch zugeht.
Der Kellner kommt herbeigeeilt. »¿Sí señor?«
Die Antwort braucht er nicht abzuwarten. Mit einem Blick hat er das umgestülpte Wasserglas und den rotbraunen Gefangenen darin gesehen und die Situation erfasst. Mit der ihm eigenen Eleganz schiebt er in einer raschen Bewegung das Glas zur Tischkante und umschließt das herunterfallende Insekt mit seiner Serviette. Die Hand fest ums Tuch und den Fang geschlossen entschuldigt er sich, begleitet von einer knapp angedeuteten Verbeugung, bei Lily und Anton für die molestias (Unannehmlichkeiten) und entschwindet Richtung Küche.
Als wäre nichts geschehen, setzen die Gespräche wieder ein, die Bestecke werden aufgenommen und die Gläser zu den Lippen geführt. Niemand schaut mehr hinüber. Lily ist erleichtert. Das ist noch mal glimpflich ausgegangen. Anton ist nicht so angetan von der Entwicklung.