Fettnäpfchenführer Finnland. Gudrun SöffkerЧитать онлайн книгу.
einen Studienort rechtfertigen?
Sopii!
Ja, warum nicht nach Finnland? Im Zweifel für den Angeklagten! Wie romantisch, tiefgefroren, überraschend, karrierefördernd oder skurril der Aufenthalt dort oben tatsächlich wird, hängt vielleicht auch davon ab, wie viel Sensibilität, Wetterfestigkeit und Humor man mitbringt. Lassen wir uns überraschen: Nicht nur vom hohen Norden, sondern auch von Greta und all den Erlebnissen, die auf sie einstürmen werden. Sie hat mit dem Frühsommer eine undramatische Jahreszeit gewählt, um kontakti zu knüpfen mit dem Land. Und sie ist ja nicht wirklich die Erste, die diesen Weg beschreitet. Zumindest literarisch hatte ihn vor rund 2.000 Jahren bereits der römische Geschichtsschreiber Tacitus (56–117 n. Chr.) in Angriff genommen und für überlieferungswürdig gehalten, dass die Männer und Frauen der fenni gemeinsam mit Pfeil und Bogen wilde Tiere jagen, sich in Felle kleiden, auf dem Boden schlafen und Kräuter essen. Da sie so wenig Eigentum besäßen und sich weder vor Menschen noch Göttern fürchteten, könnten sie ein zufriedenes Leben führen, weil sie sich nichts anderes wünschten.
In den Kommentaren ihrer Bekannten findet Greta oft dieselbe Tendenz wieder: Finnland ist ein wildes Land, reduziert auf das Wesentliche. Falls einem das reicht, gut, falls nicht: oje, werde ja nicht depressiv in der Dunkelheit!
Wenn Gretas Freunde überlegen, ob sie sich inmitten des fremden Landes wohlfühlen kann, stellen sie unbewusst eine sehr finnische Frage: Wie sehr muss und kann man sich einer neuen Umgebung anpassen, wie viel Eigenständigkeit darf und will man behalten? Diese Problematik kennt man in Finnland durch die Lage zwischen Russland und Schweden, beziehungsweise der Sowjetunion und Westeuropa, sehr gut. Wenn sie aber wirklich Bedenken haben, trauen sie Greta einfach zu wenig zu. Denn genau genommen geht es ja gar nicht um Finnland, sondern um sie selbst.
POLITISCHE UND GEOGRAFISCHE POSITIONEN
Als der damalige norwegische Außenminister Jonas Gahr Støre 2007 in Berlin war, hielt er eine Rede an der Humboldt-Universität. Er wollte seine Hörerschaft für die Bedeutung des Eismeeres sensibilisieren, für die Bedeutung der Ressourcen, die unter ihm schlafen, und die Frage, wer technisch in der Lage und politisch berechtigt sein soll, sie zu wecken. Fast alle Arktisbewohner erheben Ansprüche. Aber wer sind die überhaupt? Wer wohnt dort, jenseits des Polarkreises? Nicht immer hat der norwegische Außenminister mit seinem frostigen Ansinnen so interessierte Zuhörer gefunden wie an diesem Abend. Einmal, so erzählte er nämlich, habe ein Professor ihn tiefgründig angesehen und erwidert: »Herr Außenminister, für mich ist der hohe Norden Schleswig-Holstein.«
Und was hat das alles nun mit Finnland zu tun? Nichts, das ist es ja gerade. Finnland hat keinen Zugang mehr zum Eismeer. In grenzfreien Zeiten vergangener Jahrhunderte und während einer kurzen Phase zwischen 1920 bis 1944 war das einmal anders.
Welcher Norden ist es also, dem Finnland heute angehört? Dort drüben, auf der anderen Seite der Ostsee wohnen diese knapp fünfeinhalb Millionen Finnen, gewissermaßen als Nachbarn aller Ostseeanrainer. Allerdings nicht irgendwo dort drüben, sondern im Nordosten.
Im Mittelalter hatten die Schweden die finnische Küste besiedelt und sie samt dem kaum bekannten Inland seitdem selbstverständlich als Teil ihres Reiches betrachtet. Nach langen kriegerischen Auseinandersetzungen wurde Finnland Anfang des 19. Jahrhunderts jedoch ein russisches Großfürstentum (siehe »Was bedeutet presidentti?«). Die finnischen Bemühungen um eine Ablösung von Russland führten fast dazu, dass 1918 ein Schwager Kaiser Wilhelms II., Friedrich Karl von Hessen, auf den finnischen Thron gebeten wurde. Der Ausgang des Ersten Weltkrieges verhinderte dies jedoch, und so besteht seit 1917 die Republik Finnland. Diese war allerdings zwischenzeitlich erneut gefährdet. Nachdem Finnland sich im sogenannten Winterkrieg 1939/40 überraschend gut gegen die Sowjet-union verteidigt hatte, konnte zwar die Souveränität gewahrt bleiben, aber weite Landstriche im Osten mussten abgetreten werden. Deshalb ging Finnland eine militärische Allianz mit dem Deutschen Reich ein. Der Fortsetzungskrieg von 1941 bis 1944 führte jedoch zu noch größeren Landverlusten und hohen Reparationszahlungen an die Sowjetunion. Die Wahrung der Selbstständigkeit war fortan das oberste Ziel der finnischen Außenpolitik. Seit dem Ende des Kalten Krieges geht die Orientierung eindeutig gen Westen; eine Mittlerposition nimmt Finnland jedoch gerne und bewusst ein, sei es zwischen Ost und West, sei es zwischen kleineren und größeren Staaten allgemein.
Auch klimatisch betrachtet liegt Finnland in einer Übergangsregion. Der Einfluss des Atlantiks reicht selten bis zur östlichen Grenze, wo kontinentales Klima für warme Sommer und strenge Winter sorgt. Die Tagesmitteltemperaturen von Hamburg und Jyväskylä, einer beschaulichen Stadt im mittelfinnischen Seengebiet, sind im Juli fast identisch. Im Januar dagegen ist es in Jyväskylä durchschnittlich etwa zehn Grad kälter, im Maximum sogar fast 20. Das ganze Jahr hindurch erlebt Hamburg mehr Niederschlag als Jyväskylä, außer im August. Von Februar bis Juli scheint die Sonne in Jyväskylä mehr als in Hamburg. Im Mai und Juni sind die Höchsttemperaturen in beiden Städten etwa gleich.
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WER VERTEIDIGT DIE FINNISCHEN SÜMPFE?
DIE GEFLÜGELTE ARMEE
Finnair gibt es wirklich, eine eigene Airline bei nur fünfeinhalb Millionen Finnen. Greta ist beeindruckt. Tägliche Direktflüge von Helsinki nach Asien bieten sie an, aber auch von Frankfurt nach Helsinki, und einen Platz in einer solchen Maschine hat Greta gebucht.
GANZ OBEN: DIE FINNISCHE AIRLINE
Hervorgegangen aus der bereits 1923 gegründeten Aero, liegt Finnair in der Sicherheitsstatistik des Jet Airliner Crash Data Evaluation Center (JACDEC) regelmäßig auf den obersten Plätzen. Da bleibt nur weiterhin zu wünschen: Hyvää matkaa! Gute Reise!
Allein ist sie nicht, es gibt offenbar eine ganze Menge Menschen, die gen Norden wollen, manche in lässig-eleganter Businesskleidung, ein paar schwitzende Familien mit Reisegepäck, ein Mann in einer ausgebeulten olivfarbenen Wanderhose mit ehemals schwarzem T-Shirt, das die breite Aufschrift »Finnish Army« ziert, sitzt neben ihr. Er diskutiert gerade ausführlich auf Deutsch über den Gang hinweg mit jemandem über die sinnvollste Flugverbindung nach Lappland: »Rovaniemi ist zwar am Polarkreis, aber wenn Sie wirklich ins richtige Lappland wollen, sind’s allemal noch 150 Kilometer mehr. Also Kittilä ist mein Geheimtipp, da gibt’s kaum Menschen, ohnehin nur Finnen, und man ist sofort mitten in der Natur.« Der Nachbar zuckt nur mit einer Augenbraue und sagt mit leichtem finnischen Akzent: »Natur ist auch in Vantaa.«
Vantaa, so hört Greta, sei ein Vorort von Helsinki, eigentlich eine Stadt, die mit Helsinki und Espoo zusammen die Hauptstadtregion bildet, wo Helsinkis Flughafen liegt und etwa ein Viertel aller Finnen lebt. Greta ist froh über den Kommentar, schließlich möchte sie ja auch in Helsinki schön Rad fahren, wandern und massenweise frische Luft tanken. Doch der Enthusiasmus des Wanderers lässt ihr ebenfalls keine Ruhe. Wo ist sie denn nun, die echte, unverfälschte Natur? Und was bitte hat die finnische Armee damit zu tun?
Sie schielt hinüber zu dem breitbeinig dasitzenden, kraftvolle Vorfreude ausstrahlenden Kerl. Irgendwie erinnert er an einen Astronauten kurz vor dem Countdown. Er sieht aus, als ob die Schwerkraft gleich seinen ganzen Körper fordern würde, aber er hält das aus, ja, er ist einer der harten Jungs, die das trainiert haben. Seine Mission ist Kittilä.
Als sie in der Luft sind, muss er aber zunächst einem akuten Ruf der Natur folgen. Er steht auf, streckt sich und blickt sich suchend um. Da entdeckt Greta, dass auf seinem T-Shirt tatsächlich kein NASA-Emblem zu sehen ist, sondern etwas Kleines mit Flügeln und einigen Beinen, in mehreren Ausführungen und weißer Farbe, sehr zahlreich aufgedruckt. Ihr Blick bleibt so lange darauf haften, dass es dem Enthusiasten auffällt. Er grinst.
»Noch nie in Lappland gewesen, was? Na, dann viel Spaß! Einsprühen hilft nicht, die überfallen dich hinterrücks. Finnlands echte Armee besteht aus Milliarden von Mücken.«