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Fettnäpfchenführer Russland. Veronika WengertЧитать онлайн книгу.

Fettnäpfchenführer Russland - Veronika Wengert


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Kopf. Ob das auch für seine Beifahrer gilt?

      Dann bremst Mischa abrupt. Aus seinem Mund sprudelt ein Redeschwall. Seine Flüche sind an dieser Stelle leider der Zensur zum Opfer gefallen, da sie nicht ganz vornehm und schon gar nicht jugendfrei waren. Prima, dass Herrn Müllers Russisch nicht so gut ist!

      Natascha spielt verlegen mit ihrem Schal. Dann erklärt sie mit flüsternder Stimme, dass sich Mischa über den Fußgänger am Zebrastreifen aufgeregt habe, der einfach so über die Straße marschiert sei.

      Herr Müller schaut verwirrt. »Ja sicher, dazu ist ein Zebrastreifen doch da!«

      Natascha nickt. »Aber das ist ein großes Risiko, für beide Seiten.«

      Herr Müller grübelt kurz. Zebrastreifen als Risiken? Das konnte ja heiter werden in dieser Stadt!

      Ein schwarz-weißer Polizeistock stoppt die Anwartschaft auf den großen Slalom-Pokal von Moskau jäh. Im Fahrerfenster taucht ein Männergesicht mit grauer Fellmütze und Wappen über der Stirn auf. »Dokumenty!«

      Aha, den barschen Befehl versteht auch Herr Müller. Dokumenty ist der russische Sammelbegriff für Ausweispapiere, Führerschein und Co. Mischa streckt die Wagenpapiere zum Fenster hinaus. Die Stimmen der beiden Männer werden immer lauter. Natascha flüstert Herrn Müller vom Hintersitz zu, dass der Gaischnik Mischa überhöhte Geschwindigkeit vorwerfe.

      Wer? Spontan schießt Herrn Müller die Assoziation mit dem englischen gay in den Kopf ... (Bloß nicht Gay [Schwuler] und GAI [russische Verkehrspolizei] verwechseln. In Russland geht man mit Homosexualität nicht so unbefangen wie in Westeuropa um.)

      Mischa verschwindet mit dem Verkehrspolizisten. Nach einer Weile steigt er wieder ein und gibt erneut Gas, diesmal mit heulenden Reifen. »Nitschego – Ach nichts«, winkt er ab. Es sei besser, solche heiklen Fragen direkt vor Ort zu klären, erklärt Natascha mit verschwörerischer Stimme.

      Und weiter geht der große Slalom-Cup. Herr Müller fühlt sich wie der Co-Pilot eines verhinderten Rallyefahrers. Sicher muss Mischa zu Hause eine ganze Sammlung von Formel-Eins-Rennfahrer-Stickern haben, die er sich mit stolzer Brust in ein Sammelalbum klebt, fährt es ihm durch den Kopf. Nie wieder würde er sich über deutsche Autofahrer mit selbst gestrickten Toilettenpapieretuis auf der Hutablage ärgern, die mit Tempo 90 über die Autobahn schleichen. Alles war besser als diese Achterbahnfahrt im Moskauer Stadtverkehr! Und überhaupt würde er bald im Internet recherchieren, was es denn mit dem autonomen Fahren auf sich hat und ob man das nicht in Russland ein wenig eher einführen könnte, überlegt Paul Müller.

      Mischa reißt das Lenkrad nach rechts und stoppt, wie die gesamte Kolonne, am Fahrbahnrand. Auf einmal blitzt ein Blaulicht im Rückspiegel. Ein Unfall?

      Natascha schüttelt den Kopf. »Der Präsident fährt nach Hause«, erklärt sie, »dann wird die Straße gesperrt.«

      Herr Müller ist verdutzt.

      »Morgens fährt er in die Stadt, abends wieder nach Hause. Dabei hat er natürlich Vorfahrt«, so die Assistentin.

      Ob es so etwas in Berlin auch gibt, dass kurzerhand der Verkehrsfluss auf einer mehrspurigen Ausfallstraße zum Erliegen kommt, nur weil das Staatsoberhaupt vielleicht Hunger hat und zum Abendbrot pünktlich zu Hause sein will?

       Was ist diesmal schiefgelaufen?

      Wer einmal in Moskau Auto gefahren ist, weiß es: Russische Autofahrer sind nicht selten rücksichtslose, fast rüpelhafte Raser, die sich weder an rote Ampellichter noch an Verkehrsvorschriften halten. Andere Fahrzeuge ersetzen Slalomfähnchen, die es mit rasender Geschwindigkeit zu umfahren gilt. Notfalls auch auf der Gegenfahrbahn oder dem Bürgersteig – wie es eben gerade beliebt! Ziemlich pauschal gesagt? Mag sein! Gegenbeweise sind immer willkommen, vor allem in Zeiten, in denen mächtige SUVs immer beliebter werden ...

      Es gilt das Recht des Stärkeren, fast wie im Tierreich: Je größer das Auto, desto ungehemmter darf der Fahrerkamm anschwellen. Tempo 100 im Stadtverkehr? Solange es die Polizei nicht sieht, ist erlaubt, was gefällt. Und das ist so ziemlich die einzige Regel, die weitgehend akzeptiert wird. (Offiziell gilt natürlich auch in Russland eine erlaubte Höchstgeschwindigkeit: Tempo 60 innerhalb von geschlossenen Ortschaften.)

      Zebrastreifen? Die wurden bestimmt nicht in Russland erfunden! Vielleicht als Verzierung des sonst so eintönig grauen Asphalts. Oder um die Straßenbauer im Zuge sozialistischer Fünfjahrespläne mit den entsprechenden Markierungsarbeiten auszulasten – allerdings sicher nicht, um Fußgänger als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer über die Straße zu lassen. Wer dennoch bremst, sorgt für ein lautstarkes Hupkonzert der nachfolgenden Kolonne. Die Fußgänger schauen zudem wie verschreckte Kaninchen, wenn ein Auto freiwillig anhält, nur um dem zuvorkommenden Verkehrskavalier dennoch nicht über den Weg zu trauen. Das konnte nur ein Irrer sein, der gleich Gas geben und in die Menschenmenge rasen würde! Oder ein Betrunkener! Im harmlosesten Fall: ein Ausländer! Okay, das mag ein wenig übertrieben formuliert sein, aber für die ältere Generation von Autofahrern gilt das nach wie vor.

      Herr Müller hat seinem neuen Fahrer Mischa zum Start schon mal keinen Vertrauensvorschuss gewährt. Warum? Anschnallen galt in Russland Jahrzehnte lang als Beleidigung des Fahrers. Dieser ging dann davon aus, dass Sie seinem Fahrstil nicht vertrauen. Und viele Russen lehnen den Gurt nach wie vor ab. Ein Stück Textil soll helfen? Dann doch lieber gleich Nikolaus, der Wundertäter. Der Heilige, der an jeder Fahrzeugkonsole klebt und den Herr Müller auch gesehen hat, gilt übrigens als Schutzbeistand der Reisenden.

      Überhaupt scheint im russischen Straßenverkehr manchmal göttlicher Beistand mehr wert zu sein als der gesunde Menschenverstand: Orthodoxe Priester weihen Fahrzeuge oder sprechen ein Gebet für Fernstraßen und Autobahnen. An einigen mit Weihwasser besprenkelten Zebrastreifen im Land sollen schon erste Erfolge sichtbar sein: Die Unfallzahlen sind rückläufig! Und für alle Fälle sind, zumindest im südrussischen Gebiet Krasnodar, die »Zehn orthodoxen Verkehrsgebote« schon auf den dortigen Straßen verteilt worden!

      Doch nicht nur die Kirche, auch der Staat hat in der Vergangenheit eingegriffen, um die Zahl der Verkehrsopfer zu verringern: Die Bußgelder für das Nicht-Anschnallen und andere »Kavaliersdelikte« wurden vor wenigen Jahren drastisch erhöht. Seither wird nicht nur jeder Fahrer ohne Gurt, sondern auch jeder nicht angeschnallte Beifahrer gesondert zur Kasse gebeten. Viele Fahrer setzen sich deshalb einfach auf den Gurt, damit es so wirkt »als ob«, um so der Strafe für das Nichtanschnallen zu entkommen. Und in neuen Autos, in denen es ohne Gurt ununterbrochen piept und blinkt? Dafür wurde auch schon etwas ausgetüftelt: Eine Gurtschnalle vom Schrottplatz, einfach reingesteckt, und schon lässt es sich ohne nerviges Gefiepe fahren. Eins zu null für das moderne Bordsystem. Doch halt, das gilt natürlich auch nur für vereinzelte Strategen: Bei vielen Russen hat es sich durchgesetzt, dass ohne Gurt nicht unbedingt cool ist.

      Mischa wurde von der russischen Verkehrspolizei gestoppt, der GIBDD. Auf Russisch ГИБДД (sprich: GE-I-BE-DE-DE), also die Gosudarstwennaja inspekzija besopasnost doroschnogo dwischenja. Was sich vermutlich ohnehin nur die wenigsten Ausländer merken können, heißt wörtlich: Staatliche Inspektion für die Sicherheit im Straßenverkehr. Früher hieß diese Behörde GAI, bis heute steht die kyrillische Entsprechung ГАИ auf vielen Straßenschildern. Daher werden die Verkehrspolizisten umgangssprachlich auch GAIschniki genannt. Mit dem englischen Wort gay für Homosexuelle hat das jedoch nichts zu tun, Herr Müller! Kommen Sie bloß nicht auf die Idee, solche Scherze zu machen! Denn gleichgeschlechtliche Liebe ist in der breiten Bevölkerung immer noch ein Tabu-Thema (und es lässt sich nicht behaupten, dass sich die Einstellung verändert hat, je länger die Sowjetunion schon tot ist ... im Gegenteil ... doch das an anderer Stelle). Mit dem Abkürzungswirrwar ist hier jedoch noch nicht Schluss. Denn es ist durchaus auch möglich, dass Sie in Russland auf die DPS (ДПС, ausgeschrieben: Doroschno-patrulnaja sluschba, also die Behörde für Straßenpatrouillen) stoßen. Dies ist wiederum eine Abteilung der GIBDD.

      Die russische Verkehrspolizei litt lange unter ihrem schlechten Ruf, an dem sie allerdings


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