Wachtmeister Studer. Friedrich GlauserЧитать онлайн книгу.
»Aber Schlumpfli!« sagte Studer leise. Er nahm sein Nastuch aus der Tasche, wischte sich zuerst selbst die Stirne ab, dann fuhr er mit dem Tuch über das Gesicht des Burschen. Ein Bubengesicht: jung, zwei dicke Falten über der Nasenwurzel. Trotzig. Und sehr bleich.
Das war also der Schlumpf Erwin, den man heut morgen in einem Krachen des Oberaargaus verhaftet hatte. Schlumpf Erwin, angeklagt des Mordes an Witschi Wendelin, Kaufmann und Reisender in Gerzenstein.
Zufall, dass man zur rechten Zeit gekommen war! Vor einer Stunde etwa hatte man den Schlumpf ordnungsgemäß im Gefängnis eingeliefert, der Wärter mit dem dreifachen Kinn hatte unterschrieben – man konnte getrost den Zug nach Bern nehmen und die ganze Sache vergessen. Es war nicht die erste Verhaftung, die man vorgenommen hatte, es würde auch nicht die letzte sein. Warum hatte man das Bedürfnis verspürt, den Schlumpf Erwin noch einmal zu besuchen?
Zufall?
Vielleicht … Was ist schon Zufall? … Es war nicht zu leugnen, dass man dem Schicksal des Schlumpf Erwin teilnahmsvoll gegenüberstand. Richtiger gesagt, dass man den Schlumpf Erwin lieb gewonnen hatte… Warum?… Studer in der Zelle strich sich ein paar Male mit der flachen Hand über den Nacken. Warum? Weil man keinen Sohn gehabt hatte? Weil der Verhaftete auf der ganzen Reise seine Unschuld beteuert hatte? Nein. Unschuldig sind sie alle. Aber die Beteuerungen des Schlumpf Erwin hatten ehrlich geklungen. Obwohl …
Obwohl der Fall eigentlich ganz klar lag. Den Kaufmann und Reisenden Wendelin Witschi hatte man am Mittwochmorgen mit einem Einschuss hinter dem rechten Ohr, auf dem Bauche liegend, in einem Walde in der Nähe von Gerzenstein aufgefunden. Die Taschen der Leiche waren leer … Die Frau des Ermordeten hatte behauptet, ihr Mann habe dreihundert Franken bei sich getragen.
Und am Mittwochabend hatte Schlumpf im Gasthof zum ›Bären‹ eine Hunderternote gewechselt … Am Donnerstagmorgen wollte ihn der Landjäger verhaften, aber Schlumpf war geflohen.
So war es eben gekommen, dass der Polizeihauptmann am Donnerstagabend den Wachtmeister Studer in seinem Büro aufgesucht hatte:
»Studer, du musst an die frische Luft. Morgen früh gehst du den Schlumpf Erwin verhaften. Es wird dir gut tun. Du wirst zu dick …«
Es stimmte, leider … Gewiss, sonst schickte man zu solchen Verhaftungen Gefreite. Es hatte den Fahnderwachtmeister getroffen … Auch Zufall?… Schicksal? …Genug, man war an den Schlumpf geraten, und man hatte ihn lieb gewonnen. Eine Tatsache! Mit Tatsachen, auch wenn sie nur Gefühle betreffen, muss man sich abfinden. Der Schlumpf! Sicherlich kein wertvoller Mensch! Man kannte ihn auf der Kantonspolizei. Ein Unehelicher. Die Behörde hatte sich fast ständig mit ihm beschäftigen müssen. Sicher wogen die Akten auf der Armendirektion mindestens anderthalb Kilo. Lebenslauf? Verdingbub bei einem Bauern. Diebstähle. – Vielleicht hat er Hunger gehabt? Wer kann das hinterdrein noch feststellen? – Dann ging es, wie es in solchen Fällen immer geht. Erziehungsanstalt Tessenberg. Ausbruch. Diebstahl. Wieder gefasst. Geprügelt. Endlich entlassen. Einbruch. Witzwil. Entlassen. Einbruch. Thorberg drei Jahre. Entlassen. Und dann hatte es Ruhe gegeben – zwei volle Jahre. Der Schlumpf hatte in der Baumschule Ellenberger in Gerzenstein gearbeitet. Sechzig Rappen Stundenlohn. Hatte sich in ein Mädchen verliebt. Die beiden wollten heiraten. Heiraten! Studer schnaubte durch die Nase. So ein Bursch und heiraten! Und dann war der Mord an dem Wendelin Witschi passiert …
Es war ja bekannt, dass der alte Ellenberger in seinen Baumschulen mit Vorliebe entlassene Sträflinge anstellte. Nicht nur, weil sie billige Arbeitskräfte waren, nein, der Ellenberger schien sich in ihrer Gesellschaft wohlzufühlen. Nun, jeder Mensch hat seinen Sparren, und es war nicht zu leugnen, dass die Rückfälligen sich ganz gut hielten beim alten Ellenberger … Und nur weil der Schlumpf am Mittwochabend eine Hunderternote im ›Bären‹ gewechselt hatte, sollte er den Raubmord begangen haben? … Der Bursche hatte das so erklärt: Es sei erspartes Geld gewesen, er habe es bei sich getragen …
Chabis1! … Erspart! … Bei sechzig Rappen Stundenlohn? Das machte im Monat rund hundertfünfzig Franken … Zimmermiete dreißig … Essen? – Zwei Franken fünfzig am Tag für einen Schwerarbeiter war wenig gerechnet. Fünfundsiebzig und dreißig macht hundertfünf, Wäsche fünf – Zigaretten, Wirtschaft, Tanz, Haarschneiden, Bad – Blieben im besten Falle fünf Franken im Monat. Und dann sollte er in zwei Jahren dreihundert Franken erspart haben? Unmöglich! Das Geld bei sich getragen haben? Psychologisch undenkbar. Solche Leute können kein Geld in der Tasche tragen, ohne es zu verputzen … Auf der Bank? Vielleicht. Aber nur so in der Brieftasche? …
Und doch, der Schlumpf hatte dreihundert Franken bei sich gehabt. Nicht ganz. Zwei Hunderternoten und etwa achtzig Franken. Studer sah das Einlieferungsprotokoll, das er unterzeichnet hatte:
»Portemonnaie mit Inhalt: 282 Fr. 25.«
Also … Es stimmte alles! Sogar der Fluchtversuch im Bahnhof Bern. Ein dummer Fluchtversuch! Kindisch! Und doch so begreiflich! Diesmal langte es ja für lebenslänglich …
Studer schüttelte den Kopf. Und doch! Und doch! Etwas stimmte nicht an der ganzen Sache. Vorerst war es nur ein Eindruck, ein gewisses unangenehmes Gefühl. Und der Fahnderwachtmeister fröstelte. Diese Zelle war kalt. Kam denn der Doktor nicht bald?
Wollte der Schlumpf eigentlich gar nicht aufwachen? … Ein tiefer Atemzug hob die Brust des Liegenden, die verdrehten Augen kamen in die richtige Stellung, und Schlumpf sah den Wachtmeister an. Studer fuhr zurück.
Ein unangenehmer Blick. Und jetzt öffnete Schlumpf den Mund und schrie. Ein heiserer Schrei – Schrecken, Abwehr, Furcht, Entsetzen … Viel lag in dem Schrei. Er wollte nicht enden.
»Still! Willst still sein!« flüsterte Studer. Er bekam Herzklopfen. Schließlich tat er das einzig Mögliche: Er legte seine Hand auf den lauten Mund …
»Wenn du still bist«, sagte der Wachtmeister, »dann bleib ich noch eine Weile bei dir, und du kannst eine Zigarette rauchen, wenn der Doktor fort ist. Hä? Ich bin doch noch zur rechten Zeit gekommen …« und versuchte ein Lächeln.
Aber das Lächeln wirkte auf den Schlumpf durchaus nicht ansteckend. Sein Blick wurde zwar sanfter, aber als Studer seine Hand vom Munde fortnahm, sagte Schlumpf leise:
»Warum habt Ihr mich nicht hängen lassen, Wachtmeister?«
Schwer, auf diese Frage eine richtige Antwort zu finden! Man war doch kein Pfarrer …
Es war still in der Zelle. Draußen tschilpten Spatzen. Im Hof unten sang ein kleines Mädchen mit dünner Stimme:
»O du liebs Engeli,
Rosmarinstengeli,
Alliweil, alliweil, blib i dir treu …«
Da sagte Studer, und seine Stimme klang heiser:
»Eh, du hast mir doch erzählt, dass du heiraten willst? Das Meitschi … es wird doch zu dir halten, oder? Und wenn du sagst, du bist unschuldig, so ist’s doch gar nicht sicher, dass du verurteilt wirst. Und du kannst dir doch denken, dass ein Selbstmordversuch die größte Dummheit gewesen ist, die du hast machen können. Das wird dir als Geständnis ausgelegt …«
»Es war doch kein Versuch. Ich hab wirklich …«
Aber Studer brauchte nicht zu antworten. Es kamen Schritte den Gang entlang, der Wärter Liechti sagte »Da drin ist er, Herr Doktor.«
»Scho wieder z’wäg?« fragte der Doktor und griff nach Schlumpfs Handgelenk. »Künstliche Atmung? Fein!«
Studer stand vom Bett auf und lehnte sich gegen die Wand.
»Ja, also«, sagte der Doktor. »Was machen wir mit ihm? Selbstgefährlich! Suizidal! Na ja, das kennt man. Wir werden eine psychiatrische Expertise verlangen … Nicht wahr?«
»Herr Doktor, ich will nicht ins Irrenhaus«, sagte Schlumpf laut und deutlich, dann hustete er.
»So? Und warum nicht? Naja, dann könnte man … Ihr habt doch sicher eine Zweierzelle, Liechti, in die man den Mann legen könnte, damit er nicht so allein