Märchen aus China. Richard WilhelmЧитать онлайн книгу.
Himmel herunter. Schließlich waren es nicht mehr einzelne Tropfen, sondern es war nur noch eine Wasserflut, die alles überschwemmte. Da kam ein Hund vorbei getrieben, den retteten sie auf ihr Schiff. Bald darauf kam ein Mäusepaar mit ihren Jungen; die quiekten laut aus Angst. Die retteten sie auch. Das Wasser stieg schon bis an die Dächer der Häuser. Auf einem Dach saß eine Katze, die machte einen krummen Buckel und schrie kläglich. Sie nahmen sie auch in ihr Schiff. Aber das Wasser wurde immer größer und stieg bis an die Wipfel der Bäume. Auf einem Baume saß ein Rabe, schlug mit den Flügeln und krächzte. Auch ihn nahmen sie zu sich. Schließlich kam ein Bienenschwarm daher. Die Tierchen waren ganz naß geworden und konnten kaum mehr fliegen. Da ließen sie auch die Bienen zu sich herein. Endlich kam ein schwarzhaariger Mensch auf den Wellen vorüber. Der Knabe sprach: »Mutter, den wollen wir auch retten!« Die Mutter wollte nicht: »Die Großmutter hat uns doch gesagt, wir dürfen keine Schwarzköpfe retten.« Der Knabe sprach: »Wir wollen den Mann doch retten. Ich habe Mitleid mit ihm und kann es nicht mit ansehen, wie er im Wasser dahintreibt.« So retteten sie denn auch den Mann.
Allmählich verlief das Wasser sich wieder. Sie stiegen aus ihrem Schiff und verabschiedeten sich von dem Manne und den Tieren. Da wurde das Schiff wieder klein, und sie packten es in die Schachtel.
Der Mann aber war lüstern nach ihren Perlen. Er ging hin zum Richter und verklagte den Knaben und seine Mutter. So wurden sie beide ins Gefängnis geworfen. Da kamen die Mäuse und gruben ein Loch in die Mauer. Zu dem Loch kam der Hund herein und brachte ihnen Fleisch, und die Katze brachte ihnen Brot, so dass sie im Gefängnis nicht Hunger leiden mussten. Der Rabe aber flog weg und kam wieder mit einem Briefe an den Richter. Der Brief war von einem Gott geschrieben, und es hieß darin: »Ich wandelte als Bettlerin in der Menschenwelt umher. Da hat der Knabe und seine Mutter mich aufgenommen. Der Knabe hat mich behandelt wie seine Großmutter und sich nicht davor geekelt, mich von meinem Schmutz zu waschen. Darum habe ich sie gerettet aus dem großen Wasser, in dem ich die sündige Stadt, darin sie lebten, zerstörte. Du, o Richter, musst sie freilassen, sonst werde ich Unglück über dich bringen.«
Der Richter ließ sie vor sich kommen und fragte, was sie getan hätten und wie sie durch das Wasser hergekommen seien. Sie erzählten ihm nun alles, und es stimmte mit dem Briefe des Gottes überein. Da strafte er den Mann, der sie verklagt hatte, und ließ sie beide frei.
Als der Knabe herangewachsen war, da kam er in eine Stadt. In der Stadt waren sehr viele Menschen, und es hieß, die Prinzessin wolle heiraten. Um aber den rechten Mann zu bekommen, hatte sie sich verschleiert in eine Sänfte gesetzt und mit vielen anderen Sänften auf den Marktplatz tragen lassen. In allen Sänften saßen verschleierte Frauen, und die Prinzessin war mitten darunter. Wer nun die rechte Sänfte traf, der sollte die Prinzessin zur Frau bekommen. Da ging er auch hin, und als er auf den Platz kam, da sah er, wie die Bienen, die er aus dem großen Wasser gerettet hatte, alle um eine Sänfte schwärmten. Er trat auf die Sänfte zu, und richtig saß die Prinzessin darin. Die Hochzeit wurde nun gefeiert, und sie lebten glücklich bis an ihr Ende.
11. Der Fuchs und der Tiger
Der Fuchs begegnete einst einem Tiger. Der zeigte ihm die Zähne, streckte die Krallen hervor und wollte ihn fressen. Der Fuchs sprach: »Mein Herr, Ihr müsst nicht denken, dass Ihr allein der Tiere König seid. Euer Mut kommt meinem noch nicht gleich. Wir wollen zusammen gehen, und Ihr wollet Euch hinter mir halten. Wenn die Menschen mich sehen und sich nicht fürchten, dann mögt Ihr mich fressen.«
Der Tiger war es zufrieden, und so führte ihn der Fuchs auf eine große Straße. Die Wanderer nun, wenn sie von fern den Tiger sahen, erschraken alle und liefen weg.
Da sprach der Fuchs: »Was nun? Ich ging voran; die Menschen sahen mich und sahen Euch noch nicht.« Da zog der Tiger seinen Schwanz ein und lief weg. Der Tiger hatte wohl bemerkt, dass die Menschen sich vor dem Fuchse fürchteten, doch hatte er nicht bemerkt, dass der Fuchs des Tigers Furchtbarkeit entlehnte.
12. Des Tigers Lockspitzel
Dass der Fuchs des Tigers Furchtbarkeit entlehnt, ist nur ein Gleichnis; dass aber der Tiger seine Lockspitzel hat, das liest man häufig in Geschichtenbüchern, und auch Großväter reden viel davon, so dass wohl etwas Wahres daran sein muss. Es heißt, dass, wenn der Tiger einen Menschen frisst, sein Geist sich nicht entfernen kann, und der Tiger benutzt ihn dann als Lockspitzel. Wenn er auf Beute ausgeht, so muss der Geist des Gefressenen voran, um ihn zu verdecken, so dass die Menschen nicht den Tiger sehen. Der Geist verwandelt sich dann wohl in ein schönes Mädchen oder ein Stück Gold und Seidenzeug. Alle Arten von Betörung werden angewandt, um so die Menschen in die Schluchten des Gebirges zu locken. Dann kommt der Tiger vor und frisst das Opfer. Der neue Geist muss dann Lockspitzel werden. Der alte ist dann seines Dienstes ledig und kann gehen. So geht’s in stetiger Reihe fort und fort.
Von Leuten, die von listigen und starken Menschen gezwungen werden, zum Schaden anderer sich herzugeben, sagt man darum wohl: »Sie sind des Tigers Lockspitzel.«
13. Der Fuchs und der Rabe
Der Fuchs versteht es zu schmeicheln und viele Listen zu gebrauchen. Einst sah er einen Raben, der mit einem Stück Fleisch im Schnabel auf einem Baum sich niederließ. Der Fuchs setzte sich unter den Baum, sah zu ihm empor und begann ihn zu loben.
»Eure Farbe«, begann er, »ist reines Schwarz; das zeigt mir, dass Ihr die Weisheit Laotses habt, der sein Dunkel zu wahren weiß. Die Art, wie Ihr Eure Mutter zu füttern wisst, zeigt, dass Ihr an kindlicher Liebe der Fürsorge Meister Dsongs für seine Eltern gleichkommt. Eure Stimme ist rau und stark; das zeigt, dass Ihr den Mut besitzt, mit dem einst König Hiang durch seine bloße Stimme seine Feinde zum Fliehen brachte. Ihr seid wahrhaftig der König der Vögel.«
Der Rabe hörte es, ward hoch erfreut und sprach: »Bitte sehr, bitte sehr!«
Aber ehe er sich’s versah, fiel aus dem geöffneten Schnabel das Fleisch zur Erde.
Der Fuchs fing es auf, fraß es und sagte dann lachend: »Merkt’s Euch, mein Herr: Wenn jemand ohne Ursache Euch Lob entgegenbringt, so hat er sicher eine Absicht.«
14. Warum Hund und Katze einander feind sind
Ein Mann und eine Frau hatten einen goldenen Ring. Das war ein Glücksring, und wer ihn besaß, hatte immer genug zu leben. Sie wußten es aber nicht und verkauften den Ring für wenig Geld. Kaum war der Ring aus dem Hause, da wurden sie immer ärmer und wußten schließlich nicht mehr, woher sie genug zum Essen nehmen sollten. Sie hatten auch einen Hund und eine Katze, die mussten mit ihnen Hunger leiden. Da ratschlagten die Tiere miteinander, wie sie den Leuten wieder zu ihrem alten Glück verhelfen könnten. Schließlich fand der Hund einen Rat.
»Sie müssen den Ring wiederhaben«, sagte er zur Katze. Die Katze sprach: »Der Ring ist wohlverwahrt in einem Kasten, wo niemand dazu kann.«
»Fange du eine Maus«, sagte der Hund. »Die Maus soll den Kasten aufnagen und den Ring herausholen. Sag ihr, wenn sie nicht wolle, so beißest du sie tot, dann wird sie es schon tun.«
Dieser Rat gefiel der Katze, und sie fing eine Maus. Nun wollte sie mit der Maus zu dem Haus, wo der Kasten stand, und der Hund ging hinterdrein. Da kamen sie an einen großen Fluss. Und weil die Katze nicht schwimmen konnte, nahm sie der Hund auf den Rücken und schwamm mit ihr hinüber. Die Katze trug die Maus zu dem Haus, wo der Kasten stand. Die Maus nagte ein Loch in den Kasten und holte den Ring heraus. Die Katze nahm den Ring ins Maul und kam zurück zu dem Strom, wo der Hund auf sie wartete und mit ihr hinüberschwamm. Dann gingen sie miteinander nach Hause, um den Glücksring ihrem Herrn und ihrer Frau zu bringen. Der Hund konnte aber nur auf der Erde laufen; wenn ein Haus im Wege stand, so musste er immer darum herum. Die Katze aber kletterte hurtig über das Dach, und so kam sie viel früher an als der Hund und brachte den Ring ihrem Herrn.
Da sagte der Herr zu seiner Frau: »Die Katze ist doch ein gutes Tier, der wollen wir immer zu essen geben und sie pflegen wie unser eigenes Kind.«