Der Erste Weltkrieg. Daniel Marc SegesserЧитать онлайн книгу.
sowie 20,4 % im tertiären Sektor beschäftigt waren. Die wirtschaftspolitische Wende hin zum Protektionismus, die in den letzten 20 Jahren des 19. Jahrhunderts eingeleitet wurde, veränderte die deutsche Volkswirtschaft allerdings erheblich. Es setzte ein rascher Strukturwandel ein, der zu einer Reduktion der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung führte. Allerdings wurde dieser durch eine bedeutende Produktionssteigerung kompensiert, was eine Folge der Tatsache war, dass die Hektarerträge zu den höchsten in der damaligen Welt gehörten. Trotz der Tatsache, dass die Produktion von Getreide auf Kosten von Fleisch, Milchprodukten und Zucker zurückging, fiel die Spezialisierung der deutschen Landwirtschaft weniger stark aus als in anderen Ländern wie Dänemark, Holland oder Großbritannien. Auch weiterhin existierte eine hohe Produktevielfalt im landwirtschaftlichen Bereich, was zwar mit hohen Kosten für die Konsumenten erkauft wurde, langfristig aber dazu führte, dass die britische Blockade während des Ersten Weltkrieges nicht die erhoffte Wirkung erzielen konnte. Die deutsche Industrie litt hingegen kaum unter den Wirkungen der protektionistischen Wirtschaftspolitik ihrer Regierung. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sie international am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr konkurrenzfähig war. Dies galt besonders für die neuen Branchen wie die chemische Industrie, die Farbenproduktion, die Elektroindustrie, den Maschinen- und Fahrzeugbau oder die optische Industrie. Eine wichtige Rolle spielte allerdings wohl auch, dass die Industrie in Deutschland von der Vereinheitlichung von Währung und Rechtswesen sowie von einem günstigen Umfeld (Rohstoffe, Bildungseinrichtungen, handelstechnisch günstige Lage in der Mitte Europas, Universalbanken, welche das Kapital im Land hielten) zu profitieren vermochte.
Politisch befand sich das Deutsche Reich seit seiner Gründung im Jahre 1871 in einer Schwebelage zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie (Fisch 2002, 88). Die Verfassung garantierte dem Kaiser formell eine starke Stellung, verfügte er doch über das alleinige Recht zur Ernennung und Entlassung von Reichskanzler und Reichsregierung. Zudem war er formell der Oberbefehlshaber der aus den Verbänden der Teilstaaten bestehenden deutschen Streitkräfte, deren Ausbildung und Ausrüstung durch die Existenz des so genannten Großen Generalstabes mehr und mehr vereinheitlicht wurde. Andererseits wurde durch die Verfassung von 1871 auch ein nach allgemeinem Wahlrecht für Männer ab 25 gewählte Reichstag bestimmt, der zusammen mit dem Bundesrat über die Gesetzesinitiative und mit einigen Einschränkungen vor allem bezüglich des Militärs das Recht zur Genehmigung des Haushaltes innehatte. Trotz der fehlenden formellen Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament war der Reichskanzler (und damit auch der Kaiser) de facto vom Reichstag abhängig. Das politische Geschick Bismarcks sowie die in den ersten Jahren seiner Herrschaft hohe Popularität von Kaiser Wilhelm II vermochten diese Situation vorerst zu kompensieren, in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Situation allerdings zusehends schwieriger, und zwar nicht zuletzt auf Grund der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft im Gefolge der oben beschriebenen raschen Industrialisierung des Landes. Innerhalb der herrschenden Eliten führte dies zu einer verstärkten Unruhe, was sich einerseits auf die noch zu beschreibenden Kriegspläne auswirken sollte, andererseits aber auch verschiedentlich dazu führte, dass Staatsstreichpläne geschmiedet wurden, deren Ziel die Beseitigung der demokratischen Elemente in der Reichsverfassung waren. Zu einer ernsthaften Umsetzung solcher Pläne kam es allerdings nie und die herrschenden Eliten verzichteten auch darauf, ihre Herrschaft durch Notstandsmaßnahmen zu sichern.
Die Außenpolitik des Deutschen Reiches war in der Zeit bis 1890 primär auf die Isolation Frankreichs ausgerichtet und blieb daher grundsätzlich zurückhaltend. Dies erwies sich auf Grund der stark divergierenden Interessen der übrigen Staaten und des zunehmenden wirtschaftlichen und demografischen Gewichts des eigenen Landes nicht als einfach. Nach einem anfänglichen komplizierten Taktieren zwischen Russland und Österreich-Ungarn gezwungen, entschied sich Bismarck 1879 für ein Bündnis mit dem als verlässlicher und gefügiger erscheinenden Österreich-Ungarn. Ergänzt wurde dieses Bündnis allerdings durch einen Rückversicherungsvertrag mit Russland sowie durch weitere Abkommen mit Italien und Rumänien. 1890 kam es unter Bismarcks Nachfolger Caprivi zum Bruch mit Russland, welches sich wiederum in den folgenden Jahren in mehreren Verträgen mit Frankreich verbündete. Das Deutsche Reich geriet damit in eine strategisch ungemütliche Situation, aus welcher es durch ein engeres Zusammengehen mit Großbritannien zu entkommen suchte. Dafür sollten besonders die britisch-russischen Gegensätze in Asien und die britisch-französischen Gegensätze in Afrika genutzt werden. Erschwert und schließlich unmöglich gemacht wurde die Annäherung an Großbritannien allerdings durch eine neue Tendenz, die im Deutschen Reich seit den neunziger Jahren aufkam, nämlich der Forderung nach einer so genannten Weltpolitik. Diese richtete sich gegen die Anerkennung der britischen Weltstellung und die Festlegung auf eine Position als Juniorpartner auf globaler Ebene. Es entstand schließlich eine Bewegung, die in einer breiten mittelständisch und national orientierten Öffentlichkeit große Unterstützung fand. Der Wandel erfolgte allerdings langsam. Immer wieder wären Kompromisse möglich gewesen, es gelang jedoch nicht, die zentralen Anstoßpunkte zu beseitigen. Dazu gehörte einerseits der von Admiral Alfred von Tirpitz seit 1898 mit großem Propagandaaufwand betriebene Schlachtflottenbau, der seinen Höhepunkt in der Dreadnoughtkrise von 1909 erreichte. Andererseits spielte die Rivalität der Mächte auf dem Balkan und in Afrika eine wichtige Rolle, so dass ein Ausgleich zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg nie zustande kam, während Analoges zwischen Frankreich und Großbritannien 1904 und zwischen Russland und Großbritannien 1907 gelang.
Zum direkten Auslöser des Krieges wurde diese Rivalität der Großmächte nicht wirklich, auch wenn sie deren Verhalten in der Julikrise sicherlich in einem gewissen Ausmaß beeinflusste. In Gang gesetzt wurde der Weltkrieg vielmehr auf dem Balkan, wo es seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zu Streitigkeiten um die reichsten und am meisten entwickelten Gebiete des Osmanischen Reiches kam. Schon Zeitgenossen sprachen deshalb vom kranken Mann am Bosporus, eine Bezeichnung die auf einen Ausspruch des russischen Zaren Nikolaus I zurückgehen soll. Die Ursachen für den Niedergang des Osmanischen Reiches werden von Historikerinnen und Historikern heute unterschiedlich beurteilt. Neben den imperialistischen Ambitionen der europäischen Großmächten und den nationalen Aspirationen von Bevölkerungsgruppen auf dem Balkan, die gemeinsame Werte, eine gemeinsame Kultur, Geschichte und teilweise Sprache zu entdecken glaubten, spielte sicherlich die Tatsache eine wichtige Rolle, dass die rechtliche Privilegierung von Muslimen mehr und mehr dem in Europa sich durchsetzenden Prinzip einer einheitlichen Staatsbürgergesellschaft zu widersprechen begann. Es war keineswegs so, dass die Herrscher und Politiker des Osmanischen Reiches sich mit der sich abzeichnenden Entwicklung abfanden. Vielmehr waren sie immer wieder bemüht, Allianzen mit denjenigen europäischen Mächten einzugehen, welchen am Erhalt eines bedeutenden Osmanischen Reiches gelegen war. Zudem wurden auch im Innern immer wieder Reformen durchgeführt, sei dies im Bereich des Militärs, der Verwaltung, des Rechts oder der politischen Organisation und Partizipation größerer Bevölkerungsteile. Viele dieser Reformen blieben allerdings Stückwerk. Trotz der mehrfachen Verkündigung gelangen weder die Einführung der Rechtsgleichheit aller Staatsangehörigen noch die Schaffung einer einheitlichen Staatsbürgergesellschaft, da sowohl die privilegierten Muslime als auch Teile der überwiegend christlichen und jüdischen Nichtmuslime eine solche Lösung ablehnten. Dabei spielten von den Großmächten unterstützte nationale Aspirationen eine nicht unwichtige Rolle. Es kam daher im Osmanischen Reich im Verlauf des 19. und auch noch zu Beginn des 20. Jahrhundert zu einer ganzen Reihe von Interventionen seitens der Großmächte. Auch im ökonomischen Bereich mischten sich die europäischen Staaten immer wieder ein. Den Höhepunkt bildete dabei der im Gefolge der weltweiten Wirtschaftskrise im Jahre 1879 verkündete Staatsbankrott. 1881 wurde deshalb die Administration de la Dette Publique Ottomane geschaffen, der ein Viertel bis ein Drittel der Staatseinnahmen direkt zufloss, um die Interessen der europäischen Gläubiger zu befriedigen. Dies erhöhte den Einfluss der europäischen Mächte auf das Osmanische Reich erheblich, garantierte aber andererseits eine geregelte Finanzverwaltung und vor allem den weiteren Zufluss ausländischen Kapitals in das Land. Damit wurde vor allem der Auf- und Ausbau der Eisenbahnlinien und der Häfen des Landes finanziert, was wiederum zu einem starken Wachstum des osmanischen Außenhandels führte. Profiteure waren dabei die Agrarproduzenten, während das traditionelle Handwerk unter dem nun vereinfacht möglichen Import billiger europäischer Industriewaren litt. In einzelnen Bereichen kam es trotz den von den europäischen Mächten bewusst niedrig gehaltenen