Die Urgeschichte Europas. Reinhard PohankaЧитать онлайн книгу.
rel="nofollow" href="#ulink_ade19b11-f35a-5759-a117-bbd009987ce1">10 Bonifey, E. et al.; Soleihac (Blanzac, Haute-Loire), nouveau site préhistorique du début du Pléistocène moyen, Bulletin de la Société préhistorique française. Études et travaux, 73 (1976), Nr. H-S pp. 293–304
11 Foley, Robert; Menschen vor Homo sapiens. Wie und warum unsere Art sich durchsetzte, Jan Thorbecke Verlag 2000
12 Sandars, N.K.; Prehistoric Art in Europe, Yale University Press 1995, S. 36
13 Thieme, Hartmut (Hrsg.); Die Schöninger Speere. Mensch und Jagd vor 400.000 Jahren. Ausstellungskatalog, Stuttgart 2007
14 Simmons, Alan; Mediterranean Island Voyages, Science 16 November 2012: Vol. 338 no. 6109, S. 895–897
15 Villa, Paola; Terra Amata and the Middle Pleistocene archaeological record of southern France, Berkeley, University of California Press 1983
4. DIE NEANDERTALER
(240.000–27.000 v. Chr.)
1856 wurden bei Neandertal in der Nähe von Düsseldorf in einer Kiesgrube menschliche Reste entdeckt, die sich deutlich vom Homo erectus und Homo erectus heidelbergensis, aber auch vom modernen Menschen unterschieden. Es stand bald außer Frage, dass das äußere Erscheinungsbild dieser als Homo neanderthalensis bezeichneten Spezies deutlich vom heutigen Menschen abwich.16 Ihr Schädelvolumen war größer als das des modernen Menschen, ebenso ihr Gesichtsschädel, sie besaßen kräftige Bögen über den Augen und eine robuste große Nase. Ein massiver Unterkiefer trug ein fliehendes Kinn, die Zähne waren größer und in U-Form angeordnet17, der Hals war kurz und kräftig, die Durchschnittsgröße scheint 160 cm nicht überstiegen zu haben. Der gesamte Körperbau des Neandertalers dürfte komplex und muskulös gewesen sein und ist zudem ideal an kaltes Klima angepasst.
Der für den Neandertaler typische Überaugenwulst war aber nicht bei Kindern von Neandertalern vorhanden, sondern nur bei erwachsenen Individuen, das Gebiss prägten schaufelförmige Schneidezähne. Sein anatomisch modernes Zungenbein erlaubte ihm theoretisch, eine eigenständige und differenzierte Sprache zu entwickeln. DNA-Analysen haben gezeigt, dass Homo neanderthalensis dasselbe Sprachgen FOXP2 wie Homo sapiens besessen hat. Bei DNA-Untersuchungen an Neandertalern aus der Höhle von El Sidrón und Monti Lessini konnte das MC1R-Gen (Melanocortin-1-Rezeptor) nachgewiesen werden. Dieses Gen hat einen wesentlichen Einfluss auf die Pigmentierung von Haut- und Haarfarbe. In Bezug auf den Neandertaler konnte festgestellt werden, dass zumindest die untersuchten Individuen eine helle Hautfarbe und rötliche Haare hatten.18
Im Vergleich zu anatomisch modernen Menschen brachen bei Neandertalern die Zähne etwas früher durch, damit könnten sie auch eher erwachsen gewesen sein als der moderne Mensch. Bei Neandertalerkindern bildeten sich die Zahnkronen des ersten Stockzahnes bereits mit 2,5 Jahren, bei modernen Menschen dagegen ist dies erst mit etwa drei Jahren der Fall, bei der Entwicklung des zweiten Stockzahnes waren sie sogar noch schneller. Dieser brach bereits bei einem achtjährigen Neandertalerkind hervor, bei modernen Menschen passiert das zwischen 10 und 12 Jahren. Daraus kann man schließen, dass Neandertaler rein körperlich früher ausgewachsen waren, was aber nicht zwangsläufig bedeutet, dass jugendliche Neandertaler innerhalb ihrer Gruppe auch in sozialer Hinsicht früher als erwachsen angesehen wurden.
Die Spezies des Neandertalers scheint sich etwa ab 240.000 v. Chr. aus dem Homo erectus heidelbergensis entwickelt zu haben19 und besiedelte Europa, West- und Zentralasien. Nach seiner Art der Steinbearbeitung wird dem Neandertaler die Moustérienkultur, benannt nach dem Fundort Le Moustiér in der Dordogne, zugeordnet. Lange Zeit hat man in ihm den direkten Vorfahren des modernen Menschen gesehen, die Tatsache, dass er in späterer Zeit gleichzeitig mit dem modernen Menschen gelebt hat, schließt diese Möglichkeit aus.
Obwohl die Entwicklung des Neandertalers in einer Warmzeit erfolgte, durchlebte er im Großteil seiner Existenz in Europa eine Eiszeit und musste und wusste sich an diese Verhältnisse perfekt anzupassen. Der Neandertaler war eine ökonomisch erfolgreiche Spezies, die in ihren Lebensumständen extrem flexibel gewesen sein muss, um mit den harten Umweltbedingungen im eiszeitlichen Europa fertigzuwerden.
Dabei half ihnen eine besondere Steinbearbeitungstechnik, die etwa ab 130.000 v. Chr. im Fundmaterial erscheint, die Levallois-Technik. Dabei wird ein geeigneter Stein an den Rändern und an der Oberfläche zugerichtet, darauf erzeugt man an einem Ende des Rohsteines eine senkrechte Schlagfläche. Schließlich wird ein großes Stück (Tortoise), das Endprodukt, vom rohen Stein abgeschlagen. So konnte das Rohmaterial besser genutzt werden, und von einem Ausgangsstein ließen sich mehrere Werkzeuge abschlagen. Mit Hilfe dieser Technik wurde es möglich, eine Reihe neuer Werkzeugtypen zu entwickeln, wobei besonders Schaber und Spitzen produziert wurden. Im Moustérien wurde diese Technik weiter verfeinert, die Werkzeuge erhielten scharfkantige, gezähnte schmale Ränder, die aus dem Stein herausgeschlagen wurden.
Innerhalb der Neandertalerpopulation lassen sich starke Unterschiede in der Anatomie feststellen. Besonders der europäische Neandertaler scheint sich an die Verhältnisse der Eiszeit ideal angepasst zu haben. Die große Nase zur Erwärmung der Luft und der kleine gedrungene Körperbau halfen ihm, um mit der Kälte und dem Wärmeverlust des Körpers besser fertigzuwerden.
Funde wurden längere Zeit dahingehend interpretiert, dass es sich beim Neandertaler um eine kannibalische Spezies gehandelt hat. Besonders die Funde von Männer-, Frauen- und Kinderknochen in der Höhle von Krapina, deren Schädel und Knochen zerschmettert und gespalten waren, wurden dafür als Hinweis gewertet.20
Beispiel dafür könnte auch der Schädel eines jungen Neandertalers aus Le Moustiér sein. Zuerst als liebevolle Bestattung gedeutet, stellte sich bei späteren Untersuchungen heraus, dass der Schädelknochen Spuren von Gewalt aufweist. Eine große Fraktur mit radiären und zirkulären Brüchen ist am rechten Scheitelbein erkennbar, ebenso ein Defekt über dem linken Auge. Hier wurde mit einem Schlag ein Knochenstück abgeschlagen, wobei der Schlag so stark war, dass dem Schädel ein weiterer Bruch zugefügt wurde, der sich über die Stirn erstreckt. Offenbar wurde dieses Individuum mit Schlägen auf den Kopf getötet. Ebenso sind die Ansatzstellen für den Halswendemuskel beschädigt, es fehlt der rechte Warzenfortsatz, und der linke ist teilweise abgebrochen. Von diesen Beobachtungen ausgehend ist eine vorsätzliche Enthauptung anzunehmen. Schnittspuren auf der Stirn und am Unterkiefer belegen eine Zerstückelung des Leichnams. Außerdem fehlt der linke Muskelfortsatz am Unterkiefer, der gewaltsam vom Schädel entfernt wurde.
Neandertaler lebten als mobile Jäger und Sammler im eiszeitlichen Europa. Vergleicht man die Größe von Fundplätzen des Homo neanderthalensis und die Anzahl an vorhandenen Feuerstellen zum Wärmen während des Schlafes mit den Lagerplätzen moderner Jäger- und Sammlergesellschaften, so ist davon auszugehen, dass Neandertaler sich in 12- bis 25-köpfigen Gruppen organisierten. Es wird dabei angenommen, dass es zu dieser Zeit bei der Jagd und beim Sammeln noch keine Geschlechterteilung gegeben hat und beide Geschlechter gleich an diesen Aktivitäten beteiligt waren. Die Hauptwaffen bei der Jagd waren Wurfspeere mit hölzernen oder steinernen Spitzen. Andere Jagdtechniken waren das Treiben von Großwild über Felsabhänge oder in Sümpfe, wo es leicht erlegt werden konnte. All dies setzt eine gute Koordination der Gruppe und Planung voraus. Auch Aas und Fisch dürfte der Neandertaler nicht verschmäht haben. Die regionalen und jahreszeitlichen Ressourcen wurden ausgebeutet, wobei in Europa durch das Leben des Neandertalers in der eiszeitlichen Kaltsteppe und Tundra der Anteil an pflanzlichen Lebensmitteln eher gering gewesen sein dürfte. Alle bisher durchgeführten Isotopenanalysen haben ergeben, dass auf dem Speiseplan an erster Stelle Fleisch von Säugetieren stand, dazu gehörten unter anderem Rothirsch, Pferd und Wollnashorn. Pflanzen machten nur einen geringen Anteil