Der kleine Fürst Staffel 14 – Adelsroman. Viola MaybachЧитать онлайн книгу.
nur den Kopf, drehte sich um und ging bereits auf den Ausgang zu, als sie noch dabei war, sich für die freundliche Auskunft zu bedanken. Sie musste rennen, um ihn wieder einzuholen. »He, was ist los mit dir?«, fragte sie.
»Nichts!«, brummte er, wohl wissend, dass er sich nicht gerade reif und souverän benahm, aber er konnte nicht anders, er war einfach wütend über die verpasste Gelegenheit.
»Die Frau hat dir gefallen«, stellte Lena sachlich fest, »und jetzt bist du sauer, weil ich dabei war und das vielleicht deine Chancen schmälert.«
Er blieb stehen und sah sie an. »Quatsch!«, sagte er. Es kam heftiger heraus als geplant.
»Warum bist du denn dann auf einmal so gereizt? Wir haben uns die ganze Zeit gut verstanden, und mit einem Mal tust du so, als hätte ich dir etwas getan. Sag’s mir, dann kann ich darauf reagieren. Aber einfach so sauer zu sein und dabei immer zu sagen: »Ich habe nichts, ich habe nichts, finde ich albern.«
Sie hatte es kaum gesagt, als er auch schon anfing, sich zu schämen, denn natürlich hatte sie vollkommen Recht. Er benahm sich wie ein verzogenes Kind, das seinen Willen nicht bekam. »Entschuldige bitte«, sagte er verlegen. »Ich hätte die Frau gern fotografiert, darum ging es mir. Normalerweise spreche ich Leute, die ich fotografieren möchte, einfach an, und ich hätte es auch bei ihr getan, aber irgendwie habe ich mich gehemmt gefühlt, weil du dabei warst. Das war aber nicht deine Schuld. Tut mir leid, ich habe mich blöd benommen.«
»Stimmt«, sagte sie freundlich, »und hättest du nicht so viel Zeit mit Ausflüchten vertrödelt, hättest du sie bestimmt noch auf dem Parkplatz erwischen können, aber jetzt ist es natürlich zu spät.«
»Ja«, bestätigte er bedauernd, »jetzt ist es zu spät.«
»Warte mal eben!«, sagte sie. »Vielleicht geht doch noch etwas.«
Sie lief zurück, er sah sie an die Tür des Büros klopfen, das die Frau mit dem Pferdeschwanz kurz zuvor verlassen hatte. »Du liebe Güte«, murmelte er, »was will sie denn da?«
Lena kam bald zurück, das Gesicht zum breitesten Lächeln verzogen, das er je gesehen hatte. »Sie heißt Caroline von Hessen und ist hier angestellt«, berichtete sie vergnügt. »Ab morgen ist sie mit einer Gruppe von Jugendlichen auf dem Urwaldsteig unterwegs. Es könnte also sein, dass wir ihr rein zufällig noch einmal begegnen.«
Er wusste nicht, was er sagen sollte, und so umarmte er Lena und küsste sie auf beide Wangen. »Danke«, sagte er. »Du bist unmöglich, aber ich danke dir. Und entschuldige bitte, dass ich so unfreundlich zu dir war.«
»Entschuldigung ist angenommen.«
Das gute Einvernehmen zwischen ihnen war damit wiederhergestellt.
*
Christian saß auf einem Fensterplatz im Bus. Zu Beginn der Fahrt war es laut und hektisch zugegangen, mittlerweile hatten sich die Schülerinnen und Schüler ein wenig beruhigt. Es war eine relativ lange Fahrt von Süddeutschland bis nach Nordhessen, und das gleichmäßige Brummen des Motors schläferte einige der jungen Fahrgäste ein.
Christian war nicht müde, im Gegenteil. Er hatte sich an diesem Morgen, bevor er aufgebrochen war, noch von seinen Eltern verabschiedet, was ihm schwergefallen war. Gerade jetzt, in dieser Krise, in die die Familie durch den Brief von Corinna Roeder geraten war, schien es ihm wichtig zu sein, das Band zwischen ihm und seinen Eltern nicht zerreißen zu lassen. Er wusste, dass manche ihn für verrückt erklärt hätten, hätte er so etwas laut gesagt, denn seine Eltern waren tot, und das war ihm bewusst. Dennoch glaubte er fest daran, dass sie nicht verschwunden waren, sondern seinen weiteren Lebensweg noch immer verfolgten, von wo aus auch immer.
Er glaubte außerdem, dass sie ihm kleine Zeichen schickten, mit denen sie ihm sagten, dass sie seine Berichte, die er ihnen in Gedanken schickte, gehört und verstanden hatten. Diese Zeichen hätte jemand anders vielleicht nicht einmal wahrgenommen – das Lied eines Vogels, ein Glühwürmchen, eine Sternschnuppe – doch für den kleinen Fürsten waren sie überlebenswichtige Hinweise darauf, dass er seine Eltern zwar nicht mehr sehen und hören konnte, dass sie aber trotzdem noch existierten, auch wenn er nicht wusste, wo und wie.
»Woran denkst du?«, fragte ihn Manuel Sander, der neben ihm saß. Er trug den Kopf voll hellbrauner Locken, sein Gesicht war von Sommersprossen übersät.
Christian mochte Manuel, der ein schüchterner Junge war, mit einem liebenswürdigen Lächeln. Und weil das so war, gab er ihm eine ehrliche Antwort. »An meine Eltern.«
»Dachte ich mir schon, du hast so ausgesehen«, erwiderte Manuel. »Ich glaube, mir geht es mit meinen Großeltern wie dir mit deinen Eltern. Ich vermisse sie ganz schrecklich, seit sie nicht mehr leben. Zu ihnen ist mein Verhältnis viel enger gewesen als zu meinen Eltern.«
Noch nie hatte Christian ihn so viele Sätze hintereinander sagen hören. »Wieso?«, fragte er.
»Weil ich bei meinen Großeltern aufgewachsen bin. Meine Eltern sind viel unterwegs, die haben keine Zeit, sich um mich zu kümmern. Und meine Großeltern waren noch ziemlich jung, die waren ganz begeistert, als ich zu ihnen gekommen bin.« Manuel lächelte traurig. »Ich glaube, sie haben mich ein bisschen verwöhnt, jedenfalls habe ich mich bei ihnen immer gefühlt wie im Paradies.«
»Und dann sind sie gestorben? Du hast doch gesagt, sie waren noch ziemlich jung.«
Wieder zeigte sich das traurige Lächeln auf Manuels Gesicht. »Sie haben Krebs bekommen, zuerst mein Opa, kurz darauf meine Oma. Innerhalb eines Jahres sind sie beide gestorben. Seitdem ist nichts mehr wie vorher. Ich lebe jetzt wieder bei meinen Eltern. Sie sind sehr lieb zu mir, aber …, na ja, sie haben einfach nie Zeit. Und weil ich so vernünftig bin, denken sie, dass sie mich ruhig alleinlassen können.«
»Das tut mir leid, Manuel, ich wusste davon nichts.«
»Konntest du ja auch nicht, ich rede eigentlich nie darüber. Aber jetzt dachte ich, dass es für dich vielleicht gut ist, wenn du hörst, dass andere auch Probleme haben. Ich meine, bei dir ist ja alles noch viel schlimmer, seit …, seit dieser neuen Geschichte.«
»Ja, das kann man wohl sagen.« Seltsamerweise war Christian froh, dass Manuel ›diese neue Geschichte‹ angesprochen hatte. Es war anstrengend, immer so zu tun, als sei alles, was ihm gerade passierte, ganz normal. »Danke, dass du mir von deinen Großeltern erzählt hast«, setzte er hinzu.
»Ich erinnere mich gern an sie«, sagte Manuel schüchtern, »und ich würde gern öfter über sie reden, ich weiß nur nicht, mit wem.«
»Mit mir, von jetzt an«, schlug Christian vor.
»Mein Opa war lustig«, sagte Manuel nach einer Weile. »Er hat gern Witze erzählt – oder eigentlich hat er sie vorgespielt, das konnte er wirklich gut. Wir haben oft Bauchschmerzen gekriegt vor lauter Lachen. Meine Oma hat er auch mit einem Witz herumgekriegt, jedenfalls hat sie das behauptet. Sie war nämlich eher ernst, aber er hat sie zum Lachen gebracht, und so konnte sie ihm nicht widerstehen.«
»Hast du Fotos von ihnen?«, fragte Christian.
Manuel nickte nur und zog eine Geldbörse aus der Hosentasche. Er klappte sie auf und zog aus einem Fach zwei Fotos, die er Christian schweigend reichte. »Das sind sie«, sagte er.
Christian sah auf beiden ein lächelndes älteres Paar, das sich einmal an den Händen hielt, auf dem anderen Bild hielt der Mann die Frau mit seinen Armen umschlungen. Man sah auf den ersten Blick, dass sie einander gut verstanden. »Und wo bist du?«, fragte er.
Verlegen holte Manuel noch ein drittes Foto aus seiner Geldbörse. »Hier«, sagte er.
Christian musste unwillkürlich lachen, denn auf dem Bild war Manuel etwa zehn Jahre alt und als Clown verkleidet. Seine Großeltern applaudierten ihm, offensichtlich begeistert von dem, was er ihnen gerade vorgeführt hatte. Es war ein Bild so vollkommener Harmonie, dass ihm das Lachen ganz plötzlich im Halse stecken blieb, weil er daran denken musste, dass es solche Momente früher auch für ihn gegeben hatte, gemeinsam mit seinen Eltern. Und heute gab es sie manchmal wieder, mit Anna oder mit der ganzen Familie,