Sophienlust Staffel 15 – Familienroman. Susanne SvanbergЧитать онлайн книгу.
alle müssen mithelfen, damit sie es bald wieder vergisst.«
»Sie darf mein Taschenmesser haben«, rief Henrik, das Nesthäkchen der Familie von Schoenecker, spontan und fasste schon in die Tasche. Für Henrik war der Besitz eines Taschenmessers zurzeit das größte Glück auf Erden. Dass er diesen Schatz bereitwillig abtreten wollte, zeugte von seiner Gutmütigkeit.
Lächelnd sah Denise auf ihren Jüngsten. Er war der lebendige Beweis ihrer glücklichen zweiten Ehe mit Alexander von Schoenecker. Ihr erster Mann war tödlich verunglückt, als Nick noch nicht einmal geboren war. Es war nicht allein der Schmerz um den Mann und Vater, es waren auch finanzielle Schwierigkeiten gewesen, die ihr das Leben damals schwer gemacht hatten. Dadurch war das Verständnis für das Leid anderer tief in ihr verwurzelt.
»Sie darf mit Anglos spielen.« Auch Fabian wollte nicht zurückstehen. Er bot seine schwarze Dogge an, die bei den Kindern sehr beliebt war.
»Ich …, ich schenke ihr meinen Ball«, verkündete Peter, obwohl er genau wusste, dass es ihm schwerfallen würde, sich von dem bunten Ball, den er zum Geburtstag bekommen hatte, zu trennen.
Nun schwirrten die Vorschläge nur so durcheinander. Jedes Kind wollte dazu beitragen, Anja wieder froh zu machen. Als kein Wort mehr zu verstehen war, hob Denise ruhegebietend beide Hände und sagte: »Es ist schon sehr viel getan, wenn wir alle sehr freundlich zu Anja sind. Keiner sollte über sie lachen, wenn sie zu sprechen versucht und es doch nicht kann. Wollt ihr mir das versprechen?«
»Ja, Tante Isi«, erscholl es im Chor, und Denise wusste, dass sie sich darauf verlassen konnte.
Nick, der für gewöhnlich einen beachtlichen Appetit entwickelte, hatte an diesem Morgen keinen Hunger mehr. Er ließ sein Butterhörnchen liegen, nahm seine Schulmappe, drückte seiner Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ging zu dem roten VW-Bus, der die Gymnasiasten zur Schule nach Maibach brachte. Die übrigen Kinder folgten seinem Beispiel. Erstaunlich rasch und leise wurde der Speisesaal an diesem Tag geräumt. Bald saßen nur noch die Kleinen vor den noch gefüllten Tassen.
»Schläft Anja noch?«, erkundigte sich die kleine Heidi.
»Nein. Sie hat Besuch von ihrer Tante.«
»Darf ich später mit ihr spielen?« Heidi legte das Köpfchen schief und knabberte am Zeigefinger, denn gerade war ihr eingefallen, dass es gar nicht leicht sein würde, mit Anja zu spielen, weil diese sich ja nicht mit ihr unterhalten konnte.
»Natürlich«, antwortete Denise. »Frau Dr. Frey meint, dass es am besten sei, wenn sich Anja ganz frei und ungezwungen bewegt. So wird sie am raschesten vergessen.«
»Ich bin auch ganz, ganz lieb zu ihr«, versprach Heidi.
»Gut. Ich gehe jetzt zu unserem Besuch. Seid schön artig. Schwester Regine wird gleich hier sein.«
Die Kleinen nickten eifrig. Frau Rennert hatte ihnen bereits gesagt, dass Schwester Regine in dieser Nacht kaum Schlaf gefunden hatte, weil sie die kleine Anja getröstet hatte. Als Frau Dr. Frey gegangen war, hatte Anja unaufhaltsam geweint. So sehr, dass Schwester Regine sie wie ein Baby in die Arme genommen und herumgetragen hatte. Es war verständlich, dass die Kinderschwester deshalb heute etwas später kam.
*
Im Biedermeierzimmer saß Frau Rennert Grit Möllendiek und deren Bräutigam gegenüber. Grit hielt die kleine Anja auf dem Schoß, die aber von ihr keinerlei Notiz nahm. Obwohl Grit liebevoll auf sie einsprach, hob Anja nicht einmal den Kopf. Lautlos liefen die Tränen aus ihren schönen dunklen Augen und tropften auf den hellen Pulli, den sie trug.
»Wir haben schon gedacht, dass Anja vielleicht gar kein Deutsch versteht«, meinte Frau Rennert gerade.
»Doch, doch«, erwiderte Grit. »Anjas Mutti war Deutsche. Deshalb sprach man in der Familie meines Bruders ausschließlich Deutsch.«
Denise von Schoenecker, die das Paar schon zuvor begrüßt hatte, erbot sich, Anja zu den anderen Kindern zu bringen.
Grit Möllendiek zögerte, doch schließlich war sie damit einverstanden. Denn das, was zu besprechen war, sollte die kleine Anja besser nicht hören.
»Ich glaube, sie hat mich kaum erkannt«, meinte Grit erschüttert.
»Das ist bei ihrem Zustand kein Wunder«, warf David Danner gelassen ein. »Sie lebt in einer selbstgebastelten Isolierung und nimmt ihre Umwelt überhaupt nicht mehr wahr.«
»Aber es muss doch etwas geschehen! Warum ist denn kein Arzt hier? Warum hat man Anja nicht sofort in eine Klinik überwiesen?« Grit sah Frau Rennert vorwurfsvoll an. In ihrer Erregung wurde ihr nicht bewusst, dass in Sophienlust alles für das Kind getan wurde, was möglich war.
»Anja wurde selbstverständlich sofort ärztlich untersucht. Frau Dr. Frey, die unsere Kinder betreut, ist nicht nur eine hervorragende Ärztin, sondern auch eine gute Pädagogin und Mutter. Wir dürfen ihr daher voll vertrauen«, meinte Denise sachlich. »Sie meint, dass Anja hier, in der Gesellschaft von anderen Kindern, den Schock am raschesten überwinden wird.«
»Wenn Sie mich fragen, dann muss ich Ihnen sagen, dass es keine Besserung geben wird. Weder jetzt noch später«, meinte David Danner achselzuckend. »Das Kind wird ein Pflegefall bleiben. Das ist ganz klar.«
Grit überhörte die düsteren Prognosen ihres Verlobten. »Ich wollte Anja mitnehmen«, erklärte sie und sah Frau von Schoenecker fragend an. Als sie vor knapp einer Stunde in Sophienlust eingetroffen war, hatte sie nicht geahnt, was sie hier erwartete. Anjas Zustand war für sie niederschmetternd. Ihre Nerven rebellierten. Sie weinte schon wieder. »Sie gehört doch zu mir, ich bin doch ihre Tante.«
»Bitte, Frau Möllendiek, haben Sie etwas Geduld. Ich verstehe Ihren Schmerz und Ihre Enttäuschung. Wenn wir Anja hierbehalten wollen, dann doch nur, um dem Kind zu helfen.«
Denises Stimme hatte so sanft und gütig geklungen, dass sogar David Danner überrascht aufgehorcht hatte. »Das ist für Anja bestimmt das Beste«, mischte er sich ein. Pflichtschuldig fasste er nach Grits Hand und drückte sie tröstend.
»Sie können gern den Tag über hierbleiben«, schlug Denise den Gästen vor. »Und natürlich können Sie jederzeit wiederkommen, um Anja zu besuchen.«
David Danner schnitt eine Grimasse. Doch als er merkte, dass Grit von diesem Vorschlag begeistert war, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich höflich für die Einladung zu bedanken.
*
»Ausgerechnet Farka und Florina! Meine beiden besten Stuten!« Alexander von Schoenecker hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. »Es muss ein Kenner gewesen sein, der sie gestohlen hat.«
»Gestohlen?« Nick, der über seinem Lateinbuch gesessen hatte, war sofort auf den Beinen. »Das gibt es doch nicht.«
Nick war ein bildhübscher Junge, der seiner Mutter sehr ähnlich war. Vielleicht mochte Alexander seinen Stiefsohn deshalb so gern. Jedenfalls verstanden die beiden sich vortrefflich, sodass sie längst vergessen hatten, dass es eigentlich kein direktes Verwandtschaftsverhältnis zwischen ihnen gab.
»Leider doch.« Schwer ließ sich Alexander auf dem ledergepolsterten Sessel nieder. Er streifte die schmutzigen Stiefel von den Füßen und dachte ausnahmsweise einmal nicht daran, dass Gusti, das Hausmädchen, sehr ungehalten sein würde, wenn sie die Lehm- und Erdspuren auf dem Teppich entdecken würde.
»Unsere Pferde hat man geklaut?« Nick griff sich an den Kopf. Wieder war eine steile Falte über seiner Nasenwurzel.
»Es gibt keine andere Erklärung«, gab Alexander mit begreiflicher Verärgerung zu. Die beiden Stuten bedeuteten für ihn einen empfindlichen materiellen Verlust. »Ich habe mit unseren Leuten das ganze Gebiet abgesucht. Es ist unmöglich, dass sie ausgebrochen sind.«
»Vati, du musst sofort die Polizei verständigen«, rief Nick atemlos. Sehr genau wusste er, dass sein Vater in mühevoller Kleinarbeit eine Lipizzaner-Zucht aufgebaut hatte, die einmalig in Deutschland war. Farka und Florina waren die beiden Stuten, die zur Zucht verwendet werden und dem Gut eine Menge einbringen sollten.