Sophienlust Staffel 15 – Familienroman. Susanne SvanbergЧитать онлайн книгу.
spiegelte, das mehr Schlimmes erlebt hatte, als es ertragen konnte.
Keuchend rang Anja mit weit offenem Mund nach Luft. Sie stürzte sich, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, in Denises Arme und klammerte sich so wild und angstvoll an die schöne junge Frau, als befürchte sie, gewaltsam von ihr wieder getrennt zu werden.
»Anja, um Gottes willen«, entfuhr es Denise. »Was ist nur geschehen?« Beruhigend drückte sie das Kind an sich, umarmte es voll Zärtlichkeit. Sie fühlte das Zittern des kleinen Körpers, hörte das keuchende, stoßweise Luftholen und ahnte, dass dem Kind etwas Schlimmes widerfahren war. Doch das würde vielleicht nie geklärt werden können. Anja konnte ja nicht den geringsten Hinweis geben.
»Schon gut, mein Kleines. Du bist hier bei uns, und alles ist wieder in Ordnung. Niemand wird dir etwas tun, Anja.« Denise streichelte unaufhörlich das weinende Kind.
Lautlos liefen die Tränen über Anjas Gesichtchen. Gerade jetzt hätte sie so unheimlich viel zu erzählen gehabt, doch sie konnte sich nicht verständlich machen. Sie wollte von ihrem Sturz über den steilen Abhang erzählen, durch den sie einige Sekunden lang bewusstlos gewesen war. Doch das hatte sie in ihrer Aufregung überhaupt nicht registriert. Als sie wieder zu sich gekommen war, war sie sofort weitergerannt. Erst am Portal von Sophienlust hatte sie sich blitzschnell umgedreht. Der Mann war nicht mehr hinter ihr gewesen, doch sicher würde er gleich nachkommen.
Noch inniger presste sich Anja an Denise von Schoenecker. Zu ihr hatte sie Vertrauen, bei ihr wusste sie sich beschützt und behütet. Welche Erleichterung hätte es für sie bedeutet, der mütterlichen Frau das grässliche Erlebnis zu schildern. Anja probierte es. Sie bewegte die Lippen, machte Zeichen dazu. Doch sie war viel zu aufgeregt, um mit diesen fahrigen Bewegungen etwas andeuten zu können.
»War es ein Tier oder war es ein Mensch, der dich erschreckt hat?«, fragte Denise mitleidig.
Anja schüttelte heftig den Kopf. Denn gerade erinnerte sie sich daran, dass der Mann ihr gedroht hatte. Sie durfte nichts verraten, weil er sonst die großen harten Hände um ihren Hals legen und erbarmungslos zudrücken würde.
Das kleine Mädchen zuckte wie im Krampf.
»Hab keine Angst mehr«, flüsterte Denise tröstend. »Wir lassen nicht zu, dass dir jemand etwas tut, Anja. Du kannst ganz ruhig sein.« Während Denise das Kind in ihrem Arm liebkoste, wählte sie mit der freien Hand die Nummer der Hausärztin. »Frau Dr. Frey wird deine Arme und Beine verbinden und dir etwas geben, damit du dich wieder beruhigst«, erläuterte sie sanft. »Sie heißt auch Anja, genau wie du.«
Natürlich würde sie später, wenn Anja versorgt sein würde, sofort Nachforschungen darüber anstellen, was ihren kleinen Schützling so verstört hatte. Gab es jemanden, der daran interessiert war, dem unschuldigen Kind noch mehr Angst einzujagen, als es ohnehin schon hatte? Wer war das, und warum tat er es?
Denise atmete schwer, denn sie ahnte, dass es fast unmöglich sein würde, Antwort auf alle diese Fragen zu finden. Derjenige, der Anja so maßlos erschreckt hatte, musste wissen, dass sie nicht sprechen konnte. Doch was wollte er mit seiner Gemeinheit bezwecken?
Frau Dr. Frey meldete sich, und Denise bat die Ärztin, so bald wie möglich nach Sophienlust zu kommen.
»Jetzt kann gar nichts mehr schiefgehen«, flüsterte sie dem Kind zu, das jetzt müde und entspannt in ihren Armen lag. Dann schloss es erschöpft die Augen.
Denise setzte sich mit Anja in den großen bequemen Sessel am Fenster und beobachtete das Kind sorgenvoll. Anja war vor Erschöpfung eingeschlafen. Wie gern wollte sie dem bedauernswerten Mädchen helfen. Doch was konnte sie tun? Die Hoffnung der Ärztin, dass Anjas Fähigkeit zu sprechen zurückkehren würde, hatte sich zerschlagen. Oder war es dafür noch zu früh?
*
Hans Strasser summte leise vor sich hin, während er ein hübsches Kleidchen und einige Süßigkeiten in ein buntes Papier einschlug.
»Bist du fertig?« Marina betrat ungeniert die Junggesellenwohnung. Sie hatte den Vormittag beim Friseur, bei der Massage und im Schönheitssalon verbracht und sah in dem neuen modischen Sommerrock und der farblich dazu passenden Bluse überraschend gut aus.
Hans war jedoch so sehr mit seinem Päckchen beschäftigt, dass er das überhaupt nicht bemerkte. »Wir fahren noch rasch nach Sophienlust«, rief er Marina über die Schulter zu.
»Das darf doch nicht dein Ernst sein!«
»Es wird uns nur einige Minuten aufhalten.« Hans lächelte vergnügt. »Ich habe eine kleine Überraschung für Anja. Und ich möchte ihr Gesichtchen sehen, wenn sie auspackt.«
»Ich aber nicht«, erwiderte Marina kalt. »Ich möchte pünktlich bei der Modenschau sein. Du hast mir auch versprochen, dass …«
Hans nahm das Mädchen zärtlich in den Arm. »Wir werden pünktlich sein«, versprach er fröhlich.
»Hast du überhaupt schon bemerkt, dass …« Marina lehnte sich an ihn und sah ihn lauernd an.
»O ja, du hast ein neues Parfüm!« Hans kam sich reichlich dumm vor. Eigentlich waren seine Gefühle für Marina längst abgekühlt. Trotzdem ging er weiter mit ihr aus. Er war einfach zu gutmütig, um ihr zu sagen, dass er seine Absicht, Marina zu heiraten, aufgegeben hatte.
»Stimmt ja gar nicht«, empörte sich die rotblonde junge Dame. »Ich habe ein neues Make-up, eine neue Frisur, neue Kleider und neue Schuhe. Aber du bist zu dumm, um das zu sehen.« Marina war wütend. Niemals würde sie verraten, dass sie, wenn Hans Dienst hatte, mit dem flotten Dieter verabredet war. Er interessierte sich weniger für so kleine Mädchen wie Anja, dafür aber umso mehr für größere.
»Entschuldige«, sagte Hans verwirrt. Tatsächlich war ihm Marinas Eitelkeit schon so zuwider, dass er die junge Dame kaum ansehen mochte.
»Du magst mich eben nicht mehr«, meinte das Mädchen und hatte dabei den Wunsch, genau das Gegenteil zu hören. Trotz des Flirts mit dem flotten Dieter wollte es den treuen, zuverlässigen Hans auf keinen Fall aufgeben. Bei ihm war Sicherheit. Außerdem war er so gutmütig, dass er ihr die Liebelei mit dem anderen sicher gönnte.
Hans Strasser fühlte den Stich in seiner Brust recht deutlich. Das war die Gelegenheit, Marina zu erklären, dass sie nicht zusammenpassten und dass es besser war, wenn künftig jeder seiner eigenen Wege ging. Doch wieder einmal war er, der in seinem Beruf so tüchtig und unerschrocken war, zu feige. Er sah die hellen Augen des Mädchens erwartungsvoll auf sich gerichtet und brachte es einfach nicht fertig, Marina so hart zu enttäuschen.
»Du bist immer so schick, dass eine Steigerung einfach nicht möglich ist. Und deshalb fällt sie auch nicht so auf«, sagte er und machte sich rasch an seinem Paket zu schaffen. Marina jetzt anzusehen, wäre ihm sehr peinlich gewesen.
»Mit anderen Worten, ich gefalle dir«, freute sich die junge Dame.
»Hm.«
»Wir müssen uns beeilen.« Marina griff nach ihrer modischen Tasche, und Hans ging gehorsam hinter ihr zum Auto. Es war schon düster, als die beiden in Sophienlust eintrafen. Der Park lag ruhig und verlassen. Auch auf dem Spielplatz war kein Kind mehr.
»Ich werde rasch ins Haus gehen«, sagte Hans und griff nach seinem Päckchen.
»Und ich komme mit, damit du dich nicht zu lange aufhältst.« Marina stieg ebenfalls aus.
Von Frau Rennert erfuhr das Paar, dass sich Anja verletzt und Frau Dr. Frey ihr ein Beruhigungsmittel gegeben hatte.
Hans eilte die Treppe hoch und lief zu den Schlafzimmern. Recht genau wusste er, wo das kleine Mädchen zu finden war.
Anja lag in ihrem Bettchen, hatte Stupsi, den zottigen Teddy, im Arm und sah zweifelnd auf die vielen Herrlichkeiten, die ihr die Kameraden geschenkt hatten und die jetzt auf ihrem Nachttisch lagen. Da gab es Spielsachen, Bücher und Blumen. Pünktchen hatte ihr sogar eine Perlenkette geschenkt, die sie selbst geknüpft hatte.
Obwohl die Kinder von Sophienlust den Grund für Anjas Verbleiben im Bett nicht kannten, hatten sie