Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 1 – Familienroman. Karina KaiserЧитать онлайн книгу.
ins Freie zu flüchten.
In den Gesichtern der Leute, die sich über das tragische Ereignis unterhielten, war das blanke Entsetzen deutlich zu erkennen. Auch Nick hatte Probleme, das Geschehnis zu begreifen, und spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Ebenso wie all die anderen Anwesenden kannte er die Schausteller nicht, und doch war er von dem traurigen Ereignis zutiefst betroffen. Besonders der Gedanke an das kleine Mädchen belastete ihn sehr.
Nick hatte gelernt, ein besonderes Mitgefühl mit Kindern zu entwickeln. Solange er denken konnte, hatten Kinder in seinem Leben durch Sophienlust immer eine Hauptrolle gespielt. Für ihn waren sie besonders schützenswert, weil sie sich oft nicht allein helfen konnten. Für dieses kleine Mädchen, das dem Brand zum Opfer gefallen war, war niemand zur Stelle gewesen, als es dringend Hilfe benötigte. Wahrscheinlich hatten die Kollegen der Schaustellerfamilie das Feuer erst viel zu spät bemerkt und konnten nicht mehr rechtzeitig eingreifen.
Nick fragte sich, wie alt dieses Kind wohl gewesen sein mochte, wie es ausgesehen und welche Vorlieben und Hobbys es gehabt hatte. Gleichzeitig wollte er aber auch gar nicht darüber nachdenken. Hier waren zwei Menschen und ein unschuldiges, chancenloses Kind gestorben, ein junger Mensch, dessen Leben gerade erst begonnen hatte. Diese Erkenntnis erschien Nick einfach unerträglich. Er hatte schon eine Menge Kinderleid erlebt. Aber bis jetzt war es eigentlich immer gelungen, die Dinge zum Guten zu wenden. Einen Todesfall hatte es noch nicht gegeben. Jedenfalls konnte Nick sich daran nicht erinnern. Er fühlte sich so schlecht wie kaum jemals zuvor, als er das große Geschäft verließ und zu dem nah gelegenen Parkplatz wanderte, auf dem er sein Auto abgestellt hatte. Alle Einkäufe hatte er erledigt und sich vor ein paar Minuten noch gefreut, nun nach Sophienlust fahren und dort verkünden zu können, dass er alle Dinge, die auf der Liste gestanden hatten, bekommen hatte. Das erschien ihm jetzt auf einmal überhaupt nicht mehr so wichtig. Er wünschte sich sogar, gar nicht erst nach Maibach gefahren zu sein. Das hätte zwar nichts an den Tatsachen geändert, aber er hätte von dem Unglück nicht alles so hautnah und direkt erfahren. Es wäre ein bisschen einfacher gewesen, am nächsten Tag davon in der Zeitung zu lesen. Das wäre zwar auch bedrückend gewesen, aber doch vielleicht nicht ganz so schlimm, wie er die Sache jetzt erlebt hatte.
Auf dem Weg zum Parkplatz tauchte vor seinen Augen immer wieder das Bild eines in Flammen stehenden Wohnwagens auf. Energisch wehrte sich der Achtzehnjährige dagegen, konnte diese Vision aber einfach nicht abschütteln.
*
Zur frühen Morgenstunde war die sieben Jahre alte Romina Castello aus dem Schlaf gerissen worden. Lärm und laute Stimmen hatten sie geweckt. Dazu bellte auch noch Fabio, ihr Colliemischling, unablässig. Verschlafen rieb sich das Mädchen die Augen.
»Was ist denn los, Fabio? Warum bellst du so furchtbar, und warum schreien da draußen die Leute? Es ist doch noch ganz früh? Wieso schlafen nicht alle noch?«
Kaum hatte Romina diese Fragen gestellt, als die Tür geöffnet wurde und ihre um ein Jahr ältere Freundin Vanessa erschien.
»Romina, es brennt«, erklärte die Achtjährige aufgeregt. »Ich weiß noch nicht wo, aber alle sind hingelaufen und wollen löschen. Die Feuerwehr ist auch schon unterwegs. Mein Vater hat sie gerufen.«
Romina erinnerte sich daran, dass es vor ein paar Wochen auf dem Autoscooter einen kleinen Brand gegeben hatte, der durch einen Kurzschluss entstanden war. Niemandem war dabei etwas passiert, und das Feuer konnte rasch gelöscht werden.
»Das ist bestimmt wieder so ein komisches Ding, so ein kurzer Schluss«, meinte die Siebenjährige. »Das ist nicht so schlimm. Du brauchst keine Angst zu haben. Uns kann nichts passieren. Aber ich gehe einmal nachsehen.«
Im Gegensatz zu Romina galt Vanessa als sehr zurückhaltend und manchmal auch etwas ängstlich. Sie blieb auch jetzt lieber im geschützten Wohnwagen, während ihre Freundin mit Fabio nach draußen ging, um sich näher über die Ereignisse zu informieren.
Romina eilte in die Richtung, aus der die aufgeregten Stimmen zu hören waren. Sie spürte keine Angst und war sogar relativ neugierig. Dann aber blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen und starrte auf das Bild, das sich ihr bot. Es war nicht der Autoscooter, der Probleme bereitete. Aus einem Wohnwagen schlugen lodernde Flammen, und das Mädchen hörte eine Frau entsetzt rufen: »Mein Gott, die Löschversuche helfen nicht! Da kommt niemand mehr lebend heraus. Wir haben überhaupt keine Chance.«
In der Aufregung und auf die anstrengenden Löschversuche konzentriert, achtete niemand auf das kleine Mädchen und seinen Hund.
Romina starrte in die Flammen. Der Satz, den die Frau eben gesagt hatte, hämmerte in ihrem Kopf. Sie konnte und wollte die Situation nicht begreifen. In der Ferne waren schon die Martinshörner der herbeieilenden Feuerwehr zu hören, als sich die Siebenjährige abwandte und in Panik davonlief. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie wollte. Ziellos rannte sie einfach geradeaus. Der treue Fabio hielt sich dabei immer an ihrer Seite auf.
Romina konnte nicht sagen, wie lange sie gelaufen war und wo sie sich jetzt befand. Sie kannte sich in Maibach nicht aus. Fast alle Städte waren ihr fremd, weil sie sich mit ihren Eltern stets nur für kurze Zeit dort aufhielt und anschließend an einen anderen Ort reiste. Völlig außer Atem erreichte das kleine Mädchen eine Grünanlage und ließ sich auf der schmalen Begrenzungsmauer nieder. Fabio setzte sich neben das Kind und stieß es mit seiner feuchten Nase tröstend an. Rominas Hände griffen in das weiche Fell des Hundes.
»Fabio, ich verstehe das alles nicht. Ist das alles nur ein schlimmer Traum? Dann will ich endlich aufwachen und sehen, dass ich nur geträumt habe. Es kann doch nicht einfach so alles verbrennen. Nein, das muss ein Traum sein, ein ganz furchtbarer Traum. Kannst du mich mal ein bisschen beißen, damit ich aufwache?«
Der Colliemischling dachte gar nicht daran, Romina zu beißen, auch nicht ein kleines bisschen. Die Siebenjährige schaute sich um. Sie entdeckte Autos, die auf der Straße fuhren, und sah in der Ferne Leute, die auf dem Weg zur Arbeit waren oder Einkäufe erledigen wollten. In diesem Moment wurde Romina klar, dass sie keineswegs träumte. Was sie erlebt hatte, war tatsächlich geschehen. Wieder wurde das kleine Mädchen von hilfloser Panik ergriffen. Sie kroch zwischen zwei große Gehölze der Grünanlage, vergrub Gesicht in Fabios Fell und begann hemmungslos zu weinen.
*
Nick hatte sein Fahrzeug erreicht und war eingestiegen. Im Augenblick fühlte er sich jedoch noch nicht in der Lage, den Motor zu starten. Noch immer war er viel zu ergriffen von dem Unglück, das sich an diesem Tag auf dem Maibacher Kirmesplatz ereignet hatte. Kirmes, das war für ihn stets ein Begriff von Heiterkeit und vergnügten Stunden gewesen und kein Ort, den man mit einer Katastrophe in Verbindung brachte. Doch genau so eine Katastrophe war jetzt eingetreten, und keine Macht der Welt konnte sie ungeschehen machen.
Der Blick des Achtzehnjährigen fiel auf die Grünanlage, die den Parkplatz begrenzte. Was war denn das? Hatte sich da nicht gerade etwas zwischen den Sträuchern bewegt? Ein Kaninchen konnte es nicht sein. Dazu war die Bewegung zu heftig gewesen. Nick schaute genauer hin und erkannte, dass er sich nicht getäuscht hatte.
Da war tatsächlich etwas, und dieses Etwas sah aus wie ein Kind. Außerdem schien auch noch ein Hund dort im Gebüsch zu stecken. Das war absolut nicht normal. Nick stieg aus, um sich die Sache genauer anzusehen und entdeckte auch schon bald ein weinendes kleines Mädchen und einen Hund, der stark an einen Collie erinnerte.
Ein wenig misstrauisch beobachtete der Hund den jungen Mann, als dieser sich auf der Mauer niederließ. Dieses Misstrauen verlor sich allerdings sofort, als Nick dem Hund sanft mit der Hand durch das Fell fuhr.
»Keine Angst, ich tue deiner Freundin nichts Böses«, beruhigte er das Tier und wandte sich an das kleine Mädchen: »Was ist denn passiert? Hast du dich verlaufen und findest jetzt nicht mehr nach Hause? Wenn das so ist, brauchst du nicht zu weinen. Das bekommen wir zusammen schon hin, und dann bist du ganz bald wieder zu Hause.«
»Zu Hause?« Romina starrte Nick mit einem Blick an, der alles Leid der Welt ausdrückte. »Ich habe kein Zuhause mehr. Es ist weg, einfach weg. Alles ist weg. Gestern war es noch da, aber heute nicht mehr.«
Der Achtzehnjährige wusste nicht,