Bei abnehmendem Mond. Jörg M. PönnighausЧитать онлайн книгу.
Tag. Entlassung.
Nachtrag: Irgendeine Beziehung zwischen meinen chirurgischen Kenntnissen und dem OP-Ergebnis bei Deogratias sehe ich nicht. Ein Zusammenhang wäre rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.
Rheinfall bei Schaffhausen
[29. August 2006]
Die Geschichte ist schon lange her. Aber manche Geschichten vergisst man eben nicht. Während andere langsam aber sicher immer tiefer versinken und man irgendwann nichts mehr von ihnen weiß. Oder sie höchstens noch einmal wie Sumpfblasen aufsteigen.
Jedenfalls wurde uns das Baby vom staatlichen Gesundheitsposten in Mtimbira geschickt. Mit Verdacht auf eine Pylorusstenose. Eine Pylorushypertrophie, wie sie bei Säuglingen aus unbekannter Ursache entstehen kann. In Mtimbira gibt es ja ein paar vernünftige Leute: Matson und auch seine Frau Anita, die in Lugala gearbeitet haben, bevor sie sich vom Distriktarzt für Mtimbira abwerben ließen.
Ich musste natürlich erst einmal im Buch nachschauen, was man bei einer Pylorusstenose machen muss. Die Symptome waren eindeutig: der Säugling fängt nach zwei oder drei Wochen an, alles zu erbrechen. Saugt mit Heißhunger und erbricht die Milch dann wieder. In meinem chirurgischen Kochbuch war genau beschrieben, was man machen muss, nämlich die Pylorusmuskulatur durchtrennen bis hinunter zur Submukosa. Und dann stand da auch, was man machen muss, wenn man zu tief schneidet oder aus Versehen das Duodenum, den Zwölffingerdarm, eröffnet. So ganz einfach konnte es also doch nicht sein, nicht zu wenig und nicht zu viel zu schneiden.
Aber das größere Problem schien mir die Anästhesie zu sein. Ich hatte ein paar Monate zuvor schon einmal einen wenige Tage alten Säugling operiert. Mit einer Darmatresie. Ich hatte damals eine End-zu-Seiten Anastomose angelegt, weil sich der aufgeblähte Darm vor der Atresie ja nicht mit dem winzigen Darm hinter der Atresie End-zu-End verbinden ließ. Ich war ganz zufrieden mit meinem Ergebnis gewesen, aber dann war der Säugling nie aus der Narkose aufgewacht. Und außerdem hatte mich ein Kollege später gefragt, ob ich noch weitere Atresien gefunden hätte. Die träten doch meist multiple auf. Das hatte ich nicht gewusst, musste ich etwas kleinlaut zugeben. Das hatte mein Buch nicht erwähnt. Insofern war meine Operation wahrscheinlich eh unzureichend gewesen. Aber das Baby war ja nicht aufgewacht aus der Narkose. Freilich, das Baby damals war schon in einem sehr schlechten Allgemeinzustand gewesen, dieses dagegen sah ja noch ganz munter aus.
Ich sagte den Eltern also, dass wir, so sie das wollten, ihr Kind operieren könnten. Eine andere Behandlung gebe es nicht. Ohne Operation würde ihr Baby auf alle Fälle sterben. Mit Operation gebe es vielleicht eine 50-prozentige Chance, dass alles gut werden würde. Also wenn sie wollten …
Die Eltern wollten. Es war ihr erstes Kind, sie waren noch jung. Ich hatte es nicht anders erwartet. Es gibt ja Eltern, denen man sofort ansieht, dass sie ihr krankes Kind lieb haben. Als ich neulich ein Kind nach Dar es Salaam für eine Operation schicken wollte, lehnte der Vater das rundweg ab. Das Kind war ihm den Aufwand offensichtlich nicht wert.
Gestern hatte ich auch so ein merkwürdiges Erlebnis: Ich fuhr mit Lottchen in unserem aufblasbaren Kanu fünf Stunden den Furua hinunter und da saßen doch tatsächlich an einer Stelle ein junger Vater und seine Frau mit ihren beiden Kindern am Wasser und spielten mit ihnen. Spielten einfach mit ihnen. Einfach so.
Wogegen man oft froh sein muss, wenn ein Vater wenigstens den Namen seines Kindes weiß; vom Geburtsjahr ganz zu schweigen.
Na ja, ich machte mich also schweren Herzens an die Operation. Der Pylorus war wirklich hypertrophiert, genau so, wie ich es erwartet hatte. Vorsichtig schnitt ich durch die Muskulatur. Vorsichtig immer tiefer, bis schließlich die Submukosa hervorquoll. Die Muskulatur soll man ja hinterher nicht wieder vernähen. Ich war also fertig. Musste nur noch den Bauch wieder zunähen. So schnell ging das. So einfach war das.
Ich sagte hinterher zu Mtandi, es solle die Nacht am Bett von dem Kleinen (ich weiß nicht mehr, ob es ein Mädchen oder ein Junge war) verbringen, bis es ganz aufgewacht sei. Es wäre ja doch sehr schade gewesen, wenn die Operation umsonst gewesen wäre.
Am anderen Morgen lebte der Säugling noch. Mtandi erzählte mir, es habe zwei Mal in der Nacht einen Atemstillstand gehabt. Aber nach einer Weile Beatmen habe es sich jeweils wieder erholt. Ich dankte ihm.
Tja, und am nächsten Tag saugte es schon wieder kräftig. Und erbrach nicht mehr. Und saugte und saugte, als wolle es in wenigen Stunden nachholen, was es in den Tagen vor der Operation versäumt hatte. Die Mutter war ganz glücklich.
Und ich kam mir vor wie jener Schiffer auf dem Rhein, der im Schlaf unbeschadet den Rheinfall bei Schaffhausen passierte. Aber bitte nicht noch einmal so ein Baby, dachte ich, im Gegensatz zu ihm.
Gegenzauber
[29. August 2006]
Mit den Verwaltungsstrukturen hier kenne ich mich kaum aus. Gelegentlich bekomme ich ein Bittschreiben von irgendeiner Behörde, dass das Krankenhaus diese oder jene Feierlichkeit mit soundso viel Geld unterstützen solle. Darauf antworte ich aber nie. Der höchste Verwaltungsbeamte scheint der divisional secretary zu sein, den ich hin und wieder mal irgendwo sehe. Er kann recht gut Englisch. Neulich kam er sogar ins Krankenhaus, um mich unter vier Augen zu sprechen. Ich dachte, er wolle mir vermutlich wegen irgendetwas die Leviten lesen. Mir wollte aber durchaus nicht einfallen, was ich verkehrt gemacht haben könnte. Ich bat ihn in mein Büro. Er schloss die Tür sorgfältig hinter sich zu. Setzte sich.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Sie wissen doch sicher, dass die Deutschen, als sie das Land verlassen mussten, 1918, eine Menge Gold und Schätze in dieser Gegend vergraben haben.«
»Hm.«
»Eine Stelle ist in der Gegend von Mahenge, eine andere in der Nähe von Lupiro und gar nicht so weit von hier, in einem kleinen Tal zwischen zwei Bergen, haben sie ebenfalls viel Gold und Steine vergraben.«
»Hm.«
»Ich bin einmal in der Nähe von diesem Ort gewesen. Aber da kam ein Wirbelwind und hat mich und meine beiden Begleiter so weit fort getragen, dass wir fast drei Tage gebraucht haben, um wieder nach Hause zu gelangen.«
»Hm.«
»Die Deutschen haben also offensichtlich ihr Gold mittels eines Zaubers geschützt, sodass niemand an ihre Schätze gelangen kann, bis sie wiederkommen.«
»Hm.«
»Aber da Sie nun Deutscher sind, kann es für Sie ja nicht so schwierig sein, den richtigen Gegenzauber zu beschaffen. Und dann könnten wir zusammen dorthin gehen, wo sie ihr Gold vergraben haben und es uns holen.«
»Hm.«
Der divisional secretary sah mich erwartungsvoll an.
Ich versuchte zu erklären, dass die Deutschen 1918 bestimmt keine großen Schätze hatten, die sie hätten vergraben können, und dass sie bestimmt keine Zaubermittel besaßen um sie zu beschützen. Und dass ich von Gegenzaubern so gut wie gar nichts verstünde.
Der divisional secretary sah mich nur ungläubig an. Offensichtlich wollte ich nicht mit ihm teilen. Denn dass ich an Wochenenden oft weit bis in die Berge wanderte, um das Gold zu finden, das wusste doch schlichtweg jeder in Lugala. Nur hatte ich es halt noch nicht gefunden.
Nach einer Weile gab ich auf. Versprach mich bei meinem nächsten Besuch in Deutschland nach dem Gegenzauber kundig zu machen. Was blieb mir anderes übrig? Der divisional secretary sah mich zufrieden an.
Und jetzt verstand ich auch, warum mich schon zwei Mal jemand aufgefordert hatte, mit ihm in die Berge zu gehen, wo die Deutschen ihr Gold vergraben hätten. In dem Tal zwischen den beiden Hügeln, 40 Kilometer von Lugala entfernt. Sie dachten bestimmt, ich hätte den Gegenzauber schon und wüsste nur nicht, wo das Gold vergraben ist.
Zauber und Gegenzauber.
Wissen Sie, wenn jemand hier sehr alt wird, gehen die Familienangehörigen davon aus, dass er sich mit einem Zauber künstlich am Leben hält. Dass dieser Zauber ihm Lebenskraft gibt, die der Zauber selbstverständlich