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Rotzverdammi!. Reiner HänschЧитать онлайн книгу.

Rotzverdammi! - Reiner Hänsch


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Gemurmel. Und immer wieder auch: „Ach, du chrüne Neune!“, was man hier gerne sagt, wenn man es einfach nicht glauben kann, oder eben: „Ochottochottochott!“ Das geht immer.

      Ich betrete todesmutig die Kapelle und nähere mich dem mehr als hundertköpfigen, hinterhältigen Organismus, der jede meiner Bewegungen im Blick hat. Platschend und triefend schreite ich gemessenen Schrittes durch die blutdürstigen Reihen. Ganz lässig und so überlegen wie eben möglich lasse ich meine momentan ganz besondere Aura nach rechts und links in die Reihen spritzen.

      Ja, ich bin dat, Leute! Der Stadtfuzzi aus dem popeligen Düsseldorf, den ihr alle bestimmt nich’ leiden könnt, weil er seine Mama nie besucht hat und sein Dorf auch nich' wiedersehen wollte, der jetzt dummerweise bisken spät kommt, seine Karre in’ Graben gesetzt hat, sich den Kopp schwer angehauen hat, leider auch noch auffe Fresse gefallen is’ un getz wie ein stinkender Eber hier einläuft. Jou, dat bin ich. Normalerweise bin ich mehr so der Lackaffe im feinen Zwirn, aber heute sehe ich mal aus wie’ne Pottsau.

      Die Orgel setzt plötzlich selbstständig wieder ein, einfach auch, um die Leute bei Trauerstimmung zu halten, und ich erschrecke mich dabei ein wenig.

      Am Rande des Organismus erkenne ich Bernd und seine dralle Sabine, die mir mit zusammengeknüllten Papiertaschentüchern in den Fäusten aus der ersten Reihe direkt vor dem Sarg zuwinken. Ich soll also zu ihnen kommen. Zu Mutter.

      Und dann erst, als ich den Sarg sehe und daran denke, wer darin liegt, wird mir doch noch ganz anders. Erst jetzt überfällt mich endlich die tiefe Traurigkeit, die eigentlich schon lange hätte da sein müssen. Mensch, Flottman, deine Mutter ist tot. Jetzt bist du mit deinem Bruder ganz alleine auf der Welt.

      Schön geschmückt ist der Sarg, mit vielen Kränzen davor, und zum Glück ist da auch einer, auf dessen Schleife ich meinen Namen zusammen mit Bernds und Sabines sehe. Ich habe natürlich völlig vergessen, dass man so was ja macht. Na, da muss ich den beiden noch mal schön Danke sagen – hinterher.

      Quer über den Sarg hat man einen blau-weißen Schalke-Schal gelegt, denn Mutter war immer, ihr ganzes Leben lang, treuer Schalke-Fan. Normalerweise ist man im Sauerland BVB-Fan, aber Mutter nicht. Ich glaube, sie hat nie ein Spiel von Schalke ’04 verpasst. Radio oder Fernsehen. Sie war immer dran. Und ich kann mich noch erinnern, wie sie uns Kindern immer vorgesungen hat „… där FC Sskhalke wird nie uunteercheh’n!“

      Und das haben wir auch geglaubt.

      Ich schiebe mich in die erste Reihe zwischen Bernd und jemanden, den ich nicht kenne. Der verdreckte Anzug, mein nässendes Outfit und eine schwere Güllenote verschaffen mir eine Menge Platz.

      „Mensch, wie siehs’ du denn aus?“, raunt Bernd mir zu und schüttelt dabei ohne jedes Verständnis den Kopf. „Wat hasse denn gemacht? Wo kommsse denn getz här?“

      Ich winke nur schwach ab und vertröste ihn auf später.

      „Wat stinksse denn so, sach ma?“

      „Später, Bernie.“

      „Tach, Heino. Beileid“, zischelt Sabine hinter Bernies breitem Rücken zu mir rüber. Heino! Das ist die gerechte Strafe für den schrecklichen Heinz-Norbert-Namen. Und dann nickt sie mit ernster Trauermiene, schiebt aber direkt nach: „Bisse auffe Fresse chefallen oder ham se dich vermöbelt?“

      Ja, ja, ja …

      Der fremde Mann neben mir gibt sich als Onkel Dieter zu erkennen. „Beileid. Kennze mich nich mehr? Onkel Dieter! Käa, wat biss du alt geword’n! Un so versaut!“ Netter Onkel. „Un am Stinken bisse, Heinz-Nobbät!“, sagt er noch vorwurfsvoll, schnüffelt mir dreist am ruinierten Anzug rum und verzieht angewidert das Gesicht. Aber dann nickt auch er nachdenklich zum Sarg hin und wird anständigerweise doch noch ganz traurig. „Ach, die arme Hilde. Hat se den Griffel abgegeb’n. So plötzlich, woll?“

      Ich nicke nur erschöpft.

      Wirklich alle sind da. Und ich kenne keinen einzigen. Das ganze Dorf und das nächste Dorf und das übernächste wahrscheinlich auch noch. Außer Onkel Willi eben. Der nicht. Wegen dem drohenden Herzkasper. Meine Mutter kannten eben alle. Und hier gehörte sie hin. Mitten ins Sauerland, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hat und wo sie es auch dann erwischt hat.

      Schlaganfall. Oder wie die hier im Sauerland es aussprechen: „Schlachanfall“, ungefähr so wie „Schlawwanzuch“, also Schlafanzug. Alle Silben so schlaff hintereinanderweg, ohne besondere Betonung einer einzelnen und alle ganz eng beeinander.

      Schlachanfall. Sirene. Blaulicht. Notarzt. Tot.

      Konnze nix mehr machen. Dat Hirn war schon minutenlang ohne Blut, woll!

      Oh, Mann!

      Ich versuche, mich vorsichtig nach allen Seiten umzublicken, was aber aus der ersten Reihe heraus nicht so einfach ist. Ist aber auch nicht nötig und ich will auch eigentlich keinen sehen. Ich habe sowieso alle ihre Blicke im Rücken. Alle. Und alle wollen wissen, was passiert ist, warum ich als Drecksau mit ’ner dicken Beule am Kopf hier erscheine und warum ich so alt geworden bin.

      Geht euch nix an, jetzt wird getrauert.

      Mein Blick geht noch mal kurz zu Bruder Bernie rüber und auch der nickt mir ganz traurig zu. Bernd ist rasender Reporter beim Schwattmecker Boten und in sein Ressort fallen auch die Traueranzeigen.

      Dass ausgerechnet jetzt mitten in der Trauerfeier mein Handy klingelt, ist natürlich ’ne ganz blöde Sache. Und dann noch mit dem selbst ausgesuchten Klingelton „Live and let die – James Bond“. Oh, Mann, ich hatte es doch stummgeschaltet, als ich hinter Düsseldorf auf die A 46 gefahren bin, um tatsächlich mal einen Tag Ruhe zu haben vor den ewigen Agenturanrufen und mit meinem schönen Auto und Gedanken an meine Mutter allein zu sein!

      Na, wenigstens funktioniert es noch trotz der unsanften Wasserung im Straßengraben. Hat sich wohl irgendwie wieder angeschaltet. Es ist eins von diesen ganz neuen elektronischen Wunderwerken mit Internet, Fernsehen und Postkasten, Flaschenöffner und Taschenmesser. Ich kenne mich leider noch nicht so richtig damit aus. Erschrocken fingere ich also in der Sakkotasche danach und muss es doch glatt erst zweimal drehen, bis ich endlich diesen verdammten Knopf zum Ausschalten finde. Ein gefährliches Stöhnen geht durch den feindlichen Organismus. Viel darf ich mir nicht mehr erlauben.

      „So live and let die!“ Ja, ja, ist ja gut. Kurz vor dem Ausschalten sehe ich noch, dass es die Nummer von Sven war, meinem Art Director bei Bölkemeyer & Friends. Muss warten. Ebenso wie die vierzehn Anrufe, die mein Postkasten, also, die Mailbox anzeigt. Jetzt wird erst mal anständig beerdigt.

      Beerdigungen sind ja nix für mich. Das kann ich Ihnen versichern. Oder, wie man hier eben sagt: „Da kannsse ein’ drauf lassen.“ Die gurgelnde Orgel mit ihren jämmerlichen Trauerakkorden schafft mich fast. Und diese Lieder. Alles schwer in Moll und ab und zu mal ein glänzender Dur-Akkord mit einer schmierigen Sechste (das ist ein Akkordton), um die ewige Hoffnung nach dem finsteren Weg durchs Jammertal zu versinnbildlichen. Raffiniert. Und der düstere, von Schluchzern durchsetzte Murmelgesang der Trauergemeinde. Das ist einfach zu viel. Das wirkt. Und das machen die natürlich alles mit voller Absicht hier! Das ist ein großer Plan.

      Man könnte einen geliebten Menschen auch einfach anständig und ohne dieses ganze gesülzte Brimborium unter die Erde bringen. Das wäre mir eigentlich lieber. Aber nein. Das geht eben nicht. Da wären wahrscheinlich auch alle enttäuscht. Was wäre denn eine Beerdigung ohne wenigstens ein paar echte Heulsusen? Man muss ja auch mal an die Bestatter denken. Das ist für die wie Applaus. Zugabe!

      Ja, Sie vermuten richtig. Ich gehöre auf jeden Fall zur schwer gefährdeten Gruppe Heulanfälliger. Ich kann eigentlich gar keine Filme sehen, in denen jemand heiratet, stirbt oder bloß die Kerzen seiner Geburtstagstorte ausbläst. Das rührt mich, da bin ich emotional voll überfordert. Eigentlich kann man mich auf jede beliebige Beerdigung setzen von Leuten, die ich gar nicht kenne. Die entsprechende Drüsenstimulation wird auf jeden Fall umgehend in Gang gesetzt. Gehirn an Drüsen: Laufen lassen! Aber bei der Beerdigung seiner eigenen Mutter ist das noch mal ganz was Anderes.

      Es ist aber auch alles darauf angelegt.


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