Unbestreitbare Wahrheit. Mike TysonЧитать онлайн книгу.
beim ersten Kampf. Sogar Howard Cosell, der den Boxkampf für den Sender ABC moderierte und der der Meinung gewesen war, dass Tillman in unserem ersten Kampf nach Punkten gesiegt hatte, musste zugeben, dass ich dieses Mal eine viel größere Chance hatte, den Kampf zu gewinnen.
Ich war davon überzeugt, den Sieg eingeheimst zu haben. Aber als der Ringrichter Tillmans Arm hob, war ich wie vom Donner gerührt. Ich konnte einfach nicht glauben, dass man zweimal eine solche Bullshit-Entscheidung gefällt hatte. Die Zuschauer schrien und buhten die Kampfrichter aus. Cus war wütend. Er fluchte und fing an, auf einen der Funktionäre der US-Olympiade einzudreschen. Kevin Rooney und einige andere Funktionäre mussten ihn zurückhalten. Damals war ich so mit mir beschäftigt, dass ich annahm, dieser ganze Scheiß mit Cus passiere meinetwegen. Als ich älter wurde, begriff ich, dass dies Cus’ Geschichte war, eine Geschichte, die vor 30 Jahren begonnen hatte. Hier meldeten sich seine Dämonen, und die hatten wenig mit mir zu tun.
Es ging nur darum, dass Cus ausgenutzt und seines Ruhms beraubt worden war. Erst vor Kurzem erfuhr ich, dass Cus unseren Freund Mark, der für das FBI arbeitete, nach Albany ins Büro des Staatsanwalts geschickt hatte, um die Entscheidung für Tillman zu untersuchen.
Nach den beiden Niederlagen gegen Tillman rastete ich aus. Ich nahm die Trophäen für den Zweitplazierten und zerschmetterte sie. Cus schickte mich trotzdem zur Olympiade, damit ich mich unters Team mischte. In jenem Jahr fand sie in Los Angeles statt. Cus meinte, ich solle dort einfach die Erfahrung genießen. Er war wirklich einmalig und hatte mir für jeden Kampf zwei Tickets besorgt, aber ich hatte ja eine Dauerkarte, also bot ich die Tickets unter der Hand Interessenten an. Und die Olympiade brachte mir durchaus einen Gewinn, denn da war diese entzückende Praktikantin, die für das Olympische Komitee der USA arbeitete. Alle Boxer und Trainer waren hinter ihr her, aber ich war derjenige, den sie erhörte. Sie mochte mich. Nach all den Jahren der Entbehrung war es ein tolles Gefühl, endlich mal wieder Sex zu haben.
Aber nicht einmal der Sex konnte mich über meine Enttäuschung und meinen Schmerz, dass mir mein Olympischer Traum geraubt worden war, hinwegtrösten. Als die Olympischen Spiele zu Ende waren, flog ich zurück nach New York, fuhr aber nicht sofort nach Catskill. Ich hing in der Stadt herum und war wirklich am Boden zerstört. Irgendwann landete ich in der 42. Street und schaute mir einen Karatefilm an. Kurz vor Beginn rauchte ich einen Joint.
Ich wurde high und erinnerte mich an die Zeit, als Cus mich mit Marihuana erwischt hatte. Es war kurz, nachdem ich bei den Junior Olympic Championships meinen zweiten Sieg errungen hatte, gewesen. Einer der anderen Boxer war neidisch auf mich und verpfiff mich. Bevor ich überhaupt die Chance hatte, das Zeug zu verstecken, hatte Cus Ruth, die deutsche Reinmachefrau, in mein Zimmer geschickt, und sie hatte den Stoff gefunden.
Als ich nach Hause kam, war Cus wütend.
„Mike, das muss wirklich guter Stoff sein, denn um das Marihuana zu rauchen, hast du gerade 400 Jahre Sklaven- und Landarbeit verraten.“
An jenem Tag hat er meinen Geist gebrochen. Ich fühlte mich wie ein Onkel-Tom-Nigga. Und dabei hasste er derartige Menschen. Er verstand es wirklich, mich niederzubügeln.
Ich saß also im Kino, erinnerte mich daran und versank dabei immer tiefer in meine Depression. Dann fing ich an zu heulen. Als der Film zu Ende war, ging ich schnurstracks zum Bahnhof und fuhr zurück nach Catskill. Auf der Rückfahrt überlegte ich, dass ich mich sofort ins Training stürzen müsste, um ins Profilager zu wechseln. Wenn ich Profiboxer werden wollte, musste ich spektakulär wirken. Als wir uns Catskill näherten, führte ich Selbstgespräche:
„Die Welt hat noch nie so jemanden wie Tyson gesehen. Er wird alles übertreffen, er wird in das Pantheon der großen Boxer eingehen, neben John L. Sullivan, Joe Louis, Benny Leonard und Joe Gans und den anderen. Tyson ist umwerfend.“
Ich redete über mich in der dritten Person, obwohl ich ganz allein war.
Als ich aus dem Zug stieg, war ich völlig euphorisch. Ich nahm mir ein Taxi zu Cus’ Haus. Die Welt würde einen Boxer erleben, wie es ihn noch nie gegeben hatte. Ich war im Begriff, über mich selbst hinauszuwachsen. Bei allem Respekt und ohne arrogant sein zu wollen: Ich war mir dessen bewusst, künftig der prominenteste Boxer zu sein. Mich konnte nichts aufhalten, und ich würde eines Tages so sicher Champion werden, wie der Freitag auf den Donnerstag folgt. In den folgenden sechs Jahren verlor ich keinen einzigen Kampf.
Nach den zwei Niederlagen gegen Tillmann war ich nicht gerade der gefragteste Kandidat der Boxszene. Cus’ Plänen zufolge hätte ich bei der Olympiade die Goldmedaille erringen und meine Karriere mit einem lukrativen TV-Vertrag starten sollen. Aber es hatte nicht geklappt. Kein professioneller Promoter war zu der Zeit an mir interessiert. Eigentlich glaubte damals niemand mehr an Cus’ Peak-a-boo-Stil. Und viele meinten, ich sei zu klein.
Dieses Gerede kam wohl auch Cus zu Ohren. Als ich eines Abends den Müll nach draußen trug, machte Cus gerade die Küche sauber.
„Mann, ich wünschte, du hättest einen Körper wie Mike Weaver oder Ken Norton“, sagte er aus heiterem Himmel. „Dann wärst du nämlich richtig einschüchternd. Du hättest eine Aura, die nichts Gutes verheißt. Die haben zwar nicht das Temperament, dafür aber die Statur eines einschüchternden Mannes. So könntest du die anderen Boxer vor Schreck erstarren lassen.“
Ich war sprachlos und bin heute noch betroffen, wenn ich diese Geschichte erzähle. Ich war tief gekränkt, wollte es Cus aber nicht zeigen. Sonst hätte er gesagt: „Was, du weinst? Was bist du für ein Baby? Wie willst du einen großen Kampf schaffen, wenn dir die emotionale Härte fehlt?“
Immer wenn ich Gefühle zeigte, tat er sie verächtlich ab. Also hielt ich meine Tränen zurück.
„Keine Sorge, Cus“, versuchte ich ihn großspurig zu beschwichtigen. „Du wirst sehen. Eines Tages erzittert die ganze Welt vor mir. Wenn sie meinen Namen hören, schwitzen sie Blut.“
An diesem Tag wurde ich zu Iron Mike. Ich wurde es zu 100 Prozent.
Obwohl ich fast jeden Kampf auf berauschende Weise gewann, identifizierte ich mich immer noch nicht ganz mit der Rolle des Wilden, in der Cus mich sehen wollte. Aber als er mir gesagt hatte, dass ich zu klein sei, wurde ich zu einem Brutalo. Ich fantasierte sogar, jemanden im Ring totzuschlagen, und so alle einzuschüchtern. Weil Cus einen asozialen Champion wollte, orientierte ich mich an den bösen Jungs, die ich aus Filmen kannte, an Jack Palance oder Richard Widmark. Ich schlüpfte in die Rolle des überheblichen Soziopathen.
Aber zunächst bekam ich einen Cadillac. Cus konnte meine Spesen nicht bezahlen, als ich meine Karriere aufbaute, und überredete deshalb seinen Freund Jimmy Jacobs und dessen Partner Bill Cayton dazu, Geld vorzustrecken. Jimmy war ein toller Kerl. Er war der Babe Ruth des Handballs. Auf seinen Reisen mit Handballern um die Welt hatte er Filme über außergewöhnliche Kämpfe gesammelt. Am Ende lernte er Bill Cayton kennen, der ebenfalls ein Sammler war. Beide gründeten die Big Fight Inc. und mischten den Markt für Filmmaterial zu Kämpfen auf. Cayton machte später ein Vermögen, indem er Videokassetten an den US-Fernsehsender ESPN verkaufte. Cus hatte in seiner Zeit in New York mit Jimmy zehn Jahre zusammengelebt. Sie waren enge Freunde. Er hatte sogar einen Geheimplan ausgeheckt, Jimmy zum Boxer auszubilden, ob Amateur oder Profi. Dann sollte er Archie Moore den Titel als Weltmeister im Halbschwergewicht abnehmen. Jacobs trainierte sechs Monate lang intensiv mit Cus. Aber der Kampf kam nie zustande, weil Archie sich aufs Altenteil zurückzog.
Für Jimmys Partner Bill Cayton konnte sich Cus allerdings nie erwärmen. Er war für seinen Geschmack zu sehr in sein Geld verliebt. Ich mochte ihn auch nicht. Während Jimmy ein großartiger offener Typ war, trat Cayton als aufgeblasener kalter Fisch auf. Jim und Bill managten schon seit vielen Jahren Boxer und hatten Wilfredo Benitez und Edwin Rosario im Stall gehabt. Also stellte ihnen Cus in Aussicht, dass sie auch mich managen könnten, als ich Profi wurde.
Cus sah Jimmy und Bill wohl als zwei Investoren an, die sich aus meiner Entwicklung heraushalten und ihm die volle Kontrolle über meine Karriere überlassen würden.
Bislang