Marktsozialismus. Ernest MandelЧитать онлайн книгу.
Während Reformen in Richtung „Marktsozialismus“ in Osteuropa die „Regimewechsel“ 1989 nicht verhindern konnten, hält sich die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) bis heute an der Macht. Das Land steigt gegenwärtig zur globalen Wirtschaftsmacht auf. Die KPCh bezeichnet offiziell ihr System als „Sozialismus mit chinesischer Besonderheit“ bzw. „sozialistische Marktwirtschaft“. Einige westliche WissenschafterInnen sprechen hingegen von „Staatskapitalismus“ oder „staatlich durchdrungenem Kapitalismus“.3 Die Einkommensunterschiede in China sind im globalen Vergleich sehr groß.4 Auch im Kontext dieser gegenwärtigen Entwicklung ist die Debatte um „Marktsozialismus“ im 20. Jahrhundert sehr lehrreich.
Von Marx zum „Marktsozialismus“
Kommunismus als Negation des Kapitalismus bei Marx und Engels
Bekanntlich lag der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Forschungen von Karl Marx und Friedrich Engels darin, eine Theorie der Kritik der kapitalistischen Produktionsweise zu entwickeln. Sie machten nur knappe Aussagen darüber, wie eine zukünftige sozialistische bzw. kommunistische Gesellschaft aussehen könnte. Das lag nicht zuletzt daran, dass sie im Gegensatz zum „utopischen Sozialismus“ die neue Gesellschaft nicht im Detail entwerfen wollten. Erst die Entwicklung der Industrie und damit auch des modernen Proletariats durch den Kapitalismus würden die materiellen Grundlagen und das Potenzial für eine zukünftige Gesellschaft schaffen, die nicht mehr von Not und Mangel bestimmt sei. Marx und Engels definierten den Kommunismus als Bewegung, die den Zustand der bisherigen Gesellschaft aufhebe.5 Klar war zumindest, dass die „Anarchie des Marktes“ durch eine bewusste planmäßige Organisation der Produktion der Gesellschaft ersetzt werden sollte.6 Kapitalistische Konkurrenz sei nicht nur die Triebkraft von technologischer Innovation, sondern führe auch zu regelmäßig wiederkehrenden Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Armut und Zerstörung der ökologischen Grundlagen der Erde.7
Die Vorstellungen einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft waren bei Marx und Engels in erster Linie von einer Negation der Grundkategorien des Kapitalismus geprägt. Produktion von Gütern und Dienstleistungen als Waren für den Markt, Lohnarbeit und Privateigentum an Produktionsmitteln sowie Grund und Boden sollten aufgehoben werden. Dadurch würde auch das Geld als Mittel der Zirkulation und Akkumulation überflüssig. Eine gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Hand- und Kopfarbeit, Stadt und Land und die damit verbundenen sozialen Hierarchien sollten abgeschafft werden. Wenn nach einer Übergangsphase die Produktivkräfte weit genug entwickelt seien, könnten im Kommunismus Tätigkeiten, Leben und Verteilung getreu der Devise „jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen“ verwirklicht werden. Auch der Staat als Instrument von Klassenherrschaft würde im Kommunismus unnötig und absterben, da die klassenlose Gesellschaft ihre Belange selbst verwalten könne. Um dieses Endziel zu erreichen, sei aber eine Übergangsphase notwendig, in der noch nach der jeweiligen Arbeitsleistung entlohnt werde. Erst nachdem die Produktivkräfte und das Bewusstsein der Menschen weit genug entwickelt seien, könne die Gesellschaft zu kommunistischen Verteilungsprinzipien übergehen.8
Die Vorstellungen von Marx und Engels prägten auch die Kommunistischen Parteien in den Ländern des Staatssozialismus. Allerdings gab es dort ganz andere gesellschaftliche Voraussetzungen, als die „Klassiker“ als Grundlage für den Kommunismus entwickelt hatten.
Von der Oktoberrevolution zum klassischen Modell in der Sowjetunion
Nach der russischen Oktoberrevolution im Jahr 1917 übernahmen die Bolschewiki in einem Land die Macht, in dem über 80 Prozent der Bevölkerung außerhalb der Städte lebte. Die Vorstellungen, wie in einem rückständigen Agrarland Sozialismus aussehen könnte, waren umstritten und vage. Zunächst setzte die Sowjetregierung ein moderates ökonomisches Programm um – in Form einer Bodenreform und der Einführung von „Arbeiterkontrolle“ in Fabriken. Im Bürgerkrieg (1918−1920) entstand jedoch der sogenannte „Kriegskommunismus“, bei dem in den Städten der Staat die Wirtschaft übernahm und eine rationierte Verteilung einführte. Um die Rote Armee und Städte zu versorgen, ließ die Sowjetregierung auf den Dörfern zwangsweise Getreide requirieren, ohne den BäuerInnen dafür eine angemessene Gegenleistung bieten zu können. Geld wurde durch die hohe Inflation nahezu wertlos. Nach dem Sieg der Roten Armee über die konterrevolutionären Weißen brachen BäuerInnenaufstände los und die Flotte revoltierte in Kronstadt. Vor diesem Hintergrund setzte vor allem Lenin 1921 die sogenannte Neue Ökonomische Politik (NÖP) durch: Der Austausch mit den BäuerInnen sollte anhand dieser neuen ökonomischen Leitlinie nun über den Markt regelt werden. Tatsächlich stellte die neue Politik auch eine Legalisierung der schon existierenden städtischen und ländlichen Schwarzmärkte dar.
In der Partei gab es Diskussionen darüber, ob ein hybrides Wirtschaftssystem mit staatlicher und kollektiver Industrie, privatem Handel und bäuerlicher Kleinproduktion ein langfristig angelegtes Modell für den Aufbau des Sozialismus sei oder nur ein kurzzeitiger taktischer Rückzug. In den 1980er-Jahren bezogen sich Reformkräfte innerhalb kommunistischer Parteien auf die NÖP als Urform und Vorbild eines „Marktsozialismus“. Allerdings führte die NÖP nach einigen Jahren zu großen Problemen. 1928 kam es zu einer städtischen Versorgungskrise, da die BäuerInnen ihr Getreide nicht zu den festgelegten Preisen verkaufen wollten. In den Städten standen hohe Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit und der zur Schau gestellte Reichtum der HändlerInnen für viele ArbeiterInnen im Widerspruch zu den Idealen der Oktoberrevolution.
In der Partei setzte Stalin eine radikale Abkehr von der NÖP durch, indem zunächst in Sibirien wieder Zwangsmaßnahmen gegen die BäuerInnen stattfanden, um Getreide zu beschlagnahmen. Die AnhängerInnen einer Fortsetzung der NÖP um Nikolaj Bucharin, die sogenannte „rechte Opposition“, verlor den Machtkampf mit Stalin und wurde aus ihren Führungspositionen in der KPdSU entfernt. Schließlich ließ die Regierung mit Unterstützung von ArbeiterInnenaktivistInnen und Armee die Landwirtschaft in der Zeit von 1928 bis 1931 fast vollständig kollektivieren. Die Auseinandersetzungen mit der Landbevölkerung führten zur Deportation von „KulakInnen“ nach Sibirien und in einigen Regionen zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Es kam zu einer schweren Hungersnot mit 6 bis 8 Millionen Toten.9 Mit dem ersten Fünfjahresplan 1928 begann ein ambitioniertes Programm, um die Industrialisierung, die in Westeuropa schon fortgeschritten war, unter Führung des Staates in kürzester Zeit nachzuholen.
Bis Mitte der 1930er-Jahre hatte sich in der Sowjetunion das sogenannte „klassische Modell“10 des Staatssozialismus herausgebildet, das vor Stalins Tod 1953 nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde bzw. werden durfte: Eine leninistische Kaderpartei übte eine diktatorische Alleinherrschaft über alle Bereiche der Gesellschaft aus; die Industrie war verstaatlicht und die Landwirtschaft kollektiviert. Zentrale Fünf-Jahres-Pläne sollten den wirtschaftlichen Aufbau langfristig steuern. Konkrete Vorgaben für die Produktionsmengen aller wichtigen Produkte wurden zentral von Planungsbehörden festgelegt und die Umsetzung an die Betriebe und landwirtschaftlichen Kollektive, die Kolchosen, delegiert. Die staatlichen Behörden entschieden auch über die Verteilung von Investitionen und Gewinnen der Betriebe. Sie legten die Löhne und fast alle Preise fest. Die meisten Ressourcen flossen in den Aufbau der Schwerindustrie durch die „Ausbeutung“ der Landwirtschaft. Im Rahmen des staatlichen Monopols für den Auf- und Verkauf von Getreide setzte der Staat die Preise für den Aufkauf zu Ungunsten der BäuerInnen besonders niedrig an. Privater Konsum sollte generell beschränkt werden, um mehr Akkumulation und Investitionen durch den Staat zu ermöglichen. In diesem System gab es weiterhin Lohnarbeit, auch wenn die Kernbelegschaften wichtiger Industriebetriebe, zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg, weitgehend vor Entlassungen geschützt wurden. Auf Planvorgaben und die Verwendung des gesellschaftlichen Mehrproduktes hatten die ArbeiterInnen auf Betriebsebene wenig Einfluss. Die offiziellen Gewerkschaften galten als „Transmissionsriemen“ zwischen Partei und Massen, Streiks waren nicht erlaubt.
Im Staatssozialismus fand ein Warenaustausch zwischen dem staatlichen, kollektiven und kleinen privaten Sektor statt. Außerdem wurde der Landbevölkerung erlaubt, innerhalb der Kolchosen auf „privatem Hofland“ für die Eigenversorgung und auch teilweise für Märkte, Kartoffeln und Gemüse anzubauen. Staatliche Zuteilung durch Rationierung von Lebensmitteln sah die sowjetische