Marktsozialismus. Ernest MandelЧитать онлайн книгу.
sowjetische Parteiführung bezeichnete diese Verhältnisse schon Mitte der 1930er-Jahre als Verwirklichung des Sozialismus. Den Übergang zum Kommunismus stellte sich Stalin in seinen letzten Lebensjahren als die Übernahme aller Bereiche durch einen einheitlichen Sektor des Eigentums des ganzen Volkes vor. An den Ideen der Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit sowie des Absterbens des Staates hielt er zwar formal fest, aber ihre Verwirklichung wurde auf eine ferne Zukunft vertagt.11
Übernahme des sowjetischen Modells in Osteuropa und China
Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg galt die Sowjetunion als Vorbild, wie ein rückständiges Agrarland eine rasante Industrialisierung und Urbanisierung vollziehen könne. Die sowjetische Kriegswirtschaft war in der Lage gewesen, zum Sieg über das stärker industriell entwickelte Nazi-Deutschland entscheidend beizutragen. Nach dem Beginn des Kalten Krieges 1947 setzte die Sowjetunion ihre Vorstellungen von Sozialismus in ihrem Machtbereich durch. Die „Volksdemokratien“ in Osteuropa (Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien und Albanien) und die Sowjetische Besatzungszone in Ostdeutschland erlebten zunächst eine „demokratische Revolution“, in der feudaler Großgrundbesitz an die Landbevölkerung verteilt wurde. Nach wenigen Jahren gingen sie jedoch zur „sozialistischen Transformation“ über. Die Industrie wurde verstaatlicht und die Landwirtschaft kollektiviert. Die Regierungen orientierten sich am Modell der zentralistischen Planwirtschaft der Sowjetunion. Nur Jugoslawien ging ab 1948 nach dem Bruch zwischen Stalin und Josip Broz Tito einen eigenen Weg.
Im Unterschied zur radikalen „sozialistischen Offensive“ in der Sowjetunion von 1928 setzten die Regierungen der „Volksdemokratien“ auf eine graduelle sozialistische Umwälzung von Industrie und Landwirtschaft. Stalin selbst hatte zu dieser Politik geraten.12 So konnten bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen mit der Landbevölkerung und Hungersnöte im Unterschied zur Sowjetunion vermieden werden. Selbst Länder wie Nordvietnam und China, in denen starke lokale Bewegungen die Kommunistischen Parteien an die Macht gebracht hatten, orientierten sich am sowjetischen Modell. In China halfen Tausende sowjetische BeraterInnen dabei, den ersten Fünf-Jahresplan (1953−1957) aufzustellen und umzusetzen.
Zunächst schien das sowjetische Modell erfolgsversprechend. In den 1950er-Jahren gelang es vielen staatssozialistischen Ländern Schwerindustrien aufzubauen und beeindruckendes Wirtschaftswachstum zu erzeugen.13 Rasante Urbanisierungen beschleunigten Modernisierungsprozesse in der Gesellschaft. Bildung und Gesundheitsversorgung sollte der Bevölkerung kostenlos zugänglich gemacht werden. Neuen Wohnraum und Kulturangebote stellte der Staat der Bevölkerung zu symbolischen Preisen zur Verfügung. Die Verfassungen garantierten „das Recht und die Pflicht zur Arbeit“. Die Kommunistischen Parteien wollten darüber hinaus mit Maßnahmen der „positiven Diskriminierung“ Kindern von „Arbeitern und Bauern“ den Zugang zu Hochschulbildung und politischen Ämtern ermöglichen. Die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt und ihr Vordringen in sogenannte „Männerberufe“ wurde durch betrieblich organisierte Kinderbetreuung ermöglicht.
Nach der Spaltung Europas in zwei Lager durch den Kalten Krieg nach 1947 träumten nicht wenige sozialistische PolitikerInnen und ÖkonomInnen von einer Abkopplung vom kapitalistischen Weltmarkt. In einer transnationalen sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaft sollten Ressourcen planmäßig und koordiniert entwickelt sowie solidarisch ausgetauscht werden.14 Die Regierungen der Agrarstaaten Osteuropas hofften, die periphere Stellung ihrer Länder der Zwischenkriegszeit überwinden zu können, indem sie selbst eine industrielle Basis aufbauten. Die Vision eines geschlossenen sozialistischen Weltmarktes war nicht zuletzt eine Alternative zum damals bestehenden Kolonialsystem in Afrika und Asien, in dem sich auch neue unabhängige Staaten nur schwer aus der hierarchischen Arbeitsteilung mit den kapitalistischen Zentren befreien konnten.
Die Krise der zentralistischen Planwirtschaft
Mitte der 1950er-Jahre zeichneten sich in einigen Ländern deutliche Probleme mit dem sowjetischen Modell ab. Zu Stalins Lebzeiten hatte die sowjetische Regierung zur Durchsetzung des entbehrungsreichen Akkumulationsregimes massiv Zwang und Terror eingesetzt. Dazu gehörten das System von Arbeitslagern („Gulag“) sowie drakonische Strafen für „Arbeitsverweigerung“ in der Industrie und „Unterschlagung“ von Getreide in den Kollektivwirtschaften. Betriebsleitungen mussten fürchten, bei Nichterfüllung von Plänen der Sabotage beschuldigt zu werden.
Im „Tauwetter“ nach Stalins Tod 1953 begannen die sowjetische Regierung und andere Länder unter dem Stichwort „neuer Kurs“ die Ankaufspreise für Agrarprodukte zugunsten der BäuerInnenschaft deutlich zu erhöhen und auch den städtischen KonsumentInnen entgegenzukommen. Außerdem wurde das Gulag-System weitgehend aufgelöst. Nicht überall reichten die Maßnahmen aus. ArbeiterInnen wie auch BäuerInnen forderten Anrecht auf mehr Konsum, Mitsprache sowie weniger Arbeitszwang ein. In der DDR kam es 1953 zum Aufstand, in Polen und Ungarn 1956. Der Unmut über die Versorgungslage und die Arbeitsnormen verband sich mit nationalistischen Stimmungen gegen den übermächtigen Einfluss der Sowjetunion. Außerdem wurden Forderungen nach dem Ende des Machtmonopols der Kommunistischen Parteien und ihrer Kontrolle von Medien und Kultursektor laut. Die Legitimationskrisen des Systems waren offensichtlich.
Die Phase zwischen 1953 und 1957 wird auch als „erste Reformwelle“ bezeichnet. Kader und ÖkonomInnen begannen Debatten darüber, wie man ein Gleichgewicht in der Entwicklung von Schwer- und Leichtindustrie sowie der Landwirtschaft herstellen könnte.15 Jugoslawien und Polen ließen eine weitgehend private Landwirtschaft zu. Eine Dezentralisierung der Planung sowie mehr Autonomie für die Betriebe sollten zum Beispiel in Polen dazu beitragen, eine flexiblere Anpassung an die Bedürfnisse der KäuferInnen aber auch an technische Herausforderungen vornehmen zu können. Anstatt von Reformen wurde zunächst vorsichtig von einer „Perfektionierung des Plans“ gesprochen. Ein großes Problem bestand zum Beispiel darin, dass Betriebe Materialien und Arbeitskräfte horteten, zum Teil auch versteckt vor den Behörden, um Mangel in der Zukunft ausgleichen zu können. Konsumierende handelten ähnlich, in dem sie Waren horteten, wenn sie gerade in den Läden verfügbar waren und verstärkten dadurch den Mangel beim Angebot. Die Festlegung von Planzielen nach überwiegend quantitativen Kriterien (die berühmt-berüchtigte „Tonnenideologie“) führte zu Qualitätsmängeln und großer Verschwendung von Ressourcen.16 Die Arbeitsmoral in den Belegschaften ließ zu wünschen übrig, da es besonders unter den begehrten Fachkräften keine Sorge vor Arbeitslosigkeit gab. Der Enthusiasmus der Aufbruchsjahre war weitgehend verflogen. Zumindest in Osteuropa wollten und konnten die Parteiführungen nicht mehr auf drakonische Strafen wie in der Stalin-Ära setzen, um Arbeits-, Ablieferungs- und Plandisziplin zu erzwingen. In den meisten staatssozialistischen Ländern des sowjetischen Blocks wurden 1957 die Reformversuche abgebrochen und die entsprechenden Ideen als „Revisionismus“ verworfen. Scheinbar war die Krise des Modells der zentralistischen Planwirtschaft noch nicht tief genug – die konservativen Kräfte in den Parteien behielten die Oberhand.
„Marktsozialismus“ in der zweiten Reformwelle der 1960er-Jahre
Nach der kurzen ersten Reformwelle folgte in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre eine weiterreichende zweite Welle.17 Im Vergleich zu den Nachkriegsjahren nahm das Wirtschaftswachstum in vielen Ländern Osteuropas in diesem Zeitraum deutlich ab. Es kam zu ernsthaften Versorgungsschwierigkeiten mit Konsumgütern des täglichen Bedarfs wie zum Beispiel in der Tschechoslowakei. In China hatte das Nachahmen von Stalins „sozialistischer Offensive“ im Rahmen des „Großen Sprungs nach vorne“ zwischen 1959 und 1961 sogar zu einer Hungersnot mit zwischen 15 und 40 Millionen Toten geführt. Nur eine radikale neue Ausrichtung der Wirtschaft und Getreideimporte konnten die Katastrophe beenden.18
Parallel zur Verlangsamung des Wachstums in Osteuropa und der Hungersnot in China erlebten die kapitalistischen Zentren in Westeuropa die „goldene Ära“ der Nachkriegszeit. Gewerkschaften konnten massive Lohnerhöhungen und bessere Sozialstandards durchsetzen und in der entstehenden „Konsumgesellschaft“ wurde der Traum von Automobil, Eigenheim und Fernurlaub auch für breite Schichten der ArbeiterInnenklasse verwirklicht. Viele kapitalistische Länder öffneten das Hochschulsystem