Marktsozialismus. Ernest MandelЧитать онлайн книгу.
eine radikale Privatisierung und vollständige Durchsetzung des Marktes gebrochen werden.25
Eine Schocktherapie wurde Anfang der 1990er-Jahre von Teilen der politischen Eliten Osteuropas als einzige Möglichkeit einer „Heilung“ vom System der zentralistischen Planwirtschaft und des Marktsozialismus gesehen. Marktradikalismus war keinesfalls nur ein Westimport.26
„Sozialistische Marktwirtschaft“ in China nach 1978
Auch wenn die zweite Reformwelle in Osteuropa scheiterte, lieferte sie einige Ideen, die in China nach Maos Tod von der neuen Führung unter Deng Xiaoping unter dem Label „Reform und Öffnung“ umgesetzt wurden. Kader und ÖkonomInnen, die die Phase zwischen 1961 und 1965 geprägt hatten, ließ die Parteiführung wieder rehabilitieren. Osteuropäische ÖkonomInnen, die als Vordenker von Reformen nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ ins westliche Exil gingen, wie zum Beispiel der Tschechoslowake Ota Šik und der Pole Włodzimierz Brus, lud die chinesische Regierung Anfang der 1980er-Jahre als Berater ein. Chinesische Delegationen wurden nach Ungarn und Jugoslawien entsandt, um von den dortigen Preis- und Betriebsreformen zu lernen, ohne sie allerdings zu kopieren.27 Obwohl die chinesische Strategie von „Reform und Öffnung“ durchaus als Teil eines transnationalen Ideentransfers zu sehen ist, lässt die KPCh sie heute als rein nationale Erfolgsgeschichte des „Sozialismus mit chinesischer Besonderheit“ schreiben. Von „sozialistischer Marktwirtschaft“ wird von offizieller Seite seit 1992 gesprochen.
Die weitgehendsten Schritte der KPCh waren bis Mitte der 1980er-Jahre die Auflösung der Volkskommunen und die Zulassung einer privaten Familienwirtschaft auf staatlichem Boden. Auf dem Gebiet der Industrieproduktion führte die Regierung unter Zhao Ziyang ein duales System der Festlegung von Preisen durch Plan und Markt ein. Die Landbevölkerung, die ohnehin in China nie in den sozialistischen Wohlfahrtsstaat integriert war, profitierte zunächst von den Reformen durch Steigerung der Einkommen und des Ernährungsniveaus.
Den Rahmen marktsozialistischer Reformen der zweiten Welle überschritt die chinesische Regierung unter Jiang Zemin erst zwischen 1998 und 2002, als große Teile der Staatsindustrie privatisiert wurden. Nach offiziellen Angaben sank die Zahl der urbanen Beschäftigten im Staatssektor zwischen 1995 und 2003 um ca. 44 Millionen.28 Außerdem ersetzte die Führung lebenslange Beschäftigung durch ein Arbeitsvertragssystem, sprich die Arbeitskraft wurde zur Ware gemacht. Die Regierung ließ zudem Privatunternehmen im großen Ausmaß zu. Vor diesen Schritten waren die „MarktsozialistInnen“ im sowjetischen Block zurückgeschreckt und es waren dort erst die Regimewechsel von 1989 nötig, um sie durchzusetzen. Die Öffnung Chinas für ausländisches Kapital führte dazu, dass ab den 2000er-Jahren ausländische Direktinvestitionen zum Hauptmotor des Wirtschaftswachstums wurden. Das Angebot von billigen Arbeitskräften, die vom Land in die Fabriken zogen, machte China zur „Werkbank der Welt“. In Osteuropa waren Löhne, Sozialstandards und auch das Ausbildungsniveau der Beschäftigten schon in den 1980ern zu hoch, um im kapitalistischen Weltsystem noch diese periphere Rolle einnehmen zu können. Diese strukturellen Unterschiede der Gesellschaften sollten bei einem Vergleich der Transformationen in China und Osteuropa bedacht werden.
Einführung in die ausgewählten Texte
Für dieses Buch habe ich vor allem Texte der Debatten zum „Marktsozialismus“ aus der Sowjetunion, Osteuropa und China ausgewählt. Auch in den Staaten, wo heute noch Kommunistische Parteien an der Macht sind (Vietnam, Laos, Kuba und Nordkorea) gab es mehrfach Wirtschaftsreformen. Diese Länder spielten allerdings keine Vorreiterrolle und es sind nur wenige ökonomische Texte auf Deutsch zugänglich. Im Buch befindet sich leider nur ein Text einer Frau, der britischen feministischen Ökonomin Diane Elson. Das liegt nicht zuletzt daran, dass besonders die Debatten auf dem Gebiet der Ökonomie im Staatssozialismus sehr männlich dominiert waren. Die Texte sind nicht immer chronologisch geordnet, da vor allem die Hauptlinien der Argumentation abgebildet werden sollen.
Kapitel 1: Neue Ökonomische Politik (NÖP): Taktischer Rückzug oder Modell für den Aufbau des Sozialismus?
Im ersten Kapitel geht es den Autoren um die Frage, ob die sowjetische NÖP (1921−1928) ein Modell für den Aufbau des Sozialismus sein kann. Bis 1929 fanden in der bolschewistischen Partei noch breite Debatten um den Entwicklungsweg der Sowjetunion statt.29 Ausgewählt wurden hier nur drei zentrale Akteure: Lenin, Bucharin und Stalin.
Lenin erklärte 1921 zunächst, dass die Einführung der NÖP eine große Niederlage auf wirtschaftlichem Gebiet für die Bolschewiki darstelle, da die Partei das Scheitern des „Kriegskommunismus“ einsehen musste. Indem die Ablieferungspflicht für Getreide der BäuerInnen gegenüber dem Staat durch eine Besteuerung ersetzt würde, ließe man den freien Handel wieder zu. Darin und in Konzessionen für ausländisches Kapital sieht Lenin einen „Übergang zur Wiederherstellung des Kapitalismus in beträchtlichem Ausmaß“. Gleichzeitig stellt er die NÖP aber als unabwendbaren strategischen Rückzug dar, ohne den die Sowjetmacht nicht zu halten sei. Der Klassenkampf werde darüber entscheiden, ob das Proletariat oder die Bourgeoisie die BäuerInnen auf ihre Seite ziehen können. Von der NÖP als „Marktsozialismus“ kann bei Lenin keine Rede sein, weil er die Maßnahmen als notwendiges Übel und Zugeständnis an die kapitalistischen Kräfte sah.
Nach dem Tod Lenins entwickelte Bucharin 1925 in der Broschüre „Der Weg zum Sozialismus“ die Konzeption der NÖP weiter. Die NÖP sei keine Kapitulation vor dem Kapitalismus, sondern eine Aufgabe der falschen Vorstellung des „Kriegskommunismus“. Bei dessen Bestehen sei fast die gesamte Industrie zum Stillstand gekommen. Nun sei der proletarische Staat stark genug, freien Handel in Stadt und Land zuzulassen, da er die „Kommandoposten“ der Wirtschaft kontrolliere. Die Konkurrenz zwischen der staatlichen Industrie und den privaten Sektoren wäre notwendig, um die Warenzirkulation zu steigern und die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Es sei aber auch eine Form des Klassenkampfes, in dem sich der Staatssektor in Form von höherer Produktivität beweisen müsse, so Bucharin. Auf dem Land müssten Genossenschaften im Wettbewerb mit den privaten Familienwirtschaften stehen und durch bessere Leistungen die BäuerInnen zum freiwilligen Beitritt überzeugen. Bucharins Ausführungen unterscheiden sich von den späteren „Marktsozialisten“ darin, dass er die NÖP in erster Linie mit der bolschewistischen Logik des Klassenkampfes begründet, nicht mit technokratischer Effizienzsteigerung.
Die Positionen von Bucharin wurden 1928 von Stalin angegriffen, als dieser von der NÖP abrückte. In der hier dokumentierten Rede Stalins von 1929 kritisierte er die in Bucharins Broschüre geäußerten Ansichten ausdrücklich als „rechte Abweichung“. Stalins zentraler Vorwurf bestand darin, dass Bucharin die Verschärfung des Klassenkampfes durch die „Kulaken“ nicht erkennen würde. Bucharin stelle sich vielmehr die Auseinandersetzung als einen friedlichen Wettbewerb der verschiedenen Sektoren vor, bei dem am Ende die „Kulaken“ in den Sozialismus hineinwachsen würden. Nur die forcierte Kollektivierung der Landwirtschaft könne auch die Industrialisierung beschleunigen, da die Einzelwirtschaften kein großes Potenzial zur Steigerung der Getreideproduktion hätten. Außerdem könnten moderne Technologien wie Traktoren nur in den größeren Betriebseinheiten der Kollektive effektiv eingesetzt werden. Für die Industrialisierung sei es notwendig, dass die Bauernschaft in Form der „Preisschere“ (zwischen den hohen Preisen für Industrieprodukte und den niedrigen Preisen für Agrarprodukte) einen „Tribut“ leiste, so Stalin an einer anderen Stelle der Rede.30 Die Kollektivierung der Landwirtschaft sollte nicht zuletzt den staatlichen Zugriff auf das agrarische Mehrprodukt erleichtern. Bucharins Vorschlag, die Getreidekrise durch Importe zu lösen, würde das Tempo der Industrialisierung weiter verlangsamen, da dadurch Devisen für den Import von industrieller Technologie fehlten.
In Stalins Rede finden sich zentrale Argumente gegen einen graduellen Übergang zum Sozialismus mit Koexistenz von Plan und Markt sowie Staats- und Privatsektor wieder. Der Weg Bucharins dauere angesichts der bedrohlichen internationalen Lage zu lange und die Übergangsphase würde dem Klassenfeind helfen sich neu zu formieren. Ähnlich argumentierten Ende der 1940er auch die radikalen Kräfte in den Volksdemokratien, um einen schnelleren Übergang von der „demokratischen“ zur sozialistischen