Marktsozialismus. Ernest MandelЧитать онлайн книгу.
2: Materielle Anreize: Markt, Lohn, Preis und Profit in der Planwirtschaft
Im zweiten Kapitel wird die Debatte um „Marktsozialismus“ unter ost- und westeuropäischen ÖkonomInnen zwischen den 1960ern und 1980ern dargestellt.
Eine der zentralen Fragen während der „zweiten Reformwelle“ der 1960er-Jahre war die Neubestimmung des Verhältnisses von Plan und Markt. Auf Grund des dominanten Paradigmas der Gleichsetzung von Planwirtschaft mit dem Sozialismus mussten in Osteuropa und China Reformvorschläge vorsichtig formuliert werden. Statt von Märkten sprachen Reformkräfte oft von der „Anwendung des Wertgesetzes“, „sozialistischer Warenproduktion“, „wirtschaftlicher Rechnungsführung“ oder „Lenkung durch ökonomische Hebel“. Wichtig zur Rechtfertigung der Reformen war auch das Argument, dass die „Warenproduktion“ nicht in naher Zukunft verschwinde, sondern in der Epoche des Sozialismus zunächst sogar weiter entwickelt werden müsse.32 Es gab jedoch auch Ökonomen wie den Tschechen Šik, der offen eine Verbindung von Plan und Markt forderte.33
Eine große Wirkung hatte 1962 der in diesem Buch dokumentierte Artikel von Jewsei Grigorjewitsch Liberman mit dem Titel „Plan, Gewinn, Prämie“. Liberman erkannte im Gewinn auf betriebswirtschaftlicher Ebene ein zentrales Mittel des Anreizes für mehr Produktivität. Dass der Artikel am 9. September in dem Parteiorgan der KPdSU Prawda erscheinen konnte, vermittelte dem sozialistischen Lager, dass neue Freiräume für Debatten entstanden waren. Nach Ansicht eines orthodoxen Marxismus-Leninismus hatten Betriebe zwar „Rechnungsführung“ zu betreiben, wichtiger war aber weniger die betriebswirtschaftliche Bilanz, sondern ein langfristiges volkswirtschaftliches Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben. Es sei sogar ein Vorteil des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus, gesellschaftlich sinnvolle Projekte und Sektoren verlustreich betreiben zu können, wenn dies durch Einnahmen an anderer Stelle ausgeglichen werden könne.34
Liberman argumentiert hingegen, dass im bisherigen System die Anreize für die Betriebe falsch gesetzt werden. Betriebsleitungen verheimlichten Umfang der Betriebsvermögen und Ressourcen vor den Behörden, um möglichst niedrige Planziele zu bekommen oder im Falle von Ausfällen bei der Zulieferung auf Lager zurückgreifen zu können. Falls der Plan überfüllt wird, drohe eine Erhöhung der Vorgaben im nächsten Plan. Liberman schlägt als Alternative ein einheitliches System von Prämien in Form der Gewinnbeteiligung von Betrieben und Belegschaft vor, um gesellschaftliche und betriebliche Interessen zu harmonisieren. Die Kategorie „Gewinn“ sei völlig unterschiedlich zu der im Kapitalismus, weil sie dem Aufbau des Kommunismus und der ganzen Gesellschaft zugutekomme. Um Gewinne richtig abbilden zu können, müsse allerdings die Preisreform vorangetrieben werden. Sonst würden wegen der falschen politischen Festsetzung von Preisen einige Branchen leicht, andere aber nur schwer Gewinne machen können, so Liberman.
In dem ausgewählten Auszug des Buches „Plan und Markt im Sozialismus“ (1965) von Ota Šik geht es um das Verhältnis der Einzelinteressen der Betriebe zur Gesamtplanung. Auch Šik tritt für ein Anreizsystem ein, indem die Betriebe, nach der Abführung eines Teils des Gewinns an den Staat, den Rest für verschiedene Fonds und Entlohnung einbehalten können. Im Unterschied zu Liberman glaubt Šik nicht an die Möglichkeit einer vollständigen Interessenseinheit von Betrieb und Staat. Betriebe würden immer versuchen, die Summe der Abführungen an den Staat zu reduzieren. Dieser nicht-antagonistische Widerspruch könne aber durch das richtige Maß der Besteuerung gemildert werden.
Šik fordert, dass bezogen auf Gewinn, Lohn- und Prämienpolitik sowie Entlassungen die administrativen Vorgaben reduziert und die juristischen Bedingungen für die Auflösung von Arbeitsverhältnissen daher erleichtert werden sollten. Die bessere Verteilung der Arbeitskräfte zwischen den Branchen müsse der Staat planen. Im Falle von Arbeitslosigkeit sollte die Regierung für finanzielle Unterstützung und Umschulung für einen anderen Beruf sorgen. Šik bricht in seinem Buch faktisch mit dem Grundsatz, dass es im Sozialismus keine Arbeitslosigkeit geben dürfe. Nicht ganz zu Unrecht gab es daher während des Prager Frühlings 1968, dessen ökonomisches Programm Šik entworfen hatte, Angst vor Entlassung in den Betrieben.35 Die ArbeiterInnen reagierten auch auf die Reformen der Umwälzung weniger enthusiastisch als viele Intellektuelle. Im Unterschied zu Šik trauten sich viele Funktionäre während der zweiten Reformwelle nicht an das „heiße Eisen“ des Arbeitsmarktes heran.
Anlässlich der „Liberman-Reformen“ in der Sowjetunion lieferten sich der französische Ökonom Charles Bettelheim und der britische Ökonom Maurice Dobb 1965/1966 in der US-amerikanischen sozialistischen Zeitung Monthly Review einen Schlagabtausch. Dobb verteidigt die sowjetischen Reformen und die Rolle des Marktes im Sozialismus. Die Betonung von „materiellen Anreizen“ sei weder „revisionistisch“ noch neu, da zum Beispiel schon Lenin für Akkordlöhne eingetreten sei. Auch Rentabilitätsanreize für Betriebe hätte es schon in den 1930ern in der Sowjetunion gegeben. Dobb bezieht sich positiv auf Šik, der argumentiert, dass beim gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte materielle Anreize der Hauptstimulus seien müssten. Im Sozialismus müsse die Planung versuchen, Marktbedürfnisse zu befriedigen. Der Markt nehme aber in Verbindung mit dem Plan andere Formen an als im Kapitalismus. Als Spitze gegen Bettelheim weist Dobb die „infantile, ultralinke Kritik“ Chinas an anderen sozialistischen Ländern zurück.
Bettelheim sympathisierte hingegen mit dem Maoismus und verweist in seiner Erwiderung an Dobb auf die Reduzierung der materiellen Anreize in China. In der Volksrepublik wären Akkordlöhne abgeschafft und Prämien auf ein Minimum reduziert. Die Überbetonung von materiellen Anreizen in der Sowjetunion übe eine zerstörerische Wirkung auf das Bewusstsein der Menschen aus und würde individualistische Verhaltensweisen fördern. In den 1930er-Jahren hätte die sowjetische Regierung zwar Rentabilität als eines der Erfolgskriterien von Unternehmen definiert, aber nun mache sie Profit zur Quelle der Entlohnung. Damit würde das Prinzip des gleichen Lohnes für gleiche Arbeit zerstört, weil der einzelne Beschäftigte die Verteilung der Gewinne auf die Unternehmen nicht beeinflussen könne. An anderer Stelle argumentiert Bettelheim, dass die bloße Gegenüberstellung von Plan und Markt noch nichts über die Klassenverhältnisse aussagen würde. Seiner Meinung nach ist es zentral, dass die Produzierenden kollektiv die Kontrolle über die Produktion übernehmen.36 Der Klassenkampf würde darüber entscheiden, ob ein monetäres Kalkül durch ein gesellschaftliches Kalkül ersetzt werden könne. Damit knüpft Bettelheim an das maoistische „Primat der Politik“ gegen den sowjetischen „Ökonomismus“ an, der die Umwälzung der Produktionsverhältnisse vernachlässigen würde.
Die feministische britische Ökonomin Diane Elson brauchte Ende der 1980er-Jahre neue Aspekte in die Debatte ein. In dem in diesem Band dokumentierten Artikel kritisiert sie sowohl Vertreter des Marktsozialismus wie den in Großbritannien lehrenden Ökonomen Alec Nove als auch den Trotzkisten Ernest Mandel. Letzterer war Anhänger eines Modells der Planwirtschaft, in der die Preisbildung auf den Märkten durch demokratische Entscheidungen der Produzierenden abgelöst werden sollte. Laut Elson gehen beide Ökonomen bei ihren Überlegungen von dem überwiegend männlichen Vollzeitarbeiter in der Industrie aus und vernachlässigen dabei Konsum, Reproduktion und die kostenlose Pflege- und Besorgungsarbeit der Frauen. Um die Abhängigkeit von Lohnarbeit zu reduzieren, sollte in einer post-kapitalistischen Gesellschaft allen ein „Basiseinkommen“ zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus sollte für alle Bürgerinnen, und gerade auch Bürger, eine Pflicht zur unbezahlten Beteiligung an Pflege- und Besorgungsarbeit eingeführt werden.
Elson entwickelt das Konzept einer „Sozialisierung der Märkte“, auf denen vor allem öffentliche Unternehmen, aber auch private Firmen auftreten dürfen. Sie kritisiert die Positionen von Vertretern der „österreichischen Schule“ des Wirtschaftsliberalismus wie Ludwig Mises37 in der berühmten „sozialistischen Kalkulationsdebatte“. Mises hatte Anfang der 1930er-Jahre behauptet, dass Märkte automatisch in Form des Preises Informationen für Unternehmen und Kundschaft liefern würden. Schaffe die Regierung zum Beispiel im Rahmen einer sozialistischen Planwirtschaft Märkte ab, würde dieser Feedbackmechanismus der ökonomischen Rentabilität zerstört.38 Elson kritisiert, dass auch Marktsozialisten diese Position unkritisch übernommen hätten. Die „österreichische Schule“ hätte ignoriert, dass Märkte Informationen stark fragmentieren, da Unternehmen Informationen zu Produktivität,