Marktsozialismus. Ernest MandelЧитать онлайн книгу.
hingegen stärker den Aspekt des Wettbewerbes zwischen Betrieben sowie die Entfaltung von Marktmechanismen.46 Der in diesem Buch dokumentierte Aufsatz des trotzkistischen Ökonomen Ernest Mandel (1967) unterzog die jugoslawische Theorie am Beispiel der Schriften von Horvat einer grundlegenden Kritik. Als Trotzkist begrüßt Mandel zwar die jugoslawischen Versuche des Abbaus des zentralen bürokratischen Apparates. Er befürchtet aber, dass durch die große Autonomie der Betriebsleitungen die Bürokratie auf kommunaler und Fabrikebene gestärkt werde. Am Wettbewerb der Fabriken über den Markt moniert Mandel, dass einige Anbietende ihre Monopolstellung ausnutzen würden, um höhere Preise zu verlangen. Außerdem führe der Profitanreiz dazu, dass zum Beispiel Luxusgüter oder für den Export produziert werde, obwohl die Grundbedürfnisse im Land noch nicht befriedigt seien. Vom Wettbewerb profitierten eher die entwickelten Regionen, da sie mehr Investitionen als die rückständigeren Teile anziehen würden. Dieses Argument wurde später bei der linken Kritik des jugoslawischen Staats vorgebracht, die in der unterschiedlichen Entwicklung die Ursache der Zuspitzung der Konflikte zwischen den Teilrepubliken und damit den verschiedenen Nationalitäten erkannte. Am Ende argumentiert Mandel, dass das System der „Arbeiterselbstverwaltung“ unter Konkurrenzbedingungen des Marktes das Proletariat atomisiere. Er sieht sich als Anhänger eines Mittelweges zwischen der „stalinistischen Überzentralisierung“ und der Überdezentralisierung in Jugoslawien.
Kapitel 5: „Reform und Öffnung“ in China nach 1978
Im fünften Kapitel wird die Debatte in China im Zusammenhang mit „Reform und Öffnung“ nach 1978 dokumentiert. Der erste Text ist ein Auszug aus dem einflussreichen Lehrbuch des Ökonomen Xue Muqiao (1979). Er diskutiert darin die richtige Anwendung des Wertgesetzes bei der Festlegung der Preise durch den Staat. Da sich das Wertgesetz im Unterschied zu einem kapitalistischen Markt nicht spontan durchsetze, müssten die staatlichen Behörden die Preise immer wieder der Entwicklung anpassen. (Zu diesem Zeitpunkt stand die Bildung aller Preise durch den Markt noch nicht zur Debatte.)
Besonders interessant an diesem Text ist die zentrale Rolle der Landwirtschaft, in der damals noch fast 80 Prozent der Bevölkerung arbeiteten. Als Beispiel für eine folgenschwere falsche Festlegung nennt Xue die viel zu niedrigen Preise für Agrarprodukte vor 1979. Dies habe dazu geführt, dass die Volkskommunen keine Anreize zur Erhöhung der Getreideproduktion hatten (darunter fällt in China auch Reis). In den ertragsarmen Regionen könne die Landbevölkerung nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen und sei zur Ernährung auf ihre „Parzellen zur privaten Nutzung“ angewiesen, so Xue. Der Staat erhöhte 1979 die Aufkaufpreise für Agrarprodukte deutlich, was wiederum zu dem Problem führte, dass die staatliche Subventionslast für die niedrigen Verkaufspreise in den Städten stieg. Xue schlägt als Lösung vor, dass die Regierung auch die Verkaufspreise erhöhen sollte. In Folge müsse sie auch die Arbeitslöhne anheben, damit sich die Stadtbevölkerung die Grundnahrungsmittel leisten könne. Die Lohnerhöhungen mussten aber durch einen Zuwachs an Produktivität getragen werden. Xue mahnt, dass die Behörden auf jeden Fall die Preise stabil halten sollten, um inflationäre Tendenzen zu bekämpfen. Eine andere Fraktion von ÖkonomInnen überzeugte die Führung um Zhao Ziyang davon, dass bei einer Anpassung von Preisen an den Markt Inflation unvermeidbar sei. In den Städten führte jedoch die Preisreform von 1988 zu hoher Inflation und Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln. Der Unmut darüber in der Stadtbevölkerung trug zu den Protesten auf dem Tiananmen-Platz 1989 bei, die von der Volksbefreiungsarmee am 4. Juni blutig niedergeschlagen wurden.
Der zweite Text in diesem Kapitel, verfasst vom damaligen Parteisekretär der KPCh Zhao Ziyang im Jahr 1988, unterstreicht die große Bedeutung der Öffnung der Küstengebiete für ausländisches Kapital in der Entwicklungsstrategie. China sei reich an billigen und gut qualifizierten Arbeitskräften, die in der verarbeitenden Industrie in Joint-Venture-Betrieben mit ausländischem Kapital eingesetzt werden könnten. Und von ausländischem Management könne China moderne Betriebsführung lernen. Generell müsste die Reform des Außenhandels beschleunigt werden, um in diesem Sektor Gewinn und Verlust als Kriterien durchzusetzen. Zhao richtet sich gegen die Praxis der alten Planwirtschaft, nach welcher „alle aus einem Topf essen“, unabhängig von der Leistung. Als Vorbild nennt er die ländlichen kollektiven Gemeindebetriebe, die sich am Gewinn orientieren und keine „überzähligen Mitarbeiter“ beschäftigen würden. Im Unterschied zu den Staatsbetrieben durften die Gemeindebetriebe damals Arbeitskräfte mit befristeten Verträgen und ohne Anrechte auf Sozialleistungen anstellen. Der Text von Zhao spiegelt die Strategie der KPCh wider, China als „Billiglohnland“ am untersten Ende der Produktionsketten in das kapitalistische Weltsystem zu reintegrieren. Langfristig bestand das Ziel aber darin, sich die Technologie der entwickelten kapitalistischen Zentren anzueignen und durch eine „industrielle Aufwertung“ aufzusteigen. Meiner Meinung nach war in diesem Konzept damit nicht mehr die „Ausbeutung“ der BäuerInnen über das staatliche Monopol für den An- und Verkauf von Getreide die Hauptquelle der „ursprünglichen Akkumulation“, sondern die der billigen und rechtlosen migrantischen Arbeitskräfte vom Land.
Das Ziel, das kapitalistische Weltsystem grundlegend zu verändern, hatte die KPCh zu diesem Zeitpunkt aufgegeben. Nun ging es nur noch um den Aufstieg Chinas.
Überlegungen zum „Marktsozialismus“ aus heutiger Sicht
Allein schon die gegenwärtige Klimakrise und die drohende Katastrophe für die Menschheit macht es notwendig, über den Kapitalismus hinauszudenken. In den Debatten darüber, wie eine post-kapitalistische Gesellschaft aussehen könnte, werden jedoch oft historische Erfahrungen ignoriert. Junge soziale Bewegungen versuchen nicht selten, das „Rad neu zu erfinden“, und übersehen häufig, dass vorherige Generationen schon gleiche oder zumindest ähnliche Fragen diskutiert haben. Das Argument, dass der Staatssozialismus gescheitert sei, führt leider oft zu einer Weigerung, sich mit ihm überhaupt auseinanderzusetzen. Dabei wurden in den Debatten um den „Marktsozialismus“ von marxistischen ÖkonomInnen viele Probleme der zentralistischen Planwirtschaft richtig benannt und Alternativen aufgezeigt. Aufgrund ihrer theoretischen Bildung und praktischen Erfahrungen in Regierungen oder Planungsbehörden war ihre Kritik an dem klassischen Modell oft auf einem viel höheren Niveau als die der meisten „bürgerlichen“ ÖkonomInnen im Westen. Allerdings hatten die Vorstellungen der „MarktsozialistInnen“ auch Lücken und Mängel, besonders aus heutiger Sicht:
Den profunden Kenntnissen der Probleme der zentralistischen Planwirtschaft stand nicht selten eine naive Idealisierung des Marktes gegenüber, der als effektives Anreizsystem zur rationalen Verteilung von Ressourcen gesehen wurde. Dabei kennen Märkte nur die Bedürfnisse der zahlungskräftigen Kundschaft. Dadurch werden nicht durch Kaufkraft gedeckte Bedürfnisse ignoriert und viele Dinge erst gar nicht zur Verfügung gestellt. Unternehmen geben Milliarden für Werbung, Imagepflege oder Designentwicklung aus, um „Bedürfnisse“ nach immer neuen Produkten überhaupt erst zu schaffen. Außerdem findet heute in den Zentren des Kapitalismus eine unglaubliche Verschwendung etwa durch das Wegwerfen von essbaren Lebensmitteln durch Supermarktketten statt. Viele Geräte werden außerdem so produziert, dass sie schnell defekt oder nicht mehr in Mode sind. Das ist auf Märkten leider ein völlig „rationales“ Verhalten. Millionen von Menschen sterben auf der Welt jährlich an einfach heilbaren Krankheiten, weil für Pharmakonzerne die Märkte für Medikamente zur Behandlung der Krankheiten der reichen Teile der Menschheit profitabler sind. Wenn Baufirmen für Wohlhabende Luxuswohnungen bauen, während das untere Drittel der Gesellschaft in Innenstädten keine bezahlbaren Wohnungen mehr findet, ist das kein Ausdruck von sogenanntem „Marktversagen“, sondern dem perfekten Funktionieren von Märkten, auf denen Gewinne generiert werden sollen. Das Privateigentum an Grund und Boden führt zur Rentenabschöpfung bei Wohnungen in besserer (Markt)-Lage.
BefürworterInnen der Marktreformen haben selten die klassenpolitische Dimension der Maßnahmen in ihren Schriften thematisiert und sie oft unterschätzt. Zum Beispiel glaubten die chinesischen Reformkräfte Anfang der 1980er-Jahre, man könne den Marktmechanismus als rein technisches Mittel einsetzen, um wirtschaftliche Effizienz zu steigern. Noch 1985 meinte Deng Xiaoping, würde eine neue Kapitalistenklasse entstehen, sollten die Reformen als gescheitert gelten.47 Zwanzig Jahre später war aber klar, dass „Reform und Öffnung“ zu einer radikalen