Marktsozialismus. Ernest MandelЧитать онлайн книгу.
und „Kader-Kapitalisten“, die aus staatskapitalistischen Aktivitäten oder illegalen Unterschlagungen und Korruption hervorgegangen sind. Diese große Umwälzung ist nicht zuletzt die Folge davon, dass auch die Arbeitskraft und Landnutzungsrechte vom Staat wieder zur Ware gemacht wurden.48
In den Debatten um den „Marktsozialismus“ wurden Geschlechterverhältnisse und Sorgearbeit in der Regel ausgeblendet, wie Diane Elson zurecht kritisierte. In den 1960er-Jahren hielten viele sozialistische Staaten zumindest formal an dem Ziel fest, dass Hausarbeit, Kindererziehung und Altenpflege in Form von öffentlichen Institutionen weitgehend sozialisiert werden sollten. Umgesetzt wurde dieses Programm stärker in den urbanen Großbetrieben und weniger auf dem Land. Es hat sich gezeigt, dass eine Gleichberechtigung der Geschlechter durch Einbeziehung der Frauen in Lohnarbeit traditionelle geschlechtliche Arbeitsteilung abschwächen, aber nicht aufheben konnte. Besonders die politische Macht war in allen staatsozialistischen Ländern stark männlich dominiert.
Zentralistische Planwirtschaft und „Marktsozialismus“ setzten wie der industrielle Kapitalismus des Westens auf unbegrenztes Wachstum und schließlich unbegrenzten Konsum. Die westlichen Zentren sollten „ein- und überholt“ werden. Geplant wurde mit hohen Wachstumsraten, die selbst die kapitalistischen Zentren nur in der „goldenen Ära“ nach dem Zweiten Weltkrieg über einen längeren Zeitraum erreichten. Heute sind die gesellschaftlichen und ökologischen Grenzen des Wachstums offensichtlich. In linken Debatten um „Degrowth“ werden Fragen aufgeworfen, wie die Menschheit auch ohne Wachstum Lebensqualität steigern und den ökologischen Kollaps des Planeten verhindern kann. Lebensqualität könnte sich in einer post-kapitalistischen Gesellschaft zum Beispiel durch mehr Zeitautonomie, Mitbestimmung in allen Bereichen und solidarischem Miteinander auszeichnen, anstatt durch pausenlose Steigerung des Konsums.49 Im Wettkampf um das „Ein- und Überholen“ versuchten die Länder im sowjetischen Block spätestens seit den 1970ern, Markenprodukte, Statussymbole und Automobilisierung der reicheren westlichen „Konsumgesellschaften“ nachzuahmen und konnten dabei nur verlieren. Das Anliegen, Produktion und Gesellschaft grundlegend anders zu organisieren, wurde faktisch aufgegeben.50
Es stellt sich generell die Frage, ob eine Gesellschaft, in der Angst vor Arbeitslosigkeit und Armut wegfällt, eine höhere betriebswirtschaftliche Produktivität als die des Kapitalismus überhaupt erreichen kann. Die Grundlage dieser „Rationalität“ ist aber die Intensivierung der Arbeitshetze und die Zerstörung der ökologischen Grundlagen der Erde.
Trotz dieser Einwände hoffe ich, dass die Ideengeschichte des „Marktsozialismus“ eine Anregung für weitere Debatten gibt. Die Frage bleibt, wie die Menschen eine freie Gesellschaft verwirklichen können, in der jeder und jede nach „seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen“ leben und schaffen kann. Antworten müssen noch gefunden werden.
Felix Wemheuer,
Köln, im Januar 2021
1Ich bedanke mich für hilfreiches Feedback bei Dr. Tobias Rupprecht (FU Berlin), Dr. Karl Reitter (Universität Wien) und Christian Hofmann.
W. I. Lenin: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, 1920, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1920/linksrad/kap06.html (aufgerufen 29. 10. 2020).
2 Zhonggong zhongyang wenxian bianji weiyuanhui (Hg.): Deng Xiaoping wenxian, di san quan. Beijing: Renmin chubanshe, 1993, S. 373.
3 Zu dieser Debatte siehe: Felix Wemheuer: Die große Umwälzung: Soziale Konflikte und Aufstieg im Weltsystem. Köln: PapyRossa, 2019, S. 219−220.
4 Siehe zum Beispiel den Gini-Koeffizient bei der Verteilung der Einkommen, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Einkommensverteilung (aufgerufen 29. 10. 2020).
5 Siehe zum Beispiel: Friedrich Engels: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, in: Marx Engels Werke (MEW), Band 19. Berlin (Ost): Dietz Verlag, 1987, S. 177−228. Karl Marx/Friedrich Engels, „Deutsche Ideologie“, in: MEW, Band 3, S. 35.
6 Am ausführlichsten stellte Engels die Ideen für eine postkapitalistische Wirtschaft dar: Friedrich Engels: „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“, in: MEW, Band 20, S. 262−264.
7 Kohei Sato: Natur gegen Kapital: Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus. Frankfurt (M): Campus, 2016.
8 Karl Marx: „Kritik des Gothaer Programms“, MEW, Band 19, S. 20−21.
9 Für eine Übersicht über die Schätzungen siehe: Rudolf Mark/Gerhard Simon: „Die Hungersnot in der Ukraine und anderen Regionen der Sowjetunion 1932 und 1933“, Osteuropa Vol. 54, Nr. 12 (2004), S. 9. Für die Ursachen der Hungersnot siehe: Stephen Wheatcroft: „Die sowjetische und die chinesische Hungersnot in historischer Perspektive“, in: Matthias Middell/Felix Wemheuer (Hg.): Hunger, Ernährung und Rationierungssysteme unter dem Staatssozialismus. Frankfurt (M): Peter Lang, 2011, S. 87−126.
10 Der Begriff stammt von János Kornai: The Socialist System: The Political Economy of Communism. Princeton: Princeton University Press, 1992, S. 19−21
11 Josef Stalin: „Ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR“, in: J. W. Stalin Werke, Band 15. Dortmund: Verlag Roter Morgen, 1979, S. 308, S. 316−321.
12 Siehe: Li Hua-yu: Mao and the Economic Stalinization of China, 1948−1953. Lanham, MD: Rowman and Littlefield, 2006, S. 62.
13 Dieter Segert: „Staatssozialismus, ökonomische Entwicklung und Modernisierung in Osteuropa“, in: Joachim Becker/Rudy Weissenbacher (Hg.): Sozialismen: Entwicklungsmodelle von Lenin bis Nyerere. Wien: Promedia, 2009, S. 111.
14 Zur Debatte siehe zum Beispiel: Gunter Kohlmey: Der demokratische Weltmarkt: Entstehung, Merkmale und die Bedeutung für den sozialistischen Aufbau. Berlin (Ost): Verlag die Wirtschaft, 1955.
15 So zum Beispiel auch: Mao Tse-tung: „Über die zehn großen Beziehungen“, in: Ausgewählte Werke, Band V, Beijing: Verlag für Fremdsprachige Literatur, 1978, S. 321−323.
16 Darüber schrieb der DDR-Dramatiker Peter Hacks 1962 ein Theaterstück, in dem eine Brikettfabrik Produktionsrekorde bricht und Prämien bekommt, die Qualität des Produkts aber so schlecht ist, dass eine Glasfabrik die Planvorgaben nicht erfüllen kann. Das Stück wurde verboten. Peter Hacks: „Die Sorgen und die Macht“, in: Werke in fünfzehn Bänden, Band 3. Berlin: Eulenspiegel Verlag, 2003.
17 Das Konzept der Reformwellen in Osteuropa ist angelegt an: Włodzimierz Brus: