Mafiatochter - Aufgewachsen unter Gangstern. Karen GravanoЧитать онлайн книгу.
Ich dachte, er wäre Papas Chef im Baugewerbe oder so etwas.
»Ich musste jedenfalls tun, was zu tun war«, hörte ich meinen Vater sagen. »Scheiß’ auf Paul. Wenn wir in den Krieg ziehen müssen, dann tun wir das eben.«
Krieg? Wovon sprach mein Vater da?
Ich hörte, wie Onkel Eddie ihn unterbrach: »Ich habe dir gesagt, wir hätten die Finger davon lassen sollen.«
»Schon gut Eddie, hör auf zu jammern«, fauchte Papa.
Ganz offensichtlich stimmte etwas nicht. Vielleicht steckte mein Vater in Schwierigkeiten. Ich war mir sicher, dass es mit den Geschehnissen jenes Abends zu tun hatte, als mein Vater mit dem Revolver das Haus verließ. Ich begann, die Puzzleteile zusammenzufügen. Erst hatte ich ihn mit der Waffe gesehen, dann hatte ich erfahren, dass der Typ, der seinen Nachtclub kaufen wollte, ermordet worden war. Und jetzt sagte mein Vater, er habe »getan, was zu tun gewesen sei«.
Ich begann über all das nachzudenken, was ich in den vergangenen Jahren gesehen und nicht begriffen hatte; ich dachte daran, wie ich mit sechs die Pistole unter seiner Matratze entdeckt hatte, an die vielen Abende, an denen er sich mit Leuten getroffen hatte, die anders aussahen als die Väter meiner Freunde, und dass er erst spät nach Hause gekommen war.
Ich wollte noch ein wenig bleiben und weiter zuhören, fürchtete jedoch, entdeckt zu werden. Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich Dinge belauschte, die eindeutig nicht für meine Ohren bestimmt waren. ich krabbelte davon und ging durch die Vordertür zurück ins Haus.
In diesem Augenblick kam mein Vater zurück in die Küche.
»Ich dachte, du wärst reiten?«, sagte er.
»Ich habe keine Lust.« Ich spürte, dass mich mein Vater ansah, als wüsste er, dass ich gelauscht hatte.
»Alles klar mit dir?« Er sah mich seltsam an.
»Ja, warum?«
Er lächelte. »Komm, wir machen etwas Obst zurecht und bringen es den Jungs raus.«
Ich sah zu, wie er an der Küchentheke stand und sorgfältig die Schale von einer Wassermelone entfernte. Als ich ihm auf die Veranda folgte, beobachtete ich genau, wie er sich den Jungs gegenüber verhielt. Mein Vater war gelöst, unterhielt sich und genoss seinen Nachtisch. Er schien wieder ganz er selbst zu sein. Ich war verwirrt. Vielleicht hatte ich alles nur missverstanden.
Später an jenem Abend gingen Papa und ich zur Scheune, um das Licht auszuschalten. Snowflake scharrte in ihrer Box, glücklich, uns zu sehen. »Ihr geht für ein paar Tage zurück nach Staten Island«, sagte mein Vater.
»Warum das denn? Ich dachte, wir würden hier den ganzen Sommer bleiben?«
»So ist es auch«, lächelte er. »Trotzdem fahrt ihr für ein paar Tage zurück nach Staten Island.«
Da dachte ich wieder, dass doch etwas nicht stimmte – was ich eben gehört hatte, die Pistole, der Mann, der vor Papas Nachtclub ermordet worden war. Ich bekam es langsam mit der Angst.
»Papa, wenn du einmal sterben solltest, würden wir dann hier auf der Farm leben?«
Mein Vater blieb stehen. Er wandte sich zu mir und fragte: »Warum fragst du mich so etwas?«
»Ich weiß auch nicht. Ich möchte einfach wissen, ob wir auf Staten Island bleiben oder hierher auf die Farm ziehen würden.«
»Nun, ich glaube, darum musst du dir keine Sorgen machen, weil ich dir noch eine ganze Weile erhalten bleiben werde.«
Ich wusste nicht, dass man einen Killer auf ihn angesetzt hatte.
Am nächsten Morgen kamen Gerard und ich nach unten. Wir gingen hinaus zum Hühnergehege, um nach Eiern fürs Frühstück zu suchen. Die Hennen legten braune Eier, an die ich mich erst hatte gewöhnen müssen, aber inzwischen mochte ich sie gern. Wir fanden zwei Eier, doch eines zerbrach bei dem Streit darüber, wer sie tragen sollte. Mama sagte, wir müssten eins aus dem Kühlschrank nehmen; sie werde uns aber nicht sagen, wer welches Ei bekam. Gerard und ich mochten unsere Eier am liebsten kurz beidseitig gebraten. Wir nannten sie »Tunk-Eier«, weil wir unseren Toast immer in den Dotter tunkten.
Als wir das Thema Eier hinter uns gebracht hatten, kam Papa an den Frühstückstisch und benahm sich wie immer. Ich schaute ihn an und wusste nicht recht, was ich denken sollte. Am Abend zuvor hatte irgendetwas nicht gestimmt, aber er ließ es so aussehen, als wäre alles in Ordnung. Ich hatte zu große Angst, um Fragen zu stellen. Meine Mama wirkte ein wenig zerstreut. Als wir nach Staten Island aufbrachen, sagte sie zu meinem Vater, »ich liebe dich«, dann umarmte sie ihn, wie sie es sonst nicht tat. Da er jedoch völlig ruhig war, wurde ich nicht so nervös, wie ich es ansonsten vielleicht geworden wäre. Wir gingen zur Scheune, um mein Pferd zu füttern und uns zu verabschieden. Papa saß immer noch in der Küche. Ich gab ihm zum Abschied einen Kuss. »Wir sehen uns bald wieder«, sagte er. Mama hatte eine große, weiße Espressokanne aufgesetzt, und Papas Freunde saßen hinten auf der Veranda und tranken Kaffee.
Als wir zurück auf Staten Island waren, spielten gerade ein paar unserer Freunde draußen. Gerard und ich hüpften aus dem Wagen und rannten zu ihnen. Die beunruhigende Situation auf der Farm hatten wir vergessen. Ich war so aufgeregt, meine Freunde zu sehen. Es war, als wäre nichts geschehen. Papa kam ein paar Tage später aus Cream Ridge zurück. Ich war überglücklich, ihn zu sehen, und umarmte ihn extra lange. Ich blickte zu ihm auf, als könnte uns nichts geschehen, solange er uns beschützte. Er schien wieder ganz er selbst zu sein, nannte Gerard und mich sogar »Kiddies«. Nach dem Abendessen sagte er, ich solle ihm den Kopf massieren. Wenn ich länger aufbleiben wollte, spielten wir gern Kopf-, Gesichts- und Schultermassieren. Normalerweise tat er so, als müsste er mich dazu bestechen, mich bezahlen. Diesmal jedoch willigte ich sofort ein, weil ich mich so freute, ihn wieder zu sehen. Ich war einfach nur erleichtert.
An Frank Fiala dachte ich nicht mehr. Ich war zu jung, um zu begreifen, dass Mord zur Arbeitsplatzbeschreibung meines Vaters gehörte. Ich wusste nicht einmal, dass der Mord an Fiala gegen die Gesetze der Mafia verstieß, weil er nicht vom Boss, Paul Castellano, genehmigt worden war. Bevor man in dieser Welt einen Mord beging, musste man zuerst beim Capo der Familie anfragen. Ein nicht sanktionierter Mord kostete einen in der Regel das Leben. Papa saß tief in der Scheiße, aber ich wusste es nicht. Ich hatte noch sehr viel zu lernen.
Mein Vater war schon ein Gangster, bevor ich geboren wurde. Meine Eltern lebten in Bensonhurst, als ich am 8. Mai 1972 im Kreißsaal des St. John’s Catholic Hospital an der Fourth Avenue in Brooklyn das Licht der Welt erblickte. Meine Eltern, Debra Scibetta und Salvatore »Sammy« Gravano, hätten nicht stolzer sein können. Meine Mutter war achtzehn und mein Vater sechsundzwanzig. Sie waren noch »frisch vermählt« und erst seit etwas über einem Jahr verheiratet.
Diane, die Zwillingsschwester meiner Mutter, hatte die beiden einander vorgestellt. Sie kannte meinen Vater aus der Nachbarschaft. In Bensonhurst, dem Little Italy von Brooklyn, kannte jeder jeden. Endlose Blöcke identischer zweistöckiger Einfamilienhäuser mit kleinen eingezäunten Höfen und Parkplätzen auf der Straße reihten sich aneinander. In den Pizzerias und Bäckereien entlang der 18th Avenue sprachen alle Italienisch und kannten die Namen sämtlicher Babys in den Kinderwagen. Die Sonntage gehörten der Kirche, ausgedehnten Mahlzeiten und der Familie.
Meine Tante Diane war kontaktfreudiger als meine Mutter und mit mehr Leuten im Viertel bekannt. Meine Mutter war eher reserviert und sehr schüchtern und ging nicht besonders oft aus. Sie war eine hübsche Brünette, hatte eine tolle Figur und strahlte eine gewisse Unschuld aus. Mein Vater verliebte sich Hals über Kopf in sie. Kleider und Mode interessierten sie nicht, doch sie sah auf bescheidene Weise immer sehr nett aus. Was ihm am besten an ihr gefiel, war aber, dass sie nicht wie die Mädchen war, die seinen Nachtclub in Fort Hamilton besuchten, dickes Make-up trugen und sich wie Schlampen benahmen. Mein Vater fühlte sich sofort zu meiner Mutter hingezogen. Er sagte, er wisse, dass sie die Richtige für ihn sei. Er konnte sofort sehen, dass sie eine hingebungsvolle