Kranichtod. Thomas L. ViernauЧитать онлайн книгу.
wirklich konsequent genug gewesen war bei der Ermittlungsarbeit. Irgendwie hatte sein Chef es geschafft, die Arbeit auf der letzten Etappe zu sabotieren. Linthorf spürte dann wieder den Zusammenhalt des Klüngels, zu dem sich sein Chef bekannte und dem man mit normaler Polizeiarbeit nicht beikommen konnte.
Im Spätsommer hatte Linthdorf beschlossen, einen Schlussstrich zu setzen und sich dem Alltag und dem Jetzt zu widmen, da er sonst Angst bekam, in einer Depression zu versacken. Mit seiner ihm eigenen eisernen Disziplin begann er also wieder systematisch am normalen Leben teilzunehmen. Er traf sich mit seinen Freunden, ging abends öfters fort und fuhr an den freien Wochenenden auch wieder übers Land. Eine zerbrechliche Ausgeglichenheit stellte sich bei ihm ein.
Innerlich spürte er zwar noch immer den Unmut und das Unwohlsein, dass seit diesem letzten Winter in ihm rumorte, nach außen hatte er jedoch wieder seine ausgeglichene und ruhige Lebensart aufgenommen, so dass in seiner Umgebung keiner etwas von der seltsamen Unruhe Linthdorfs mitbekam. Manchmal glaubte er selber, dass alles wieder in bester Ordnung war. Aber dann schüttelte er diesen Trugschluss von sich ab. Spätestens wenn er an der Tür seines Chefs vorbei musste, war dieses unangenehme Gefühl wieder voll präsent.
Und just in diesem Augenblick, beim Anblick des friedlich ihm gegenüber sitzenden Dorfpolizisten Roderich Boedefeldt, stellte sich auch dieses Gefühl in voller Macht wieder in ihm ein, drängte sich in sein Gehirn und durchflutete wie ein dunkler Schatten sein Herz.
Beim Anblick dieses Mannes fiel ihm wieder seine Kollegin Louise Elverdink ein, die er seit dem Ende der Ermittlungen nicht mehr gesehen hatte und die bei ihm so etwas wie ein kleines Tauwetter ausgelöst hatte. Er wollte sich selbst nicht eingestehen, dass Louise ihm weit mehr bedeutete als nur eine kompetente Kollegin. Andererseits hatte er auch keine große Lust, sich wieder auf unbekanntes Glatteis zu begeben. Zu oft hatte er schon böse Einbrüche erlebt. Die Zeiten der Erholung wurden von Mal zu Mal immer länger und die Herzschmerzen erreichten ein Ausmaß, welches es selbst ihm mit seiner Selbstdisziplinierung immer schwerer machte, den Alltag zu meistern. Allerdings ahnte er auch, dass die Art und Weise zu leben, die er seit der Trennung von seiner Frau führte, keine große Zukunft hatte.
Ein ständiges Unzufriedensein hatte sich in ihm eingenistet. Linthdorf konnte es nur schwer beschreiben, denn eigentlich ging es ihm ja leidlich gut. Er hatte einen festen Job, der recht aufregend war, zwei wohl geratene Kinder, einen stabilen Freundeskreis, dennoch nagte das Unwohlsein an seinem Gemüt. Meistens ließ er solche Gedanken nicht zu. Dann flüchtete er in die Arbeit, oder, falls es mal so etwas wie Freizeit gab, trieb es ihn hinaus aus der engen Stadtwohnung ins Brandenburgische. Das war der eigentliche Grund für seine guten Kenntnisse der Mark. Endlos die Wege, die er befahren hatte, endlos auch die Zeiten, die er hier in der Einsamkeit verbrachte. Er war ein Eigenbrötler geworden ohne es zu merken.
Schmerzlich wurde ihm das bewusst, als er sich nach der Trauerfeier für Alfred Stahlmann von ihr verabschiedete. Die Zusammenarbeit mit ihr hatte ihn beflügelt. Er hatte sich an ihre dunkle Stimme und den leichten Duft nach ..., ja, wonach duftete Louise überhaupt? Linthdorf hatte eine Idee, die ihm aber zu verwegen erschien. Er kramte in seiner Manteltasche nach seinem Handy, durchforstete seinen Speicher und lächelte einen kurzen Moment später. Jetzt konnte er sich auch entspannt dem Dorfpolizisten zuwenden.
»Ja, Mensch Boedefeldt, klar kenn’ wir uns!«
»Was hat Sie denn hierher verschlagen?«
»Na, die Kraniche und natürlich der Fisch.«
Linthdorf grinste und zeigte auf seinen reichlich gefüllten Pappteller. Boedefeldt lachte und verwies ebenfalls auf seinen Teller. »Wir ha’m denselben Jeschmack. Jeräucherter Stör is wat janz feines ... Hmm!«
Linthdorf nickte wissend.
»Und wie geht’s sonst so? Viel Arbeit? Was macht denn Ihre nette Kollegin aus Brandenburch?«
»Naja, der übliche Kram. Viel Büroarbeit, viele Überstunden, wenig Freizeit. Sie kennen das ja. Und meine nette Kollegin ... Ja, also, die ist wieder in Brandenburg an der Havel. Hab sie lange nicht mehr gesprochen.«
»Mein Jott, Linthdorf! Die Frau ist doch ne wahre Sahneschnitte und sie ijnorieren se! Det kann doch nich wahr sein! Wie die Ihnen hinta her jekuckt hat ..., also, Mann o Mann! Det müssten se doch jespürt ha’m.«
Linthdorf war irritiert. Was der Dorfpolizist ihm da so leicht entrüstet zwischen zwei Fischhappen erzählte, lief ihm wie ein warmer Schauer den Rücken hinunter. Krespel und seine beiden Jungs beschäftigten sich glücklicherweise mit irgendwelchen bunten Heftchen und waren damit abgelenkt.
Verlegen lächelte er Boedefeldt an.
»Na ja, so richtig Zeit hatte ich bisher nicht.«
»Ach, kommen se, Linthdorf, Sie sind doch kein Kostverächter, nee, so sehnse wirklich nicht aus!«
»Ja, vielleicht sollte ich ...«
»Na klaar, sollten se ..., so lange ist die Frau nicht mehr frei auf’m Markt. Det können se mia glauben!«
Eigentlich war Linthdorf das Thema inzwischen zu privat geworden, aber was er da von dem Mann vor sich erfuhr, war viel zu interessant, um abzulenken. Dennoch wurden die beiden jäh unterbrochen. Ein älterer Herr im Pfadfinder-Outlook hatte sich plötzlich zu ihnen gesellt. Boedefeldt begrüßte ihn gleich überschwänglich: »Tach auch, Herr Professor!«
Der Angesprochene winkte ab: »Lassen se mang jut sein. Keine Titel, keine übertriebene Höflichkeit.« Dabei lächelte er kurz.
»Ach was, kommen se ran. Ich hab hier noch Platz jenuch.«
Der Mann im Tarnanzug rutschte vorsichtig mit auf die Bank. In seinen Händen war ebenfalls ein Pappteller, gefüllt mit Matjesheringen, Zwiebelringen und einer weißen Tunke.
Boedefeldt schielte genießerisch auf den Inhalt der runden Pappe: »Hmm, Herr Professor, aba da wissense schon, wat jut schmeckt!« Dabei ließ er wieder sein ansteckendes, dröhnendes Lachen ertönen.
Professor Dr. Dr. Horst Rudolf Diestelmeyer, Experte für Ornithologie, spezialisiert auf die seltenen Lemikolen, saß wie ein Häufchen Unglück neben dem runden Polizisten. »Ach, Boedefeldt, mir geh’n immer noch die armen Kraniche nicht aus’m Kopp. Nachts träum’ ich schon von diesen schrecklichen Bildern. Das ist viel schlimmer als die Sache mit der nackten Toten im Rhin. Wissen se, da war kein Blut bei, aber hier ... Alles voller Blut, ein Massaker!«
Boedefeldt nickte. Er war ja mit dabei gewesen, als der Professor die toten Kraniche gefunden hatte. Ein Skandal für das kranichverrückte Linum. Keinem der Bewohner war so etwas zuzutrauen und dennoch war es geschehen. Es konnte nur ein Insider sein, also ein Mensch mit spezieller Ortskenntnis. Aber alle Ermittlungen waren ins Nichts verlaufen. Boedefeldt blickte kurz zu seinem riesenhaften Gegenüber. Wenn einer etwas Licht in dieses ominöse Kranichmassaker bringen konnte, dann war es dieser Mann. Er räusperte sich und setzte zu einer kurzen Rede an. Linthdorf lauschte dem ungeheuerlichen Bericht des Dorfpolizisten. Der Professor warf ab und an ein paar Worte mit ein, um dem Ganzen etwas mehr Nachdruck zu verleihen.
Dann war plötzlich Ruhe. Boedefeldt und Diestelmeyer schwiegen, Linthdorf hatte aufgehört, seine Fischhappen weiter zu essen. Es dauerte noch mindestens ein paar Minuten bevor er mit leiser Stimme fragte: »Haben Sie Fotos vom Fundort? Gab es eine kriminaltechnische Untersuchung des Fundortes?«
Boedefeldt nickte. »Ick hab den janzen Vorjang bei mir im Büro. Kommense ma nachher rüba zu mia. Denn zeich’ ick Ihnen allet.«
II
Eine kurze Meldung im Ruppiner Tagesblatt
Rubrik »Was sonst noch passierte ... «
Tierquälerei
Unbekannte Täter haben im Naturschutzgebiet im Rhinluch unweit des Storchendorfes Linum zahlreiche Kraniche mit unzulässigen Schlingen gefangen und getötet. Der Naturschutzbund NABU und die örtlichen Polizeiorgane haben die Ermittlungen aufgenommen.
III
Berlin - Friedrichshain
Sonntag,