Der weiße Adler. Thomas WünschЧитать онлайн книгу.
Ein Pole oder ein freier Mann gleich welcher Sprache, der dort ein Haus besitzt, muss sich deutsches Recht gefallenlassen […]. In der Stadt hat der Stadtherr [= der Herzog] zehn Fleischbänke, die er zu seinem Nutzen verwenden kann, der Richter [iudex = Erbvogt] die übrigen, und ebenso andere Bürger, denen er sie überlassen hat. Wir gestatten ihnen auch, innerhalb des erwähnten Flussabschnitts Mühlen zu bauen, soviel sie können. […] Darüber hinaus gestatten wir ihnen, einen Jahrmarkt einzurichten, entsprechend dem Willensentscheid aller. […] Alle Dörfer im Umkreis einer Meile sollen von dieser Stadt ihr Recht holen, wobei sie den Rechtsspruch verkündet. Um schwerere Gefahren zu vermeiden […], haben wir versprochen, die Stadt innerhalb von zwei Jahren zu befestigen […].«
Damit ist die Lokation der Stadt Brieg erfolgt. Spezialisten für Siedlungsunternehmungen, Lokatoren, sorgten dafür, dass die Stadtanlage praktisch umgesetzt wurde; der Landes- bzw. Stadtherr stellte sich hinter die neu angelegte Siedlung und stattete sie mit Rechten aus, die einen wirtschaftlichen Erfolg in der Zukunft versprachen. Aus einer slawischen Stadt wurde so eine deutschrechtliche Gründungsstadt, deren Gründungsurkunde in seltener Ausführlichkeit praktisch alles enthält, was man sich als (Neu-)Bürger wünschen konnte. Vom westlichen Stadtrechtsmodell her bekannt war bereits, dass ein fest umrissener Raum und seine Bewohner privilegiert wurden. Selbstverständlicher Bestandteil jeder Stadtrechtsverleihung waren die persönliche Freiheit der Bürger, die Zollfreiheit und die Gewährung begrenzter Monopole. Der tatsächliche Inhalt der Privilegien wurde indessen zwischen dem Herrn und seinen Bürgern jeweils neu ausgehandelt. Sie betrafen die Verwaltung der Stadt, das Gerichtswesen und das Wirtschaftsleben. In allen diesen Bereichen schnitt Brieg gut ab; zu erwähnen sind hier nur die Faktoren, die auch für die anderen polnischen (und ostmitteleuropäischen) Lokationsstädte kennzeichnend sind:
Verliehen wird ein festes Recht, hier das Magdeburger Stadtrecht in seiner Neumarkter Variante. Damit trat die zu diesem Recht umgesetzte Stadt in eine Stadtrechtsfamilie ein. Das bedeutet, dass die letzte gerichtliche Instanz, der Oberhof, in Magdeburg lag und ein Rechtszug (im Sinne einer Anfrage vor der Urteilsfindung) dorthin erfolgen musste. In der Praxis haben die Landesherren aber immer wieder diesen Rechtszug abgeschnitten und Oberhöfe in ihren eigenen Territorien errichtet; so Neisse für das Bistumsland Breslau oder später Krakau für Polen. Das neue Recht galt für alle Bewohner, gleich welcher Herkunft (seien es Slawen oder Deutsche). Nicht eingeschlossen waren normalerweise andere Religionsgemeinschaften wie die Juden; sie bekamen gesonderte Privilegien, beispielsweise in Form von Judenschutzbriefen, wie sie im 12. und 13. Jahrhundert in Großpolen und Schlesien ausgestellt wurden. Zweitens bezog das neue Recht auch das ländliche Umfeld mit ein. So entstanden Stadt-Land-Bezirke (sogenannte Weichbilder), die sich – im besonderen Falle Schlesiens – wie ein Netz über das ganze Land legten. Der Warenaustausch und damit die Wirtschaftskraft profitierten davon enorm. Drittens sollten die Freijahre der Stadt wirtschaftlich auf die Beine helfen. Dem dienten auch die zahlreichen Erlaubnisse für Fischfang, Jagd, Mühlenbau, Holzschlag und Jahrmarkt (Letzterer ausgestattet mit einem eigenen Marktrecht, dem ius fori). Die Markt-Wirtschaft zeigte sich auch im Stadtgrundriss als »Markt« oder »Ring«. Schließlich ist festzustellen, dass sich der Stadtherr rechtlich und administrativ teilweise aus dem Gemeinwesen zurückzog. Diese Gratwanderung zwischen Souveränität und wirtschaftlicher Prosperität war jedoch immer problematisch – konnte sie doch zur Emanzipation der Städte führen, was der Stadtherr natürlich vermeiden wollte. Eine Besonderheit Polens (und ganz Ostmitteleuropas) ist, dass die fürstliche Stadtherrschaft dank des deutschen Rechts nie so strangulierend war wie im Moskauer Reich, aber auch nie so weitgehend durchlöchert werden konnte wie etwa in Oberitalien oder in vielen Städten des Römischdeutschen Reichs.
Der durch Kolonisation erzeugte kulturelle Wandel führte in der Regel zu »gelungenen« Prozessen der ethnischen Vermischung. Dennoch sollte man sich vor einem allzu homogenen Bild hüten. Es gab auch kulturelle Abwehr, und zwar auf allen Ebenen: Die Geistlichen wehrten sich dagegen, dass Pfründen an eingewanderte Amtsbrüder gelangten; die Ritter fanden sich nur ungern damit ab, dass deutsche Konkurrenten nun bei Hof in privilegierte Stellungen kamen; die einheimische Bevölkerung der Städte registrierte mit Missvergnügen, wenn neue Bevölkerungsgruppen (wie Deutsche oder Juden) mit Sonderrechten ausgestattet wurden; und auch die städtischen Gremien wie Zünfte oder der Rat zeigten Tendenzen zur ethnischen Ausgrenzung – wenn auch jeweils sehr genau zu prüfen ist, aus welchen Motiven. Nationsbildung ereignete sich immer auch im Gegeneinander, und das betraf nicht zuletzt die kirchliche Hierarchie. Diese befürchtete nicht nur eine Einbuße bei der Postenverteilung, sondern auch eine Spaltung der kirchlichen Einheit. Gerade die Kirche als einzige Institution, die imstande war, eine gesamtpolnische Politik zu führen, stellte sich an die Spitze der Anhänger einer Vereinigung der polnischen Teilfürstentümer. Dies betraf insbesondere die Kirchenführung, vor allen anderen die Erzbischöfe von Gnesen. Unter ihnen tat sich Jakob świnka (reg. 1283–1314) als Verteidiger des Polentums und Kämpfer für die Unabhängigkeit der kirchlichen Strukturen in der Gnesener Provinz hervor – was ihn auch zu einem Protagonisten der Wiedervereinigung Polens machte. Der Antagonismus gegen die Fremden verursachte Maßnahmen, welche die Förderung der polnischen Sprache in der Kirche bezweckten; damit sind wohl auch die ältesten erhaltenen Texte von Predigten und Kirchenliedern in polnischer Sprache verbunden (darunter die ersten Strophen des Gesanges Bogurodzica, dt. »Gottesgebärerin«). Doch gibt es auch Kehrseiten dieser Entwicklung, wofür die Politik des Gnesener Erzbischofs świnka steht.
Das Römisch-deutsche Reich hatte seit dem 10. Jahrhundert für die polnische Kirche als Vorbild gedient, es gab kulturellen Austausch und einen Transfer von Priestern. Über eine lange Zeitstrekke hinweg war dies kaum hinterfragt worden. Die Situation veränderte sich jedoch grundlegend, als im 13. Jahrhundert eine massive Immigration von Deutschen nach Polen einsetzte. Deren Anteil machte sich nicht nur in der Landwirtschaft und den städtischen Berufen oder an den adeligen Höfen bemerkbar, sondern auch im (polnischen) Klerus. Streit kam auf, wer die begehrten kirchlichen Ämter und Pfründen besetzen sollte – und dieser Streit wurde zum Konflikt zwischen den recht verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Deutschen und der Polen. Nimmt man die Perspektive eines »national« gesonnenen Kirchenfürsten ein, dann mussten die Germanisierung Schlesiens und die unübersehbare Präsenz des deutschen Einflusses auch in den anderen polnischen Landesteilen wie eine Bedrohung aussehen.
Genau diese Sicht verkörperte der Gnesener Erzbischof świnka. Er ist einer der Hauptprotagonisten in einem ab diesem Zeitpunkt fassbaren Diskurs um die Bewertung der deutschen Immigration und der Folgen eines kulturellen Wandels in Polen. Seine Antwort war eine explizite Fremdenfeindlichkeit, die nach dem Zeugnis des zeitgenössischen Chronisten Peter von Zittau so weit ging, dass er alle Deutschen pauschal nur noch als »Hundsköpfe« abzuwerten pflegte. Doch sollte man sich von solchen Entgleisungen, wenn sie denn stimmen, nicht irreführen lassen: Mindestens dieselbe Energie wie zur Verunglimpfung der Fremden legte der Kirchenfürst bei der Förderung des Eigenen zu tage. Die Provinzialstatuten, die in seiner Amtszeit für das Erzbistum Gnesen erlassen wurden (1285), spiegeln das. Es sind Anweisungen für das Verhalten des Klerus in seinem Sprengel, und die waren geleitet von dem Bedürfnis, »die polnische Sprache zu schützen und zu fördern« (ad conservacionem et promocionem lingwe Polonice). In der Praxis hieß das, dass die Priester in ihren Gemeinden regelmäßig die zentralen Teile des Glaubensbekenntnisses, des Vaterunsers und des Ave Maria in polnischer Sprache vermitteln sollten. Das Sündenbekenntnis sollte ebenfalls auf Polnisch geleistet werden, und die Einstellung von Lehrern und Seelsorgern sollte davon abhängig gemacht werden, dass diese Berufsgruppen die polnische Sprache beherrschten. Es ging dem Gnesener Erzbischof mit diesen klaren Anweisungen, die übrigens sein Nachfolger auf der Provinzialsynode von 1326 bestätigte, um den Stellenwert des Polnischen und die Seelsorge in der Sprache der Einheimischen. Man vergleiche die Situation in Schlesien, wo Synodalstatuten von 1406 und 1446 das Vaterunser, das Ave Maria und das Glaubensbekenntnis in deutscher und polnischer Sprache festhielten – also einen expliziten Beitrag zur Zweisprachigkeit und zur Gleichberechtigung der sprachlichen Kontexte leisteten.
Im Fall świnkas war es damit aber nicht getan. Seine Auseinandersetzung mit dem Krakauer Bischof Jan Muskata (1295–1320) zeigt, dass der Diskurs über die Förderung der autochthonen Kultur hinausging und eine Polarisierung stattgefunden hatte. So, wie man świnka zuschrieb, die Deutschen gezielt zu