Miryams Geheimnis. Ruth GogollЧитать онлайн книгу.
hatte . . . Sie war jung. Sehr jung. Warum war sie nur bei diesem strömenden Regen mit dem Roller gefahren? Und das auch noch bei Dunkelheit?
Na ja, in dem Alter machte man sich noch nicht viele Gedanken über Risiken. Als Teenager hielt man sich für unsterblich. So alt war Miryam auch noch nicht, dass sie sich daran nicht mehr erinnern konnte.
Wahrscheinlich war diese junge Frau auf dem Weg zu irgendeiner Party gewesen, die ihr wichtiger war als die Wetterverhältnisse oder die Gefahren, die damit einhergingen. Miryam hatte um diese Tageszeit meistens noch berufliche Termine. An Party war da noch lange nicht zu denken.
Aber daran lag ihr auch nichts. Partys waren etwas für Leute, die zu viel Zeit hatten und zu wenig Verstand, um zu erkennen, dass sie damit ihre Zeit nur noch mehr verschwendeten, als sie es ohnehin taten.
Dennoch musste sie sagen, dass diese junge Frau ihr nicht so erschien, als hätte sie keinen Verstand. Miryam hatte kaum ein paar Worte mit ihr gewechselt, und doch war ihr der intelligente Blick aufgefallen, der sie kurz getroffen hatte, bevor sie ging.
Zwar war dieser Blick noch von Schmerzmitteln verschleiert gewesen, aber Miryam war wirklich ein Stein vom Herzen gefallen, als die bleiche Gestalt da im Bett die Augen aufschlug. Es hatte sehr lange gedauert, bis sie aufgewacht war, und während der ganzen Zeit, als sie auf dem Rücksitz von Miryams Wagen lag, hatte Miryam besorgt nach hinten geschaut, so oft sie konnte. Wieso war sie nicht aufgewacht, als sie sie in den Wagen gebracht hatte? Gehirnverletzung?
Aber dann hatte sie der noch nicht ganz wache, aber dennoch wissbegierige Blick aus diesen blauen Augen getroffen, und sie war mit einem Schlag beruhigt gewesen. Obwohl er etwas verwirrt und orientierungslos gewirkt hatte – völlig verständlich, wenn man plötzlich in einem Krankenhauszimmer aufwachte und nicht wusste, wie man dahingeraten war –, sah das absolut nicht nach Gehirnverletzung aus.
Sie hatte nicht bleiben können, weil sie einem Kundenehepaar versprochen hatte, heute Abend zu ihnen nach Hause zu kommen, wenn der Mann auch einmal zu Hause war. Er kam immer sehr spät von der Arbeit, und so hatte sie bisher nur mit der Frau als Auftraggeberin gesprochen. Die war aber anscheinend nicht sicher, ob ihr Mann mit ihren Wünschen einverstanden sein würde.
Das war nicht ungewöhnlich, aber diesmal fühlte sie sich beschwingter als sonst, als sie zu der Adresse fuhr. Es war alles gutgegangen, die junge Frau würde sich erholen, und jetzt im Krankenhaus war sie erst einmal gut versorgt.
Nach ihrem Termin fuhr sie nach Hause und saß dort in ihrem Arbeitszimmer noch eine ganze Weile am Schreibtisch, um die Wünsche der Kunden auf die Pläne zu übertragen. Der Mann hatte einiges zu meckern gehabt, aber Miryam hatte den Eindruck, das tat er immer. Schon aus Prinzip. Die Beziehung zwischen den beiden war ziemlich klischeehaft. Er bestimmte, sie gehorchte.
Miryam sah das öfter, und sie fragte sich, wie so eine Beziehung funktionieren konnte. Für sich selbst wünschte sie sich das nicht und konnte es sich auch nicht vorstellen. Im Büro musste sie sehr viel bestimmen, und es lag in gewisser Weise auch in ihrer Natur, aber sie wollte nicht, dass andere immer nur gehorchten. Sie schätzte diejenigen ihrer Mitarbeiter am meisten, die nicht nur einen Auftrag ausführten, den sie ihnen erteilt hatte, sondern auch selbst mitdachten. Die auch einmal widersprachen, wenn sie anderer Meinung waren oder eine gute Idee hatten, auf die Miryam noch nicht gekommen war.
Sie wusste, dass viele Leute sie anders sahen. Sie war eine erfolgreiche Geschäftsfrau in einer Männerwelt, in der alle es völlig normal fanden, wenn ein Mann über andere bestimmte und ihnen Befehle und Aufträge erteilte, das bei einer Frau aber immer negativ betrachtet wurde. So als ob es nicht dasselbe wäre.
Zudem hatte sie nicht die ausgesprochen weibliche Art ihrer Mutter geerbt, die mit einem Lächeln fast alles erreichen konnte, sondern die eher herbe Art ihres Vaters. Man hätte es auch herrisch nennen können. Was bei ihm jeder akzeptiert hatte. Er war eben ein Mann, der wusste, was er wollte. Wenn Miryam dasselbe tat, wurde sie als mindestens anmaßend betrachtet. Wenn nicht Schlimmeres. Sie hatte da schon einiges an Bezeichnungen gehört.
Diese junge Frau da im Krankenhaus . . . Die hatte das Problem bestimmt nicht.
Miryam lächelte. Und das tat sie nicht oft. Es gab Menschen, die hatten eine Ausstrahlung, die einen einfach zum Lächeln brachte. Diese junge Frau gehörte dazu. Sie hatte kaum ein Wort mit ihr gesprochen, sie nur eine Weile betrachtet, nachdem sie ins Zimmer gebracht worden war und noch im Bett schlief, und doch hatte sie sich so ihre Gedanken über sie gemacht.
Warum, das wusste sie noch nicht einmal so genau. Die halblangen blonden Haare lockten sich etwas auf dem Kissen, vielleicht wegen der Feuchtigkeit des Regens, die sich auch unter dem Motorradhelm gefangen hatte, und Miryam erschien es so, als hätte das etwas von Engelshaar.
Sie lachte über sich selbst, als ihr dieser Gedanke kam. Denn wer stand schon auf Engel? Bisher hatte sie allerdings auch noch keine Frau kennengelernt, die dieser Bezeichnung entsprach. Angefangen bei ihrer Mutter.
Die meisten Frauen, die sie kennenlernte, hatten nichts Engelhaftes an sich. Es ging immer um einen bestimmten Zweck, den die Begegnung erfüllen sollte. Manchmal Sex, manchmal etwas anderes. Niemand ließ sich mit jemand anderem ein, wenn er keinen Vorteil davon hatte. Auch wenn es vielleicht nur ein kurzzeitiger war und man sich gleich nach dem Orgasmus verabschiedete.
Miryam war das eigentlich ganz recht, denn sie hatte nicht viel Zeit für private Beziehungen. Sie arbeitete so gut wie fast immer. Nur zum Schlafen ging sie nach Hause. Dort lief alles auch ohne sie reibungslos.
Wäre es anders gewesen, wenn dort so jemand wie diese junge Frau auf sie gewartet hätte? Abwehrend schüttelte sie den Kopf. Was für ein dummer Gedanke. Dennoch konnte sie sich nicht ganz davon lösen. Sie sah dieses weiche, noch etwas mitgenommene Gesicht vor sich, das sie aus dem Krankenhauskissen angeschaut hatte.
Das war kein Gesicht, wie sie es normalerweise sah. Es hatte etwas . . . Besonderes. Eine Art von Unschuld, von der sie glaubte, dass es sie eigentlich gar nicht geben könnte. Nicht mehr. Oder höchstens noch bei Kindern.
»Guten Morgen, Frau Marhold«, riss sie eine freundliche Frauenstimme aus ihren Gedanken.
Miryam blickte auf. »Guten Morgen, Frau Hein«, begrüßte sie ihre Assistentin. »Sie sind schon da?«
Fragend hob Ulrike Hein die Augenbrauen. »Wie immer. Ich bin nicht früher als sonst.«
Unwillkürlich warf Miryam einen Blick auf die Uhr. »Ach ja, tatsächlich«, sagte sie überrascht. Es war ihr gar nicht aufgefallen, wie die Zeit verflogen war, während sie sich in Gedanken mit all dem beschäftigte, was ihr keine Ruhe ließ.
Sie stand auf. »Dann gehe ich mal. Sie halten ja jetzt hier die Stellung.«
Ulrike Heins Stirn runzelte sich. »Aber Ihr Termin ist doch erst in einer Stunde.«
»Ja«, bestätigte Miryam. »Aber ich muss vorher noch etwas erledigen.«
3
»Ich scheine immer zu kommen, wenn Sie schlafen.« Eine leicht amüsierte Stimme drang wie durch einen Nebel zu Ella.
Ihre Augenlider, schwer wie Blei, verweigerten jeglichen Befehl, sich zu öffnen.
Auf einmal hörte sie lautes Geklapper.
»Ah, Frühstück«, sagte die amüsierte Stimme.
Ella verspürte nicht den geringsten Appetit, aber jetzt, da sie langsam wach wurde, kehrten ihre Sorgen wie in einer blitzartigen Erinnerung zurück. »Inka . . .«, stöhnte sie, ohne die Augen zu öffnen.
»Eigentlich heiße ich Miryam«, erwiderte die amüsierte Stimme.
Konzentration. Ella stellte sich vor, an ihren Augenlidern wären oben Magnete befestigt, die sie hochzogen. Es schien zu funktionieren. Aus einer sehr verschwommenen Wahrnehmung wurde ein etwas klareres Bild, und auch wenn sie die Stimme nicht gleich erkannt hatte, konnte sie sie doch sofort mit dem Bild in Verbindung bringen, als sie die Frau nun sah.
Erneut hielt sie einen Kaffeebecher aus einem Automaten in der Hand.