Miryams Geheimnis. Ruth GogollЧитать онлайн книгу.
drehte einen Teil des Tisches über das Bett und raste wieder aus dem Zimmer hinaus.
Ella schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, da das Tablett rechts von ihr und viel zu weit entfernt war, um es in ihrem Zustand überhaupt erreichen zu können. Aber was auch immer sie hätte sagen können, die junge Frau, die das Tablett gebracht hatte, war längst verschwunden.
»Keinen Hunger?«, fragte Miryam.
»Das auch nicht.« Ella verzog das Gesicht. »Aber auf der rechten Seite bin ich etwas behindert«, sie wies mit ihrem Kinn auf die Schulter in der Schlinge, »und könnte noch nicht einmal essen, wenn ich das wollte, weil ich das Tablett gar nicht heranziehen kann.«
»Dem kann man abhelfen.« Miryam trat auf sie zu und drehte das Tablett ganz über ihr Bett bis fast an ihre Brust.
Ella lachte leicht verlegen und rollte die Augen. »Und alle Knöpfe sind an der rechten Seite. Würden Sie bitte auch noch das Kopfende hochfahren?«
Mit einem suchenden Blick tastete Miryam die Seite des Bettes ab, fand die Fernbedienung und fuhr das Kopfende hoch, bis Ella »Danke, das ist genug« sagte.
Dennoch begann Ella nicht zu essen, sondern schaute unruhig zur Tür.
»Erwarten Sie jemanden?«, fragte Miryam.
»Die Schwester.« Ella atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Jemand muss sich um Inka kümmern. Sie ist seit gestern allein in der Wohnung. Ich war gerade auf dem Weg zurück, als –«
»Ihre Tochter?«, fragte Miryam.
Schmunzelnd schüttelte Ella den Kopf. »Meine Hündin.« Dann verschwand das Schmunzeln von ihrem Gesicht, machte einem besorgten Ausdruck Platz. »Ich muss meine Nachbarin anrufen. Sie hat einen Schlüssel.« Ihr Blick wanderte zu der Schublade am fahrbaren weißen Nachttisch.
Miryam nahm den Blick wahr und zog die Schublade heraus. Als sie das Handy in die Hand nahm, runzelte sie die Stirn. »Ich glaube, es hat keinen Strom mehr.«
Für einen Augenblick wurde Ella von Verzweiflung erfasst, und sie fühlte Tränen in ihre Augen steigen.
»Wie ist die Nummer?«, fragte Miryam. »Ich rufe an.«
Ella schluckte die Tränen herunter und rief sich die Zahlen mühsam ins Gedächtnis. Sie hoffte, dass es die richtigen waren, denn normalerweise verließ sie sich darauf, dass sie alle Nummern in ihrem Handy gespeichert hatte.
Miryam reichte ihr das Handy, während die Verbindung hergestellt wurde, hielt es aber automatisch an Ellas rechte Seite, da sie auf dieser Seite des Bettes stand.
»Links bitte«, sagte Ella.
»Ja, natürlich.« Schnell korrigierte Miryam die Richtung und bewegte das Handy nun vor Ellas linke Hand, die sich ihr entgegenstreckte.
Ella nahm es und wartete darauf, dass ihre Nachbarin abnehmen würde. Aber das tat sie nicht. Immer angespannter wurde ihr Gesichtsausdruck.
»Kein Netz?«, fragte Miryam.
Ella schaute auf das Display. »Doch, aber sie nimmt nicht ab.«
»Vielleicht hat sie das Handy nicht immer dabei.« Miryam runzelte die Stirn, und obwohl Ella unruhig darauf wartete, dass ihre Nachbarin abnehmen würde, bemerkte sie, dass unter dieser Stirn ein interessantes Augenpaar sie beobachtete. Sich darüber Gedanken zu machen, warum sie das interessant fand, dafür hatte sie im Moment allerdings keine Zeit.
»Kann sein«, antwortete sie. Als das Handy auf die Ansage des Anrufbeantworters umschaltete, sprach sie hastig eine Nachricht auf. Nervös beendete sie danach die Verbindung. »Inka ist ganz allein. Sie braucht Fressen und Wasser. Und sie muss raus.« Ihr Blick wanderte zum Knopf für die Schwester. »Können Sie vielleicht die Schwester rufen?«
»Die wird sich auch nicht darum kümmern«, sagte Miryam. Sie verzog etwas das Gesicht. »Ehrlich gesagt stehe ich nicht auf Hunde, aber ich kann in die Wohnung gehen. Wenn Sie mir den Schlüssel geben . . .«
»Das kann ich nicht von Ihnen verlangen.« Ella fühlte sich hilflos und verlegen. »Es war ja schon sehr nett, dass Sie mich ins Krankenhaus gebracht haben. Und dass Sie mich heute noch einmal besuchen.« Erst jetzt war sie überrascht, als sie darüber nachdachte. Bisher hatten andere Gedanken ihre Aufmerksamkeit davon abgezogen.
»Wo wohnen Sie?«, fragte Miryam. Sie griff in die immer noch offenstehende Schublade und zog einen Schlüssel heraus. »Ist das Ihr Wohnungsschlüssel?«
Ella nickte. »Aber Sie müssen nicht –«
»Ich muss los«, unterbrach Miryam sie. Sie lächelte leicht. »Termine, Termine. Sagen Sie mir einfach, wo ich hinmuss, dann fahre ich schnell dort vorbei.«
Die Sorge um Inka ließ alles andere in den Hintergrund treten. Ella gab Miryam ihre Adresse. »Meine Nachbarin wird bestimmt da sein«, fügte sie entschuldigend hinzu. »Vielleicht hat ihr Handy auch nur keinen Strom.«
»Mit dem Schlüssel ist das kein Problem«, rief Miryam schon im Hinausgehen, während das Schlüsselbund in ihren Fingern klimperte. »Da brauche ich Ihre Nachbarin nicht.«
Die Frau lebt anscheinend auf der Überholspur, dachte Ella verblüfft. Keine Zeit, keine Zeit. Das schien ihre Devise zu sein.
Umso erstaunlicher war es da, dass sie sich um Ella gekümmert hatte. Nicht nur hatte sie sie ins Krankenhaus gebracht, sondern verschwendete ihre kostbare Zeit auch noch an einen weiteren Besuch. Und die Folgen davon, wie zum Beispiel einen Abstecher zu Inka.
Wer war sie? fragte Ella sich. Bis auf ihren Vornamen wusste sie bislang nichts von ihr. Außer dass sie ziemlich . . . nun ja . . . gut aussah. Elegant irgendwie, und doch schien es so, als könnte sie auch ganz anders sein. Ihre Durchsetzungsfähigkeit stand wohl außer Frage.
Sie war wie eine dieser Frauen, die man immer in Werbespots sah. Die morgens supergestylt das Haus verließen und abends genauso zurückkehrten, ohne dass auch nur ein Härchen der perfekten Frisur verrutscht war. Die irgendwelche Vorträge hielten, charmant und kompetent, als ob das nichts wäre.
Ella fühlte sich selten so kompetent, und charmant . . . also da spielte Miryam offenbar in einer ganz anderen Liga. Verglichen mit ihr hätte Ella sich selbst eher in die Kategorie Trampel eingeordnet, obwohl sie das durchaus nicht immer so sah. Sie konnte schon etwas aus sich machen, wenn sie wollte, nur hatte sie selten Lust dazu – und ehrlich gesagt noch viel weniger Anlass.
Früher war sie auch einmal auf die eine oder andere Party gegangen, aber mittlerweile arbeitete sie so viel, dass sie sich in ihrer knappen Freizeit eher erholen wollte als sich noch mehr zu verausgaben. Zudem gaben ihr Partys nichts. Oberflächliche Musik, oberflächliche Leute, oberflächliche Gespräche – das war nichts als Zeitverschwendung. Da schlief sie lieber ein paar Stunden mehr in der Nacht.
Sie schloss ihre Augen und stellte sich die von Miryam vor. Interessante Augen, hatte es kurz in ihrem Kopf aufgeblitzt, und wenn sie länger darüber nachdachte, wurde ihr jetzt auch klar, warum.
Miryams Augen waren grau, aber sie strahlten, als wäre Grau eine faszinierende Farbe.
4
Warum habe ich das gesagt? dachte Miryam, während sie am Steuer ihres Wagens saß und durch die Stadt fuhr. Eigentlich hatte sie gar keine Zeit für zusätzliche Aufgaben oder Erledigungen. Ihr Tag war so schon mehr als ausgefüllt, und manchmal war es sogar schwer, ein paar Minuten für das zu finden, was unbedingt besprochen oder getan werden musste.
Und hier fuhr sie nun durch die Stadt, für eine wildfremde Frau – ja, das war sie, sie kannten sich überhaupt nicht – und noch nicht einmal für sie, sondern für ihren Hund. Hilfsbereitschaft war ja eine gute Sache, aber sie musste auch Grenzen haben.
Aber nun hatte sie es versprochen, und wenn sie etwas versprach, war das für sie wie eine Kette, an die sie gelegt worden war. Es gab keinen Weg, sich von einem Versprechen zu lösen, außer es zu erfüllen. Deshalb sollte sie vielleicht besser aufpassen, was sie