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Im Reich der hungrigen Geister. Gabor MateЧитать онлайн книгу.

Im Reich der hungrigen Geister - Gabor  Mate


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Sein Schmerzmittelbedarf ist legitim, und trotz seiner Drogenabhängigkeit werde ich ihm das Morphium nicht vorenthalten. Auf jeden Fall sind Stimulanzien Ralphs bevorzugte Drogen, wobei Kokain für ihn am wichtigsten ist.

      Ich werde Ralph bald als einen der intellektuell begabtesten Menschen kennenlernen, die ich je getroffen habe. Er ist auch ein zutiefst trauriger Mensch – eine verlorene poetische Seele mit einer hoffnungslosen, unerfüllten Sehnsucht nach menschlicher Verbundenheit. Neben seinem breit gefächerten, aber undisziplinierten Intellekt, der es mit jedem Gedanken oder Gefühl, das ihn beherrscht, aufnehmen kann, verfügt er über einen scharfen, selbstironischen Humor. Wenn er unter dem Einfluss der von ihm verwendeten Stimulanzien steht, kann er höchst aggressiv und sogar gewalttätig sein. „Ich bin ein schizo-affektiver, zwanghafter, hyperaktiver, paranoider Depressiver mit bipolaren Tendenzen, die sich mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung überlagern. Außerdem leide ich an halluzinatorischen Zuständen, die durch Drogen ausgelöst werden“, verkündet er einleitend. „All diese Diagnosen wurden mir bereits von dem einen oder anderen Psychiater gestellt“, erklärt er weiter. „Ich war bei vielen.“

      Wegen des Lebensmittelzuschusses führt Ralph alle entscheidenden Aspekte an. „Ich brauche frisches Fleisch, Gemüse und Fisch, Wasser in Flaschen und Vitamine. Ich habe Hepatitis C und Diabetes.“

      Je mehr Krankheiten eine Person nachweisen kann, desto größer ist die zu erwartende finanzielle Unterstützung. Süchtige, die täglich etwa hundert Dollar oder mehr für ihre illegalen Drogen ausgeben und oft gesundheitsrelevante Termine versäumen, verpassen selten den Zeitpunkt, wenn sie wieder ihre Papiere für die monatlichen zwanzig, vierzig oder fünfzig Dollar ausfüllen müssen, die sie als Unterstützung für Lebensmittel erhalten. Ich fülle diese Formulare pflichtbewusst aus, jedoch mit gemischten Gefühlen, denn ich weiß, wo das Geld landen wird. Ich denke, dass es einen besseren Weg geben muss, um diese unterernährten Menschen angemessen zu versorgen. Um ein alternatives System einzurichten, bräuchten wir Mitgefühl, Fantasie und Flexibilität – Eigenschaften, die unser soziales System nicht ohne Weiteres auf die Hardcore-Drogensüchtigen anwendet.

      „Außerdem muss ich mich natriumarm ernähren“, sagt Ralph.

      „Warum?“

      „Ich esse kein Salz. Ich mag kein Salz. Ich kaufe immer Butter ohne Salz … Und was ist Dysphagie?“, fragt er und wirft einen Blick auf die Liste mit den Bedingungen für einen Zuschuss.

      „Vom griechischen phag, essen“, erkläre ich. „Dysphagie bedeutet Schwierigkeiten beim Schlucken.“

      „Oh, ja, ich habe Schluckbeschwerden. Und ich muss mich glutenfrei ernähren …“

      „Das kann ich nicht alles aufschreiben. Ich habe keine medizinischen Anhaltspunkte dafür, dass Sie Diabetes, Dysphagie oder irgendein salz- oder glutenbedingtes Problem haben.“

      Ralphs unmittelbare Reaktion, ein brummeliges Knurren, ist ein spezielles, herausforderndes Hörerlebnis. Den Anfang seines nächsten Satzes kann ich nicht verstehen, er endet mit „… reiche amerikanische Touristen lachen uns aus … amerikanische Juden …“

      „Amerikanische was?“

      „Amerikanische Juden.“

      Ich bin überrascht über diese Wendung des Gesprächs.

      „Was ist mit ihnen?“

      „Sie lachen über uns. Sie sind so verdammt bösartig … sie fressen die ganze verdammte Welt auf.“

      „Amerikanische Juden sind …? Sie sprechen mit einem kanadischen Juden.“

      „Ungarischen Juden, habe ich gehört.“ Ralphs trübe Augen haben einen bösartigen Glanz und sein mürrisches Stirnrunzeln verwandelt sich in ein Grinsen.

      „Kanadischer und ungarischer Jude“, gebe ich zu.

      „Ja. Finden Sie das lustig?“

      „Natürlich nicht.“

      „Wissen Sie, dass meine Großeltern in Auschwitz unter dem Schild mit diesem Schriftzug getötet wurden? Mein Großvater war Arzt.“

      „Er hat die Deutschen verhungern lassen“, sagt Ralph, als ob er eine unbestreitbare Tatsache festhält.

      Das hätte mein Stichwort sein sollen, um die Diskussion zu beenden. Mich drängt jedoch meine Entschlossenheit, meine professionelle Ruhe und den therapeutischen Kontakt zum Patienten zu bewahren. Außerdem bin ich neugierig zu erfahren, was es mit diesem Mann auf sich hat.

      „Mein Großvater war Arzt in der Slowakei. Wie hat er die Deutschen verhungern lassen?“

      Ralphs gelassene Pseudo-Rationalität verflüchtigt sich im Bruchteil einer Sekunde. Seine bleichen Wangen zittern vor Wut, seine Stimme hebt sich und das Tempo seiner Rede beschleunigt sich mit jedem Wort. „Die Juden hatten all das Gold, sie nahmen all die Ölgemälde … sie nahmen die ganze Kunst, sie waren die Polizeibeamten, Richter, Anwälte und sie ließen die Deutschen verdammt noch mal verhungern. Dieser Jude Stalin schlachtete 90 Millionen Deutsche ab … die Invasion unseres verdammten Landes … alle wie gelähmt, an Hunger sterbend. Sie wissen das genauso gut wie ich. Ich habe keine Gewissensbissen gegenüber Ihnen und auch keine Trauer.“

      Dass ich mir als Jude und Kleinkind, das den Genozid überlebt hat, diese Faseleien ruhig anhören kann, liegt daran, dass ich weiß, dass sie nicht von mir oder meinen Großeltern oder gar vom Zweiten Weltkrieg oder von Nazis und Juden handeln. Ralph stellt den schrecklichen Aufruhr seiner Seele zur Schau. Die leidenden Deutschen und raffgierigen Juden in seiner Erzählung sind Projektionen seiner eigenen Phantome. Der unberechenbare Mischmasch, den er Geschichte nennt, spiegelt sein inneres Chaos, seine Verwirrung und seine Angst wider. „Als Kind bin ich in Deutschland verhungert, und auch in diesem Land bin ich verdammt noch mal verhungert … ich kam 1961 hierher.“ (Ralph kam als Teenager.) „Scheiß Kanadier. Ich hasse die Kanadier.“

      Es ist an der Zeit, ethnische Zusammenhänge und die Geschichte hinter sich zu lassen. „Okay“, sage ich. „Mal sehen, wie das Morphium bei Ihnen wirkt.“

      „Wie viel bekomme ich?“

      „Es reicht für vier oder fünf Tage. Dann muss ich Sie wieder sehen.“

      „Ich hasse es, ständig in die Arztpraxis zu kommen. Ich hasse die Arztpraxis. Es ist Zeitverschwendung.“

      „Ich hasse auch die Tankstelle“, versichere ich ihm, „aber ich fahre hin, sonst geht mir das Benzin aus.“

      Ralph ist versöhnlich. „Danke, mein Herr“, erwidert er auf Deutsch. „… nichts für ungut.“

      „Nein“, sage ich.

      Wir tauschen auf Deutsch ein herzliches Auf Wiedersehen aus, um diese - unsere erste - Begegnung zu beenden. Es wird noch viele weitere geben, einige enden damit, dass Ralph zum Abschied den Arm zum Hitlergruß hochreißt. Wenn er wütend ist, weil ich mich weigere, ihm das eine oder andere Medikament zu verschreiben, schreit er: „Heil Hitler!“ oder „Arbeit macht frei!“ oder die immerwährende Beschimpfung „Schmutziger Jude“. Nicht, dass ich endlose Toleranz gegenüber Nazi-Parolen habe, die er auf Deutsch auf mich abfeuert! Im Allgemeinen stehe ich auf, wenn die Schimpftirade beginnt, und öffne die Tür, um das Ende des Besuchs zu signalisieren. Ralph geht normalerweise auf den Wink ein, aber einmal musste ich ihm mit der Polizei drohen, sollte er sich nicht schnellstens aus meinem Büro entfernen.

      ———

      Das Deutsch, das Ralph spricht, ist nicht immer voller hasserfüllter Beschimpfungen. Er deklamiert im Stakkato in fließendem Deutsch oder er rezitiert Zeilen aus der Ilias in einer Sprache, die wie Altgriechisch klingt. Bei unserem zweiten Treffen bricht er in einen Schwall deutschsprachiger Rezitationen aus; das einzige Wort, das ich erkenne, ist „Zarathustra“.


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