Im Reich der hungrigen Geister. Gabor MateЧитать онлайн книгу.
schnell von der Zunge, ebenso wie Zitate aus anderen Klassikern der Literatur seines Heimatlandes. Es ist unmöglich zu erkennen, wie viel Wahrheit in seinen eigentümlichen Anekdoten steckt, aber seine kulturellen Kenntnisse sind beeindruckend – umso mehr, als sie weitgehend selbst erworben zu sein scheinen. Seine Behauptungen, er habe irgendwo das College abgeschlossen, erscheinen mir zweifelhaft. Diplom hin oder her, er ist auf jeden Fall belesen.
„Ich liebe Dostojewski“, teilt er mir eines Tages mit. Ich beschließe, ihn zu prüfen.
„Mein Lieblingsautor“, sage ich. „Was haben Sie von ihm gelesen?“
„Oh“, antwortet Ralph und leiert nonchalant einige Titel der Romane und Kurzgeschichten des russischen Autors herunter: „Der Idiot, Schuld und Sühne, Der Spieler– das gefiel mir besonders gut, wissen Sie, weil es um einen Suchtkranken geht –, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Die Brüder Karamasow habe ich nicht geschafft. Zu lang.“
Ein anderes Mal erzählt er mir von einem Abenteuer, das er als Jugendlicher erlebt hat, als er zu Besuch in Deutschland war.
„Ich nahm dieses Mädchen mit in Beethovens Geburtszimmer.“
Ich erinnere mich an mein rudimentäres Deutsch aus der Kindheit – geboren: to be born; Zimmer: room. „Beethovens Geburtszimmer?“
„Ich nahm etwas Wein, Käse und etwas Salami mit sowie ein bisschen Marihuana. Ja, das Zimmer, in dem er geboren wurde. Wir sind eingebrochen. Ich knackte das Schloss, nahm dieses Mädchen mit, spielte auf seinem Klavier und hatte eine tolle Zeit.“
„Ha“, sage ich und hebe skeptisch eine Augenbraue. „In welcher Stadt war das?“ Ein weiterer Test.
„Bonn.“
„Ja, Beethoven wurde in Bonn geboren“, murmelte ich.
Ralph, ein bisschen Kokain-durchgeknallt, geht spontan zu einer völlig unerwarteten Aufführung über.
„Hier ist ein Gedicht von mir, das Ihnen gefallen könnte. Es heißt ‚Präludium‘.“ Sein mit einer tiefen, körnigen Stimme vorgetragenes Stakkato-Rezital ist so schnell, dass man als Zuhörer kaum mitbekommt, ob er zwischendrin Luft holt. Das Gedicht besteht aus Paarreimen in durchgehendem Pentameter. Es handelt von Einsamkeit, Verlust und Fatalismus.
„Haben Sie das geschrieben?“
„Ja. Ich habe fünfhundert Seiten Gedichte geschrieben. Es war mein Leben. Ich weiß nicht, wo sie abgeblieben sind. Ich war fünf Jahre lang obdachlos. Ich ließ meine Gedichte in einem Hostel, wo ich eine Woche lang gewohnt hatte. Sie wollten hundert Dollar haben, wenn ich mein Zeug zurückhaben wollte, aber ich konnte es mir nicht leisten. Vielleicht wurde es versteigert, vielleicht hat es der Wachmann bekommen, vielleicht ist es in den Müll gewandert. Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nur an wenige Texte. Es ist alles weg. Ich habe alles verloren.“
Ralph ist für einen Moment ungewohnt nachdenklich. Plötzlich leuchtet sein Gesicht auf. „Das werden Sie erkennen“, sagt er und deklamiert in schnell gesprochenen Reimen auf Deutsch. Ich konnte die Sprache nie fließend sprechen, ich verstehe nichts von dem, aber ich rate gerne. „Das klingt mehr nach Goethe als nach Goebbels.“
„Ist es auch“, bestätigt Ralph triumphierend. „Die letzten acht Zeilen von Faust“. Ohne eine Zeile auszulassen, rezitiert er auf Englisch:
All things transitory
Are but a parable,
Earth’s insufficiency
Here finds fulfillment.
The ineffable
Wins life through love.
The eternal feminine
Leads us above
[Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird’s Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist’s getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.]
Er trägt die Verse ohne die übliche Hast vor, seine Stimme ist weich und sanft.
Als ich an diesem Abend wieder zu Hause bin, nehme ich Faust II aus dem Bücherregal und blättere zur letzten Seite. Da steht es: Goethes Lobgesang auf die spirituelle Erleuchtung, die selige Vereinigung des menschlichen Geistes mit dem weiblichen Prinzip, mit der göttlichen Liebe. Goethe stellt, wie Dante in Die Göttliche Komödie, die göttliche Liebe als weibliche Eigenschaft dar. Ich finde Ralphs Übersetzung von Goethe, sei es seine eigene oder eine auswendig gelernte, bewegender als die Version, die ich in meinen Händen halte.
Während ich die Verse des großen deutschen Dichters in meinem gemütlichen Zuhause in einem gehobenen, grünen Vancouver-Viertel lese, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Ralph, unterstützt von seinem Stock, in diesem Moment irgendwo in der düsteren und schmutzigen Hastings unterwegs ist und es ihn nach seinem nächsten Kokain-Trip drängt. Und in seinem Herzen wünscht er sich Schönheit, nicht weniger als ich, und braucht Liebe, genau wie ich.
Wenn ich ihn richtig verstehe, sehnt sich Ralph vor allem nach der Einheit mit der ewig weiblichen caritas – der gesegneten, seelenrettenden göttlichen Liebe. Göttlich bezieht sich hier nicht auf eine übernatürliche Gottheit, sondern auf die unsterbliche Quintessenz der Existenz, die es in uns, durch uns und über uns hinaus gibt. Religionen mögen darin einen Gottesglauben erkennen, aber die Suche nach dem Ewigen geht weit über bekannte religiöse Konzepte hinaus.
Eine Folge spiritueller Entbehrung ist die Sucht, und zwar nicht nur nach Drogen. Auf Konferenzen, die der wissenschaftsbasierten Suchtmedizin gewidmet sind, gibt es immer häufiger Vorträge über den spirituellen Aspekt von Süchten und deren Behandlung. Gegenstand, Form und Schwere von Süchten werden durch viele Einflüsse geprägt – durch die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umstände, die persönliche und familiäre Geschichte sowie physiologische und genetische Veranlagungen –, doch im Kern aller Abhängigkeiten gibt es eine spirituelle Leere. Im Fall von Serena, der Ureinwohnerin von Kelowna, entstand diese Leere durch den unerträglichen Missbrauch, den sie als Kind erlitt – ein Thema, auf das ich später zurückkommen werde. Aber an dieser Stelle genügt es zu sagen, dass Ralph seine Gottessehnsucht, wenn ich sie nicht schon bei seinem Goethe-Rezital gespürt hätte, ein paar Monate später wortreich bestätigte. Aus tiefster Seele sehnt er sich danach, sich mit derselben weiblichen Qualität in seinem Inneren zu verbinden, die seine Streitsüchtigkeit und ungezügelte Aggressivität so bösartig mit Füßen tritt.
Bald darauf, vielleicht schon beim nächsten Termin, muss ich mir wieder Arbeit macht frei, Schmutziger Jude, Heil Hitler anhören. „Steck dir dein Morphium in den Arsch“, schreit Ralph mit einer Stimme wie Schmirgelpapier. „Geben Sie mir Ritalin. Geben Sie mir Kokain. Geben Sie mir Xylocain!“ Er könnte genauso gut sagen: „Geben Sie mir Freiheit oder geben Sie mir den Tod.“ Drogen sind die einzige Freiheit, die er kennt.
———
Durch Blut übertragene bakterielle Infektionen sind häufige Komplikationen des Drogenkonsums, insbesondere angesichts des schlechten hygienischen Zustands vieler Süchtiger in Downtown Eastside. Letztes Jahr wurde Ralph ins Krankenhaus eingeliefert, wo er zwei Monate lang intravenös mit hochwirksamen Antibiotika behandelt werden musste, um eine lebensbedrohliche Sepsis zu heilen.
Gegen Ende seiner Behandlung besuche ich ihn auf der Station im Krankenhaus von Vancouver. Dort treffe ich auf eine Person, die ganz anders ist als der wütende, feindselige Pseudo-Nazi aus meiner Praxis. Er liegt auf dem Rücken, das Kopfteil des Krankenhausbettes leicht erhöht, und ist bis zur Taille mit einem weißen Laken bedeckt. Sein dürrer Brustkorb und seine oberen Gliedmaßen sind entblößt. Sein geschecktes Haar ist nun ordentlich geschnitten und bildet eine kurze Tonsur über seinen rasierten Schläfen. Er winkt mir zur Begrüßung mit seinem linken Arm.