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Wenn alle Stricke reißen. Beate VeraЧитать онлайн книгу.

Wenn alle Stricke reißen - Beate Vera


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wollte auf dem überwucherten Asphaltweg an der eingezäunten Brache des ehemaligen Truppenübungsgeländes der US-Streitkräfte entlanglaufen, als nur ein gewagter Sprung ins Gebüsch sie vor der Kollision mit zwei Radfahrern bewahrte, die wie die Teufel um die Kurve gerast kamen. Die beiden jungen Männer bremsten so stark, dass ihre Reifen schwarze Streifen auf dem Beton zogen und die Hinterräder seitlich wegrutschten. Der eine der beiden ließ sein Rad fallen und kam auf sie zu.

      »Frau Storm, es tut mir leid! Ich habe Sie gar nicht gesehen. Sind Sie verletzt?«

      Lea war zu beschäftigt mit einer schnellen Überprüfung ihrer körperlichen Unversehrtheit, um unmittelbar loszuschimpfen. Bis auf einen kleiner Kratzer an der linken Wade und humide Botanik in ihrem Nacken war sie unversehrt. Sie blickte auf und erkannte den jungen Mann vor sich. »Tobi! Was machst du denn um diese Uhrzeit hier? Ich dachte, ich sei ambitioniert mit meinem Frühsportprogramm, aber du bist wohl noch zeitiger aufgestanden.« Die Schatten unter seinen Augen sprachen Bände, und so fügte sie schmunzelnd hinzu: »Oder habt ihr zwei die Nacht zum Tag gemacht?«

      Tobias Verheugen half Lea aus dem Gebüsch heraus. Er war ein Junge aus der Nachbarschaft und ein Freund ihres Sohnes Duncan. Bis zur Zehnten waren die beiden Klassenkameraden gewesen, dann hatte Tobi eine Ehrenrunde drehen müssen. Den anderen Radfahrer hatte Lea noch nie zuvor gesehen. Er stand unbeteiligt am Rand und starrte übermüdet – oder gelangweilt – den Weg hinunter, auf dem die Jungs gekommen waren. Sie sahen wirklich beide ziemlich derangiert aus, fand Lea.

      Tobi lächelte sie verschwörerisch an. »Wir sind ein bisschen versackt, um ehrlich zu sein. Meine Eltern werden mir vermutlich die Hölle heißmachen. Wir waren im Schrebergarten von meiner Oma, der ist gleich um die Ecke. Dort haben wir unsere Ruhe und können so laut Musik hören, wie wir wollen, ohne dass gleich jemand meckert.«

      Lea lächelte zurück. Ihr Sohn Duncan hatte mittlerweile zum Glück einen akzeptablen Musikgeschmack, und sie selbst hörte ihre Musik ja auch am liebsten laut, aber sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie unter Duncans kurzzeitiger Techno-Phase gelitten hatte. Ein paar sündhaft teure Kopfhörer hatten damals für einen Kompromiss gesorgt. Dennoch ging nichts über einige Stunden ohne Erwachsene in der Nähe, und so, wie die beiden aussahen, hatten sie diese Freiheit reichlich begossen. »Wenn ihr einen Tipp möchtet: Trinkt reichlich Wasser, esst ein paar Bananen, dreht eine Runde an der frischen Luft, und legt euch danach noch einmal hin! Dann wird der Kater vielleicht nicht ganz so übel.« Lea zwinkerte Tobi zu und blickte dann auf seinen Freund, dessen leerer Blick weiterhin in die Ferne schweifte.

      Tobi sah seinen Freund an und schüttelte vehement den Kopf. »Wir haben gar nichts getrunken, es ist einfach nur sehr spät geworden. Ist bei Duncan alles klar? Wir haben eine Weile nicht gechattet.«

      Leas Sohn studierte seit einem Jahr Landschaftsarchitektur und -planung an der Uni Kassel. »Es geht ihm gut. Er muss sich ordentlich ins Zeug legen, aber das macht ihm nichts aus. Vielleicht könnt ihr euch ja treffen, wenn er das nächste Mal hier ist. Sag mal, bist du eigentlich noch in der Theater-AG an der Schule?«

      Duncan und Tobi waren der AG Theater und Musik in der neunten Klasse beigetreten. Tobi war jetzt im dritten Semester der Oberstufe. Er nickte. »Ja, wir proben Der zerbrochne Krug. Die Aufführung ist in drei Wochen.«

      »Kleist«, freute sich Lea. »Das Stück habe ich während des Studiums auch mal gelesen. Welche Rolle hast du?«

      Nicht ohne Stolz erwiderte Tobi: »Ich spiele den Richter.«

      »Mir träumte, es hätt’ ein Kläger mich ergriffen«, zitierte Lea. »Ich bin beeindruckt. Und dein Freund hier, ist der auch dabei?«

      Der junge Mann schien plötzlich wie verwandelt. Er legte ein strahlendes Lächeln auf, trat einen Schritt auf Lea zu und gab ihr die Hand. »Entschuldigen Sie, wie unhöflich von mir! Ich bin Leander Horten. Tobi und ich haben zusammen die Leistungskurse Mathe und Sport. In dem Stück spiele ich auch mit. Ich gebe den Licht.«

      »Lea Storm.« Junge Männer mit Manieren, wie angenehm!

      Tobi schaute auf seine Uhr. »Wir müssen weiter, Frau Storm. An diesem Wochenende findet das Bouleturnier der Oberstufe statt. Wir spielen nachher im Park an der Bäkestraße und sollten bis dahin wieder fit sein. Duncan wird mir bei dem Turnier fehlen, Leander ist nicht annähernd so ein guter Spieler wie er. Noch mal sorry für den Schreck! Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Bis bald!« Tobi zog seinen Freund an der Jeansjacke. Dem passte die Bemerkung über sein schlechtes Boulespiel sichtlich ganz und gar nicht, aber er sagte nichts, und die beiden stiegen wieder auf ihre Räder.

      »Mach’s gut, Tobi, bis bald!« Lea sah den Jungs einen Moment lang nach. Sie diskutierten heftig miteinander, entfernten sich aber so schnell, dass Lea nichts verstehen konnte. Tobi hatte sich verändert, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er wirkte älter. Nein, er wirkte härter. Aber der Junge hatte es auch nicht leicht.

      Während ihres anschließenden Laufs ließ sich Lea das Gespräch mit den beiden jungen Männern noch einmal durch den Kopf gehen. Tobi hatte nervös gewirkt, vermutlich hatte er ein schlechtes Gewissen seinen Eltern gegenüber. Lea wusste, dass die sich sehr um ihre beiden Kinder sorgten. Sie zog das Tempo an. Schließlich hatte sie ein ausgesprochen attraktives Ziel.

      Tara Berthold war zu erschöpft, um weiter zu schreien. Ihr Hals schmerzte, und sie hatte Durst. Erneut schaltete sie die Taschenlampe ein und leuchtete ihre Umgebung aus. Sie befand sich in einem Keller mit einer Klappe an der Decke. Tara versuchte, die Klappe zu erreichen, aber die lag zu hoch. Es gab auch nichts, worauf sie sich hätte stellen können, der Raum war völlig leer. Was, um Himmels willen, war denn nur mit ihr passiert? Tara hatte immer noch keine Erinnerung daran, wie sie hierhergekommen war. Von ihren Schläfen ausgehend hämmerte ein pochender Schmerz die Schädeldecke entlang, und ihr Magen fühlte sich wund und hohl an. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, oder gar, welcher Tag, konnte also auch nicht wissen, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Sie lehnte sich gegen die nackte Steinwand und begann, mit leiser Stimme Schillers Lied von der Glocke aufzusagen:

       Fest gemauert in der Erden

       Steht die Form aus Lehm gebrannt.

       Heute muss die Glocke werden!

       Frisch, Gesellen, seid zur Hand!

       Von der Stirne heiß

       Rinnen muss der Schweiß,

       Soll das Werk den Meister loben;

       Doch der Segen kommt von oben.

      Lea hatte nach ihrem Lauf die Dusche neben der Sauna im Keller benutzt, um Glander nicht zu wecken. Sie war gerade dabei, das Frühstück vorzubereiten, als ihr Handy vibrierte. Für einen Studenten war ihr Sohn am Wochenende ausgesprochen früh wach, stellte sie fest, als sie auf ihr Display sah. »Hello, love! Bist du aus dem Bett gefallen?« Duncan war zweisprachig aufgewachsen, wie seine Eltern. Marks Vater war Engländer gewesen – ein Soldat, der zu viel trank und seine Familie sitzenließ. Wenn sie unter sich waren, unterhielten sich Lea und ihr Sohn in einem bunten Gemisch aus beiden Sprachen.

      »Hi, mum! Vielleicht sind wir ja gerade erst nach Hause gekommen …«, erwiderte Duncan mit geheimnisvoller Stimme.

      »Wir? Das heißt, du bist in Begleitung der lovely Nina

      Jetzt lachte Leas Sohn laut. »Mama, dir kann man ja normalerweise nicht viel vormachen, aber diesmal liegst du falsch. Ich muss für eine Klausur lernen und bin schon seit sechs Uhr auf den Beinen. The early bird, the worm – du weißt ja.«

      »Welchen Wurm hoffst du früher Vogel denn zu fangen?«

      »Ökologische Grundlagen der Umweltplanung.«

      »Zweifelsohne ein ganz packendes Thema. Kommst du gut voran?«

      »Na ja, es geht so, aber


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