Kreuzwege unter der Sonne. Mario MonteiroЧитать онлайн книгу.
Dann eben Jere. Auf jeden Fall wirst du mit mir nach São Paulo fahren.«
Er lehnte sich an die kahle Bretterwand und hielt den Atem an. »Nach … São … Paulo? Wo ist das? Mit einem Omnibus?« Dann lachte er laut. »Du schwindelst.«
»Nein, ich schwindle ganz und gar nicht.«
»Ich … Omnibus fahren?«
»Ja, du.«
Bis jetzt hatte Jere noch nie in einem Bus gesessen. Meine Gedanken jagten hinter mir her. Das Abenteuer, auf das ich mich durch dieses Versprechen eingelassen hatte, kam mir zu spät in den Sinn.
Zehn Tage quälte ich mich damit herum. Zehn Tage mit Leptospirose, Chagas-Leiden, Ruhrpatienten, Fieberkurven, Knochenbrüchen, Magenblutungen. Zehn Tage im Zickzack zwischen Leben und Tod.
Per Telefon bettelte ich in Rio um ein paar Pakete Verbandsmaterial, um Serum, um ein paar tausend Reais für dringende Medikamente. Der Präsident habe versprochen … Der Gesundheitsminister habe das Gesuch weitergegeben … Der Sonderbeauftragte sei zurzeit auf Europareise … Nächste Woche vielleicht … Ich legte auf.
Schwester Miriam stand in der Tür. Der kleine Vitório war vor ein paar Minuten gestorben. Seine Mutter hatte ihn zu spät auf die Station gebracht und das, was ihn hätte retten können, fehlte im Regal. »Gott nimmt sie«, sagte die Frau mit dem toten Kind im Arm. Von sieben Kindern war es das dritte, das sie verloren hatte. »Gott gibt sie, Gott nimmt sie.«
Agreste endlos. Leben von heute auf morgen. Hoffen, warten, beten und glauben. Vor allem glauben. Ich hielt die Hand über die Augen und blinzelte durch das Fenster hinaus in die gleißende Weite. Platz genug gab es hier. Platz für Kreuze aus knorrigen Ästen, mit Bast zusammengebunden.
»Mario«, sagte Schwester Miriam und umarmte mich, als wir mit Jere vor dem Überlandbus standen. »Ach, Mario!«
Jere kletterte wie im Traum in den Bus. Drei Tage und zwei Nächte dauerte die Reise. Quer durch Brasilien. Tagsüber dösten wir vor uns hin, rutschten hin und her, versuchten minutenlang, eine andere Lage ausfindig zu machen, um unsere Rücken zu vergessen, und sehnten uns nach dem nächsten Stopp. Dann und wann riss Jere die Augen auf, wenn wir auf Zentimeterdistanz an einem Lkw vorbeirutschten. Tagelöhner oft, auf schwankenden Brettern dicht gedrängt aufeinanderhockend, braune, runzelige, sonnenversengte Gesichter, Frauen mit ihren Kindern dazwischen, irgendwo Halt suchend, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Magisch vorbeigleitende Landschaften, dazwischen unsere bizarren, unsicheren, wahllos zusammengeschraubten Gedanken, plötzliche Vorstellungen, die sich nie verwirklichen ließen, wie Blitze, die im Unwetter zuckten und uns das Dunkel überließen. Brasilien endlos.
»Kann ich Steine machen in São Paulo?«
Ich musste lachen. Warum lachte ich eigentlich? Es war mitten in der Nacht. Hinter mir hustete jemand und klopfte auf meinen Rücken. »Nein«, flüsterte ich.
»Warum nicht?«
Wie sollte ich es dem Jungen erklären, der nichts gesehen hatte, außer drei, vier Hütten, einen Haufen Ziegel und den staubigen engen Weg zum Gipsofen, zu dem er jeden Morgen Holzkohle schleppte? Wie sollte ich ihm verständlich machen, wie es ist, wenn du über nie endende Asphaltbänder jagst und an hundert steil in den Himmel ragenden Betonriesen entlangirrst, mitten im Donner von Bussen und Mikrotransportern, Lastern, Bahnen, uralten Vehikeln auf abgefahrenen Reifen, aufgepeitscht vom Kreischen der Bremsen neben dir, von Trillerpfeifen, dem Gebrüll von tausend Straßenhändlern, dem nervenzerreißenden Kratzen der Zementmischer, hart auf hart aufeinanderschlagenden Stahlträgern, absinkend im Tapsen und Rennen der Dahinflüchtenden, gefangen im Taumel der Eiferer, zwischen Glück und Ausweglosigkeit, Hass und Hölle, Angst und Jubel derer, die sich selbst nicht mehr verstehen und widerstandslos in die Einsamkeit schlittern. Brasilien endlos!
Zwei Nächte lang sah ich dem Buben ins Profil, während er mit halb offenem Mund im zerrissenen, abgeschabten Polster hing. Was hatte ich verbrochen? Ich suchte nach handfesten Gründen, nach Trost, nach Halt, nach der geringsten Rechtfertigung für meinen Entschluss.
»Du wirst lesen und schreiben lernen«, erklärte ich am anderen Morgen.
Jere riss seinen Kopf herum und starrte mich an wie ein Gespenst. »Das werde ich nie lernen. Das ist unmöglich. So etwas … das kann ich nicht.«
Ich fror. Von Neuem überfiel mich ein Nebelschleier voll mit Zweifeln, Ängsten und unlösbaren Fragen, aus denen ich nicht mehr herauszufinden glaubte.
Jere schüttelte immer wieder den Kopf. »Nein«, sagte er leise und es hörte sich an, als bettelte er. »Nein. Ganz bestimmt. Das geht … ich kann das nie.«
»Jeder kann lesen und schreiben lernen«, herrschte ich ihn an. »Und rechnen natürlich auch.«
»Ich kann rechnen.« Jere zählte seine Finger ab. »Senhor Ronaldo zahlt jede Woche zehn Reais.« Jere strahlte. »Siehst du, dass ich rechnen kann?«
Jeremias da Cunha lernte rechnen, lesen und schreiben. An seinem 17. Geburtstag brachte ich ihn in der Buchhaltung einer amerikanischen Gesellschaft unter.
Samstags ging er Fußball spielen. Wenn er dann heimkam, verschwitzt und entkräftet, wurde er oft nicht mehr mit seinen Tränen fertig. »In Ararapurana haben sie keinen Fußball. Der einzige, den sie haben, ist ganz kaputt.« Darüber kam er nie hinweg. »Wenn sie wenigstens einen guten Ball hätten …«
Und sie können nicht lesen, sie können ihren Namen nicht schreiben und sie wissen nicht, wo Europa liegt. Wir verloren kein Wort darüber. Wozu auch? Es war mir klar, dass ich ihm Zeit lassen musste. Viel Zeit sogar.
Eines Morgens, als wir in der Bar an der Ecke unser Frühstück einnahmen, war es so weit. Jere knabberte unlustig an seinem Brötchen und druckste mit etwas herum. Ich war auf etwas Bombastisches gefasst, auf so etwas wie einen Donnerschlag. Hatte sich Jere vielleicht rettungslos verknallt? Oder wollte er ausziehen aus unserer Zweizimmerhöhle, um von nun an allein zu sein? Wenn man lange genug zusammenlebt, spürt man genau, wenn etwas in der Luft liegt. Ich rührte in meinem Kaffee herum. Es kam mir vor, als warte Jere auf den passenden Moment. Oder als ob er nicht wüsste, wie er es sagen sollte.
Dann, ganz plötzlich, überfiel er mich: »Mario! Ich will zurück. Verstehst du? Zurück nach Ararapurana.«
»Warum?«, fragte ich leise und wunderte mich, aus welchem Grund es mich nicht schockierte. Warum? Warum schon? Genauso gut hätte ich irgendetwas anderes, etwas furchtbar Belangloses fragen können.
»Ich werde den Ziegelofen kaufen«, erklärte Jere. »Ich habe Geld gespart.«
»Du willst die Kinder Ziegel brennen lassen?«
Meine unüberlegte Frage musste ihm einen Stich gegeben haben. »Nein!«, schrie er entsetzt, sodass der Barmann hinter der Theke zu uns herübersah. »Natürlich nicht! Ich werde bessere Ziegel machen, solche mit Glasur. Die kann ich nach São Paulo schicken, und sie werden teurer sein als die, die sie jetzt in Ararapurana machen. Dann können die Väter Backsteine brennen, und Frico und Beto und Emilio können in die Schule gehen! Ich werde eine neue Schule bauen, aus guten Ziegeln mit roter Glasur. Denk doch mal! Es wird eine schöne Schule werden, die Kinder werden sich freuen und lachen, und alle werden lesen und schreiben lernen. Alle!«
Ich starrte in meine halb leere Kaffeetasse. Draußen hatte der Nieselregen aufgehört, der Asphalt schillerte grauschwarz und dampfte. Ich weiß nicht mehr, was mich an jenem Morgen zu meinem Entschluss gebracht hatte. Ich weiß nur noch, dass ich auf das Datum meiner Uhr sah. Es war ein 17. April. Der Mann hinter dem Schanktisch erschrak, als ich meine Tasse auf den Tisch knallte. Ich blickte Jere in die Augen. Sie hatten den Glanz der Kindheit verloren.
»Nach Ararapurana …?« Ich nickte ihm zu und schluckte den Rest der Brühe hinunter. »Nach Ararapurana? Ich fahre mit!« Mehr fiel mir dazu nicht ein. Unsere Zeit in São Paulo war einfach abgelaufen.
Jere stürzte auf mich zu und umarmte mich. Ich spürte, dass er richtige Muskeln bekommen hatte.
Eine Woche brauchten wir noch, dann