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Kreuzwege unter der Sonne. Mario MonteiroЧитать онлайн книгу.

Kreuzwege unter der Sonne - Mario Monteiro


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      Drei Tage und zwei Nächte lang träumten wir vor uns hin, schmiedeten Pläne und waren entschlossen, unser Glück nie mehr aus der Hand zu geben. Nie mehr! Um keinen Preis der Welt!

       ZINNSOLDATEN

      Volle Deckung! Oberhalb der Schutthalde verschwinden zwei Dutzend Köpfe. Knallrote Schutzhelme leuchten in gleißender Sonne. Atemmasken und Brillen in dicken Gummifassungen verdecken angespannte Gesichter. Die Muskeln sind bis zum Zerreißen angespannt. Drüben winken sie mit roten Fahnen. Dann ertönt ein letzter Warnruf aus dem Megafon: »Atensçao … Atensçao … Atensçao!« Die Kette der Explosionen zerbricht minutenlanges Warten. 400 Kilo Dynamit reißen die Felswand auseinander. Schutt schiebt sich über die Halde, Riesenbrocken, grausilbern schillernde Kassiterit-Blöcke donnern in die Tiefe, bleiben dann plötzlich liegen und wälzen sich schließlich weiter, irgendwohin.

      Über dem Abgrund treiben stechend ätzende Wolken, Nebelschwaden in giftigem Graugrün kriechen durch die Schneise und legen sich über das Land. Dann stampfen die Bulldozer wieder. Stoßend und stöhnend schieben sie das Gestein vor sich her, türmen Erz auf Erz, verändern, was Minuten zuvor unveränderlich schien. Titanische Stahlschaufeln schwenken aus, zuerst nach links, dann im Kreisbogen auf Felsen aufschlagend, schließlich steil in den Himmel gereckt als protestierten sie, jammernd und kreischend in Achsen und unter pausenlos rotierenden Ketten, um hochwertiges Zinnerz auf die lange Reihe wartender Kipplaster zu schütten.

      Vor der Zufahrt zur Mine zittert das von glühender Sonne geschundene Tor. Immer zittert es hier, wenn es mit der Wucht der ohrenbetäubenden Schläge und dem Krachen und Stoßen und Stampfen zu viel wird, während sich hundert schürfende Stahlketten ins Gestein fressen und jeden Schrei ersticken.

      »FORTUNA NOVA – ZUTRITT VERBOTEN«

      Unkenntlich wie Schemen im Zwielicht, verhüllt im Staub unter glühender Sonne stehen Männer zwischen den Lkws und einer fast endlos scheinenden Kette aus Erzcontainern. Verstaubte knöchelhohe Stiefel – Männer in Overalls verpackt. Dahinter Spitzhacken, Blechkanister in Kinderhänden. Da und dort haben die kleinen Burschen Bastkörbe und ausgediente Säcke aufgetrieben. Lärmend und schwitzend, mit braunen sonnenversengten Gesichtern umhertobend, oft lachend wie im Spiel und über mannshohe Brocken kletternd, beim Hupen einer unerwartet daherstampfenden Zugmaschine aufschreckend, retten sie sich hundertmal am Tag vor krächzenden Geröllschiebern, flitzen kaum einen halben Meter vor den Giganten auf die andere Seite, um sich in der nächsten Minute auf einen vermeintlich wertvollen Fund zu stürzen. Aufpassen müssen sie und rennen und schuften, wenn es vielleicht schon am Mittag richtig Moos geben soll. Nach jeder Sprengung liegt das Kleinzeug, das die Abraumtrecker nicht erfassen, in der Schlucht herum.

      Cassiterita! Container auf Container. Brasilianisches Zinnoxyd auf dem Weg zum Weltmarkt. Hochprozentig schillert es im gleißenden Licht des unerbittlichen Tropenmorgens. Vor morgen Mittag wird nicht mehr gesprengt. Nur die Bagger werden den Abhang bis zur Unkenntlichkeit zerreißen, stählerne Riesen auf Kettenrädern werden Schuttberge vor sich herschieben und Kinder werden über die Wüste aus Geröll und Steinen kriechen und das verheißungsvolle Zinnoxyd zusammenklauben. Pausenlos. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. FORTUNA NOVA im Zehnstundentakt. 36 Grad im Schatten, brennende Sonne auf nackten Rücken, nicht die Spur einer Wolke am Himmel, Staub im Gesicht und in der blutenden Nase, im Rachen, in den Lungen. Es ist doch nur für ein paar Jahre. Dann werden sie, so Gott will, noch leben, und bis dahin hätten sie eine Menge Geld verdient. So hieß es in der Grube. Fast einen Dollar gab es pro Kilogramm. Vorausgesetzt, dass das Zeug, das sie anschleiften, auch gut genug war, um die Grube zu verlassen.

      In dicken roten Buchstaben stand es über dem Tor des Schuppens, den sich Jaime aus zwei vergessenen Containern zusammengeschraubt hatte. Auch wenn die meisten nicht lesen konnten. 92 Centavos per Kilo! Das verstand jeder.

      Kurz vor zwölf, noch bevor Jaime den Eintopf in seinem verbeulten Blechgeschirr aufwärmte, standen die Kinder in der Schlange und maunzten und kniffen sich und schrien, wer diesmal die besten Brocken habe und wie viel es dafür geben werde.

      Immerhin, es lohne sich doch für die Kerlchen, behauptete Jaime, wenn er abends mit den Fahrern beim Zuckerschnaps hockte. Auch für ihn sei es doch ganz annehmbar. Vier Dollar achtzig bewilligte ihm die Direktion für den Kleinkram. Und wenn das mit den Bürschchen noch ein paar Jahre so liefe, dann werde er das Geld für die beiden Lkws endlich zusammenhaben und aus dem Loch herauskommen. Und droben im Büro dürfe sich auch niemand beklagen. Wie hätten die denn ohne die Kinder das ganze Kleinzeug verladen sollen? »Ist das vielleicht kein Zinn?«, lachte er und goss sich noch einen von dem Klaren ein.

      Marcelino stand am Straßenrand. Vor ein paar Tagen war er neun geworden. Groß genug für den Job, wie er meinte. Klein-Sonja wird es schon lernen. Sie war doch auch schon sieben.

      »Da runter. Geht doch gut. Rutsch mal durch.«

      Klein-Sonja krabbelte unter dem aufgebogenen Drahtverhau ins Minengelände. Fast eine Woche lang waren sie unterwegs gewesen. Zuerst ging’s mit dem Ochsenfuhrwerk ab, dann hockten sie einen halben Tag auf der alten Kiste der Zuckerrohrschneider. Bis sie der Fahrer des Überlandbusses aus lauter Mitleid aufgeladen hatte. Als die Grube in Sicht kam, gab er den Kleinen einen freundlichen Klaps auf die knöchernen Schulterchen und setzte sie ab.

      »Guck mal, Sonjazinha«, rief der Bub und kam gar nicht los von den Baggern und Zugmaschinen. »Guck doch! Einer hinter dem anderen.«

      Schuttberge aus Zinngestein, dampfende Leiber, schweißnass und staubverkrustet, braun gebrannte Kinder in ausgefransten Shorts, nackte Rücken, Gummischlappen, Wickeltücher um blutende Füße. FORTUNA NOVA! Für einen Moment vergaß Marcelino das bohrende Gefühl im Magen.

      »Guck doch, dort«, begeisterte er sich. »Dort stehen sie!«

      Nebeneinander, hintereinander, gebückt, kniend, mit bloßen Fingern im Schutt wühlend, dann plötzlich aufspringend und auseinanderjagend, wenn eine der gelben Maschinen herüberstampfte. Jubel, Schimpfsalven, Flüche, Gelächter, im nächsten Moment verstummend, dann und wann umarmten sich zwei Freunde. Mancher schaffte es doch.

      »Vai ficar bom aqui!« Marcelino streichelte Klein-Sonja. Es werde schon werden, versprach er ihr.

      Ein heiserer Ruf unter einem Schutzhelm drang zu den beiden herüber: »Aufpassen!«

      Oft verschluckte einen der Staub, die Fahrer der Trecker sahen die Kleinen kaum, und dann war es auch schon passiert. Aber dort, von wo sie herkamen, sah es nicht besser aus.

      Seit Monaten hatte es nicht mehr geregnet, das Land war versteppt und verwüstet und ohne einen Halm im Boden, und Vater hatte auf den paar Hektar fremden Landes doch nur geschuftet und geschuftet. Und jetzt quälten sie Vater wegen der Pacht, das Futter für die beiden Ziegen war am Ende und der Wasserwagen kam nicht mehr. So wie damals, als Mutter starb, erinnerte sich Marcelino. Sein Schwesterchen war noch zu klein und wusste nichts davon.

      Seit letzter Woche war mit dem Maisbrei Schluss. Der kleine Weiher und die beiden Tümpel, an denen Marcelino immer fischte, waren ausgetrocknet, die Geier hatten die Knochen der letzten Zebus blank genagt und die Erde war so weit aufgerissen, dass der Bub sein Ärmchen bis zum Ellbogen hineinstecken konnte.

      Am anderen Morgen, als sie vor dem Ochsenkarren standen, glaubte der Bub, eine Träne in Vaters Auge gesehen zu haben. Doch außer der Mine gab es in der ganzen Gegend nichts, so sehr der Mann auch grübelte. Nur die Zinngrube! Die Kinder sollten doch überleben und nicht dabei sein und mit ansehen müssen, wie alles zu Ende ging, wenn die Glut der Sonne den letzten Tropfen Blut verdampfte und nur noch die Geier über ihren Köpfen kreisten.

      »Einen Sack und eine Hacke!«, rief Marcelino. »Schnell, Sonja, schnell! Dann sammeln wir auch!« So wie alle, die er von Stein zu Stein springen sah. Schnell, bevor der Nächste da war und einem den schönsten Brocken vor der Nase wegschnappte. Stöbern, absuchen, finden und aufklauben. Ab sieben war man schon dabei.

      Vorgestern hatte es Frederico erwischt. Ein einziges Mal war er nicht flink genug gewesen. Ein einziges Mal hatte er dem stählernen


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