Alexa und das Zauberbuch. Astrid SeehausЧитать онлайн книгу.
der stärkeren Äste und wippte juchzend auf und ab. Mit Interesse beobachtete sie, wie sich Giselas Fenster öffnete und ein Turnschuh, eine Sandale, ein Stiefel und ein Hausschuh durch den Regen flogen.
Als Alexa sich später unter ihre Decke kuschelte, nahm Gisela ihre restlichen Schuhe und stellte sie leise, damit Alexa es nicht bemerken sollte, mit der Schuhspitze gegen Alexas Matratzenlager auf. Alexa schlief grinsend ein.
Der nächste Morgen begann übel.
Alexa erwachte aus einem quälenden Traum, in dem Meldec Schrawak sie ausgelacht hatte. Dann stach sie sich den Fuß an einer verrosteten Gabel, die in ihrem Stiefel steckte. Und als sie mit ihrer Freundin am Weiher vorbeikam, gab Gisela ihr eine schallende Ohrfeige. PENG!
„Mücke. Die überträgt Malaria. Ist tödlich.“ Giselas Miene war die reinste Unschuld.
Alexa trat daraufhin kräftig gegen Giselas Schienbein – PONG! – und erklärte ungerührt: „Hilft gegen böse Gedanken.“ Damit waren sie quitt.
Gisela humpelte durch den Park, während Alexa wieder einmal spurlos verschwand. Vor sich hin fluchend erreichte Gisela die Schule. Das war doch alles Blödsinn, was in den Büchern stand. Nichts von dem, was sie gelesen hatte, hatte bisher etwas ergeben, außer dass ihr Schienbein wie die Hölle brannte.
„Bin ich von allen guten Geistern verlassen? Ich hab sie doch nicht mehr alle. Und dann auch noch eine Ohrfeige! Sie wird nie wieder mit mir reden. Nun habe ich schon eine Freundin und dann bin ich so unfreundlich ... Ich blöde Kuh! Ich blöde, blöde Kuh!“ Sie schlich durch den Schulflur und wühlte in ihrer Tasche. „Und dieses blöde Buch! Das Buch gehört in die Tonne.“ Gerade wollte sie sich des Buches entledigen, als Cynthia sie einholte. Gisela schloss die Tasche und sah stur an Cynthia vorbei.
„Für wen hast du dich denn so schick angezogen?“, spöttelte Cynthia boshaft.
Mona trippelte dicht hinter ihr her und säuselte falsch: „Und hast du Rückenschmerzen? Du gehst so merkwürdig.“
Und wie immer wurden beide von Lara und Sabine begleitet, die sich ausschütteten vor Lachen.
Die siamesischen Vierlinge!, dachte Gisela. Sogar vier eierlegende Hühner machten weniger Lärm als Cynthia mit ihrem Gefolge. Zugegeben, Giselas Schuhauswahl war etwas krass. Ihr linker Fuß steckte in einem von Farbklecksen übersäten Turnschuh, der rechte in einer roten Gesundheitssandale. Das waren die einzigen trockenen Schuhe, die sie am Morgen hatte finden können. Die dazugehörigen Hälften hatte sie aus dem Fenster geworfen. Für die Hexenprobe. Sie war ihr in der Nacht als so vernünftig erschienen. Nur war sie bedauerlicherweise ohne Ergebnis geblieben.
„Ach das“, erwiderte Gisela mit einem aufgesetzt liebenswürdigen Lächeln und log: „Das ist lediglich ein Schuhtest. Danach darf ich die Schuhe behalten.“
„Jeweils nur den einen Schuh?“, fragte Lara.
Für einen kurzen Moment guckte Cynthia wie ein Schaf, dann fing sie schallend an zu lachen. „Genau. Kriegst du nur den einen Schuh geschenkt, Gisela?“ Sie klatschte sich vor Lachen auf den Oberschenkel. „Lara, du bist einfach göttlich.“
Lara schaute ein wenig dümmlich, Sabine und Mona grinsten.
Gisela seufzte übertrieben theatralisch. „Seid nicht albern. Ich darf mir jeden Monat Schuhe im Werte von zweihundert Euro aussuchen. Und Lara, du kannst einen qualitativ hochwertigen Schuh ja noch nicht einmal erkennen, auch wenn er dich beißen würde.“
Die Mädchen verstummten.
Neidisch musterte Cynthia ihre Klassenkameradin. Doch dann erinnerte sie sich, dass irgendjemand behauptet hatte, sie sähe, wenn sie einen anstarrte, unvergleichlich dumm aus. In Sekundenschnelle verzogen sich ihre Lippen zu einem zuckersüßen Lächeln. „Wie nett!“, gurrte sie. „Dann mach dich ruhig weiterhin lächerlich. Ich ziehe es vor, meine Schuhe als Paar anzuziehen, Schuhtest hin oder her.“
„Vergiss aber die zweihundert Euro nicht“, flüsterte Lara aufgebracht, als ob sie dächte, Cynthia hätte nicht genau verstanden, was Gisela gemeint hätte.
„Pö!“, machte Cynthia, setzte ihr hochmütigstes Gesicht auf und wandte sich ab. Gefolgt von ihren Freundinnen stakste sie die Treppe zum Klassenzimmer hinauf.
Gisela sah ihnen gedankenverloren nach. Sie beschloss, das Buch zu behalten, auch wenn die Hexenproben alle für die Katz’ gewesen waren. Die Schuhprobe war wie alle Proben ein Reinfall gewesen. Mit einem in eine Windböe hineingeworfenen Schuh konnte man angeblich eine Wetterhexe entmachten und sie dazu bringen, sich zu zeigen. Siebzehn Schuhe, darunter auch die Puschen ihres Vaters, hatten nichts Derartiges hervorgebracht, weder eine Wetterhexe noch ein Nachlassen des Sturms. Das Gewitter schien ausschließlich physikalischer Natur zu sein, so wie sie es im Unterricht gelernt hatte. Nichts da von wegen Wetterhexerei. Das war doch alles Schwachsinn mit den Hexenproben. Warum hatte sie das nur geglaubt?
Die Eisenprobe war auch ein Reinfall gewesen. Hexen sollten angeblich Eisen fürchten. Sie hatte die Gabel in Alexas Stiefel gesteckt, nachdem sie sie mit einem Magneten überprüft hatte. Aber soweit sie beobachtet hatte, hatte Alexa die Gabel bedenkenlos angefasst und sie in ihren Rucksack geworfen, ohne vor Angst mit den Zähnen zu klappern oder hysterische Schreie auszustoßen.
Und angeblich konnten Hexen nicht weinen, doch die saftige Ohrfeige hatten Alexas Augen tränen lassen. Ob es nun richtige Tränen waren, konnte Gisela nicht sagen, denn sie musste mit ihren eigenen Tränen kämpfen. Alexas spontaner Schienbeintritt war ganz schön heftig gewesen und Giselas Tränen durchaus sehr echt.
Schlussendlich sollten Schuhspitzen, die gegen eine Hexe gerichtet sind, jede Hexe vom Schlaf abhalten. Aber ganz im Gegenteil, Gisela schien es, als ob Alexa noch nie besser geschlafen hätte, während sie selbst kein Auge zutat. Sie hatte versucht, Alexa die Nase zuzuhalten. Leider hatte Alexa zugebissen, und Giselas Daumen fühlte sich immer noch ein wenig taub an.
An diesem Morgen war die letzte Schulstunde dem Freeclimbing gewidmet. Aus welchen Gründen auch immer sich Gisela für diesen Kurs angemeldet hatte. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, dadurch schlanker zu werden. Nein, das war nicht ganz wahr, sie wollte Clemens nahe sein (und schlanker werden). Und in dem Moment, als sich Cynthia gegen diesen Kurs entschieden hatte, war Giselas Finger schneller in die Höhe gefloppt als man Freeclimbing hätte rufen können. Nun saß sie in der Falle. Angemeldet war angemeldet, und Gisela fühlte sich mitnichten schlanker oder besser, auch wenn Clemens in der Nähe war. Sie fühlte sich dicker, dümmer und hilfloser. Der Kurs tat ihr so gar nicht gut.
Alexa tauchte unvermittelt neben ihr auf und begleitete sie über die letzten Runden im Park.
„Es tut mir leid wegen der Ohrfeige“, entschuldigte sich Gisela keuchend.
„Mir auch.“ Aus Alexas Antwort ging nicht hervor, ob sie die Ohrfeige oder den Tritt gegen Giselas Schienbein meinte.
„Ich weiß nicht, vielleicht sollte ich ...“ dir erzählen, dass ich dich für eine Hexe gehalten habe. Gisela hatte den Gedanken nicht laut geäußert. Sie schämte sich. Alexa war doch nett, auch wenn sie Bier trank. Heimlich. Das wusste Gisela. Denn am Abend, wenn der Vater sich eine Flasche Bier aus der Küche holen wollte, war der Kasten, den er am Morgen gekauft hatte, bereits wieder leer. Bisher glaubte er, dass seine Frau Kadaver mit dem Bier fütterte, wobei er fieberhaft überlegte, wie sie bloß an den Flaschenöffner herangekommen war. Er trug ihn doch die ganze Zeit bei sich. (Die restlichen Flaschenöffner und alles, was danach aussah, hatte er vorsichtshalber unter seiner Matratze versteckt. Er schlief seitdem ziemlich unruhig.)
Als Gisela die Kletterwand erreichte, war Alexa wieder einmal von einer Sekunde auf die nächste verschwunden. Wie machte sie das nur? Sie tauchte plötzlich auf, sie verschwand ebenso plötzlich wieder. Das war nicht normal. Aber die Proben hatten gezeigt, dass Alexa keine Hexe sein konnte. Diese Gedanken streiften Gisela und waren ebenso schnell wieder vergessen, denn das Problem, vor dem sie stand, war immer noch da: die Kletterwand und damit auch ihre Höhenangst. Ihr wurde schlagartig übel. Am liebsten wäre sie davongelaufen. So weit weg wie möglich, ohne jeden Umweg direkt in ihr Bett unter die Bettdecke. Hatte