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Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms. Melissa C. FeurerЧитать онлайн книгу.

Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms - Melissa C. Feurer


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wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Die vielen Worte und das unangenehme Thema schienen Chas Kraft zu kosten. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, und er holte einige Male tief Luft, ehe er fortfuhr: „Dann wollte er mir nur noch eines beibringen: ein Thronfolger zu sein. Wie er zu werden. Wie habe ich ihn dafür gehasst.“ Abermals sog er Luft in seine Lungen und griff dabei unwillkürlich nach seinem verletzten Arm.

      „Hier.“ Mira hätte ihn so gerne reden lassen. Sie wusste so wenig über Chas und wollte noch so viel erfahren. Trotzdem half sie ihm, die Wasserflasche an die Lippen zu setzen. Sein Griff war schwach. Zu schwach, als dass er die Glasflasche selbst hätte halten können. Mira ließ nicht los, und dankenswerterweise nahm Chas es wortlos hin, nickte ihr sogar zum Dank zu, ehe er den Kopf erschöpft zurücksinken ließ.

      „Tut mir leid“, murmelte er mit geschlossenen Augen.

      „Was tut dir leid?“

      „Dass ich dich aufhalte. Deinen Freund erwartet der Prozess, und du sitzt meinetwegen hier fest.“

      Mira wollte ihm widersprechen, ihm sagen, dass es nicht seine Schuld war und dass Filip außerdem nicht ihr Freund war. Nicht wirklich. Sie hatten so getan, ja, um ihren Vater hinters Licht zu führen – dafür schämte sie sich nun, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Vor allem, weil ihr darüber entgangen war, wie Filip immer weniger so getan und immer mehr wirklich etwas für sie empfunden hatte.

      Doch sie brachte nichts von alledem über die Lippen. Der Kloß in ihrem Hals ließ es nicht zu. Denn die Wahrheit war, dass sie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden kaum einen Gedanken für Filip übriggehabt hatte. Die Angst um Chas war einfach übermächtig gewesen. Jetzt konnte sie es selbst nicht mehr begreifen. Filip saß ihretwegen in einem Verlies in der Hauptstadt. Wer wusste, wie sie ihn dort behandelten, welche Todesängste er ausstehen musste?

      „Sobald es dir besser geht, machen wir uns wieder auf den Weg.“ Mira war sich nicht sicher, ob sie damit Chas oder sich selbst das schlechte Gewissen ausreden wollte. „Du kannst mit zur königlichen Residenz kommen und mir helfen. Dann sind wir quitt.“

      Es war als Scherz gemeint, aber Chas verzog wie im Schmerz das Gesicht. „Als hätte ich eine andere Wahl, nachdem Filip mich mit dir hat entkommen lassen.“

      „Deshalb musst du nicht …“, setzte Mira an, aber Chas fiel ihr ins Wort: „Ich kann es nicht erwarten, diesem Land endlich den Rücken zuzukehren. Aber ich bleibe niemandem etwas schuldig.“ Er schloss die Augen und atmete tief ein. „Egal, was es kostet.“

      Eine Weile saß Mira einfach nur da und sah den anderen beim Schlafen zu. Mehrmals nahm sie sich vor, aufzustehen und sich auf die Suche nach etwas Essbarem zu machen, doch sie konnte sich nicht dazu durchringen. Ihr Blick verweilte auf Chas, dessen Züge nun ganz friedlich waren. Ein Teil von ihr hätte ihn gerne aufgeweckt, um das hässliche Gefühl der Angst zu verjagen, das nun, da er die Augen wieder geschlossen hatte, zurückkehrte. Das Gefühl, nur eine Haaresbreite von einem neuerlichen Verlust entfernt zu sein.

      „Wir hätten uns denken können, dass ihr zusammen unterwegs seid.“

      Mira zuckte zusammen, als Biene so unerwartet das Wort an sie richtete. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie aufgewacht war und sich an Urs’ Seite lautlos aufgerichtet hatte.

      „Was meinst du damit?“

      Biene griff nach der Glasflasche, löste den Schraubverschluss und trank in langen Zügen. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Lippen, ehe sie endlich antwortete: „Du und Chas. Es überrascht mich nicht, dass ihr doch nicht getrennte Wege gegangen seid.“

      „Chas ging es nicht gut.“ Mira wusste selbst nicht, warum sie das Bedürfnis hatte, sich zu rechtfertigen. „Ich konnte ihn wohl kaum alleine lassen.“

      Biene sagte nichts. Mira nahm ihr die Wasserflasche aus der Hand und trank ebenfalls. Aber auch nach mehreren Schlucken fühlte ihre Kehle sich noch rau und eng an. Wie sollte sie Biene erklären, was Chas und sie verband, wenn sie es doch selbst nicht so recht wusste?

      „Wir stehen beide in Filips Schuld“, erklärte sie schließlich, die Trockenheit in ihrem Hals ignorierend. Was wollte sie Biene eigentlich beweisen? Dass sie einen guten Grund hatte, Filip retten zu wollen? Oder doch eher einen guten Grund dafür, dieses Unterfangen gemeinsam mit Chas anzugehen? Eigentlich musste sie keines von beidem entschuldigen.

      „Ist Filip eigentlich dein …“

      „… Freund?“, vollendete Mira Bienes Satz, als sie deren Zögern bemerkte. Sie fuhr mit den Fingern den gläsernen Flaschenhals auf und ab. War Filip denn ihr Freund? „Er ist für mich immer wie ein Bruder gewesen. Immerhin war er der meiner besten Freundin.“ Sie schluckte. Vera war nicht mehr ihre beste Freundin, nicht nachdem sie die Fischerkinder und mit ihnen Mira so feige verraten hatte. Trotzdem war das, was sie mit Filip verband, noch da. Als wäre eine Zuneigung, die nichts mehr mit Vera zu tun hatte, zwischen ihnen gewachsen. Aber wie sollte sie das in Worte fassen?

      „Eigentlich war es die Idee meines Vaters“, versuchte sie es zaghaft. „Filip und ich wollten nie miteinander ausgehen. Aber ich brauchte ein Alibi für die Treffen der Fischerkinder, und Filip … mein Vater war sein Vorgesetzter. Filip hätte alles getan, um es ihm recht zu machen. Also haben wir so getan, als wären wir ein Paar. Ich … ich habe nur nicht bemerkt, dass Filip irgendwann aufgehört hat, nur so zu tun.“ Und dann hatte Filip ihr und Chas auch noch das Leben gerettet und teuer dafür bezahlt. Er war gefangen genommen und des Hochverrats angeklagt worden. Ihretwegen. War es da nicht das Mindeste, ihm im Gegenzug auch zu helfen?

      Mira sah zu Biene hinüber, die nachdenklich den Kopf hin und her wiegte. „Das klingt ziemlich kompliziert.“

      „Ist es auch.“

      „Und Chas?“

      Mira brach hastig den Blickkontakt mit Biene ab, und ihre Augen huschten für einen Sekundenbruchteil zu Chas, der immer noch schlief. Ihm schuldete sie im Gegensatz zu Filip nichts. Sie verband auch keine langjährige Geschichte der Freundschaft und Vertrautheit. Überhaupt war sie nicht sicher, ob Chas jemals das Bedürfnis nach einem Freund oder Vertrauten verspürte. Sein Geheimnis hatte er ihr nicht etwa anvertraut. Nein, das war Ben gewesen, dem es vor Wut herausgerutscht war. Aber dass sie und Chas immer noch zusammen unterwegs waren, sprach doch für sich. Wenn es schon nicht bedeutete, dass sie Vertraute waren, so zeigte es zumindest, dass sie für einen Abschied noch nicht bereit waren.

      „Ich mag ihn“, flüsterte Mira. „Ich mochte ihn von Anfang an. Und er …“ Sie dachte an den Kuss, wollte aber nicht, dass Biene davon erfuhr. Sie wusste ja selbst nicht, was dieser Kuss bedeutet hatte. Es war im Affekt geschehen, an dem Tag, an dem Chas Klein-Ararat hatte verlassen wollen. „Aus Chas wird man ja nicht schlau“, meinte sie vage. „Er spricht nicht über solche Dinge.“ Außer natürlich im Fieberwahn, aber auch davon konnte sie Biene nicht erzählen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Chas selbst sich noch daran erinnerte. Falls ja, so war sie überzeugt, dass es ihm so unangenehm war, dass er niemals auch nur ein einziges Wort darüber verlieren würde. Vielleicht hoffte er sogar, dass seine überschwänglichen Geständnisse nur Teil seines Fiebertraums gewesen waren.

      „Was ist mit den anderen?“, fragte Mira, um ihre eigenen Gedanken zum Schweigen zu bringen. „Was ist aus ihnen geworden?“

      Biene sah sie eine Weile nur an. Dann begann sie, mit einer Hand über Urs’ kurzes, borstiges Haar zu streicheln und zu erzählen: „Sie sind alle untergetaucht, nehme ich an. Als wir am nächsten Morgen noch einmal zum Buchladen kamen …“ Ihre Stimme kratzte und setzte kurz aus. „… da war niemand mehr da.“

      Das Bild zugezogener Vorhänge schob sich ungebeten vor Miras Augen. Edmund Porter, der freundliche Buchladenbesitzer, wäre nicht der erste Mensch, der von einem Tag auf den anderen plötzlich nicht mehr da war. Der einfach so verschwand. Das passierte mit Menschen, die sich dem Staat widersetzten. Und darin war Edmund Porter ein Meister gewesen. Er hatte den flüchtigen Sohn des Königs versteckt, verbotene Literatur gelesen und unter die Leute gebracht, auf dem Schwarzmarkt gehandelt und eine sogenannte konspirative – und damit illegale


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