Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms. Melissa C. FeurerЧитать онлайн книгу.
taub sein. Sie packte Chas fester. Er biss sich auf die Unterlippe, während sie versuchte, ihn mit sich nach oben zu ziehen. Aber ihre Kraft reichte nicht aus. Ihre Hände rutschten ab, doch Chas konnte sich in letzter Sekunde selbst mit beiden Armen abfangen. Dieses Mal konnte er einen Aufschrei nicht unterdrücken. Die abrupte Belastung seines verletzten Arms musste ihm höllische Schmerzen bereiten.
„Es tut mir leid.“ Mira fühlte ein Brennen in ihrer Kehle, schluckte die Tränen jedoch mühsam hinunter. „Es tut mir so leid, aber ich muss …“
„Lass mich machen!“ Urs schob Mira so grob zur Seite, dass sie den Hang hinabrutschte und noch mehr Metallteile polternd zu Fall brachte. Biene kletterte hinter Urs durch die Tür des Wagens und half von dort, den vor Schmerz keuchenden Chas in das Innere des Autos zu zerren.
Auch Mira machte sich wieder an den Anstieg. Müssten die Wachmänner sie nicht längst erreicht haben? Jeden Augenblick konnten sie hinter ihrem Rücken auftauchen. Mira konnte dem Drang nicht widerstehen, einen Blick über die Schulter zu werfen. Ein Fehler, wie sich schnell herausstellte. Ihre Hand griff ins Leere, und eine Schreckenssekunde lang spürte Mira, wie ihr Körper den Halt verlor. Dann packten Urs’ kräftige Hände ihre Arme und zogen Mira durch die offene Wagentür.
Einen Moment lang stand alles still. Sie keuchten vor Anstrengung, Schmerz oder Panik und übertönten dadurch beinahe die Schritte, die draußen auf Kies und Schrott knirschten. Dann lehnte Biene sich vor, um die Tür hinter Mira zuzuziehen − und in diesem Moment zerriss die Welt um sie herum in Chaos.
Krachend schlugen Metallteile zusammen. Mira wurde über die fehlende Rückenlehne auf den Rücksitz des Schrottwagens geschleudert, Biene schrie, Urs schwerer Körper presste sich auf Miras, das Dach über ihnen knirschte, und Dunkelheit verschluckte sie.
Erst als der Grund, auf dem sie lag, zum Stillstand kam, wurde Mira klar, dass der Schrotthaufen, in dem ihr Auto wie ein Nagel in der Wand gesteckt hatte, in sich zusammengebrochen sein musste. Er hatte sie unter Schutt begraben, und nur hie und da spähte ein wenig Sonnenlicht von fern zu ihnen herein.
Mira hatte Mühe, Luft zu holen. Ihr Kopf hämmerte, und als sie die Hand hob und an die Stirn presste, griff sie in etwas Warmes, Klebriges. Es war Blut.
„Chas?“ Ihre Stimme kratzte und klang gleichzeitig unerwartet schrill. „Wo … seid ihr okay?“
„Scht.“ Ein immenses Gewicht wurde von ihrem Brustkorb gehoben, als Urs sich auf seine kräftigen Unterarme stützend, sich von ihr herunterrollte. Endlich konnte Mira wieder frei atmen. Sie setzte zu einer erneuten Frage an, doch Urs knurrte: „Seid still. Alle.“
Mira glaubte, Biene leise wimmern und dann verstummen zu hören. Dafür nahm sie nun andere Geräusche wahr. Geräusche, die von draußen kamen.
„Meinst du, es waren Rebellen?“ Das war eine Frau. Eine tiefere Stimme antwortete. Mira hatte Mühe, die Worte zu verstehen. „ … hier draußen herumtreiben. Jedenfalls glaube ich nicht, dass jemand überlebt hat.“
Mira hielt diese Schlussfolgerung für leichtsinnig, aber wenn sie es sich recht überlegte, lag sie nahe. Hätten sie sich nicht in einem festen Gestell aus Metall befunden, hätte der Berg Schrott sie bei seinem Zusammensturz unweigerlich erschlagen, zerquetscht oder zumindest so schwer verletzt, dass sie hier unten verblutet oder erstickt wären.
Nur mühsam widerstand sie dem Drang, erneut nach Chas zu fragen. Urs schien in Ordnung zu sein, und auch von Biene hatte sie zumindest ein Lebenszeichen vernommen. Aber Chas konnte sie in der Dunkelheit nicht einmal halbwegs verorten. Sie lauschte, ob sie sein Atmen unter dem der anderen heraushören konnte, aber sie war nicht sicher, ob die gepressten Züge von ihm oder von Biene kamen.
Stumm verharrten sie in ihrem finsteren Gefängnis und wagten kaum zu atmen. Etwas bohrte sich schmerzhaft in Miras Rücken, aber sie konnte es nicht riskieren, auch nur ihr Gewicht zu verlagern. Was, wenn das ganze wackelige Gebilde dann erneut in Bewegung kam und verriet, dass darunter noch jemand am Leben war?
So lauschten sie nur den Geräuschen, die von draußen hereinkamen. Gedämpfte Stimmen, manchmal Schritte und endlich, nach einer ganzen Ewigkeit, das Knirschen von Reifen.
Sie verharrten noch eine Weile − unsicher, ob es Minuten oder doch nur Sekunden waren −, dann richtete Mira sich langsam auf. Auch Urs neben ihr erwachte aus seiner Starre, und eine Bewegung zu ihrer Linken ließ Mira zusammenfahren. Eine Hand berührte im Halbdunkel ihre Stirn. Das Reißen von Stoff war zu hören, und jemand reichte ihr einen Stofffetzen. „Hier.“
Es war, als strömte die Luft erst jetzt wieder frei in Miras Lungen. Als hätte sie seit Minuten nur flach und unzureichend geatmet, während sie vergeblich auf den Klang dieser Stimme gewartet hatte.
Sie nahm den Fetzen aus Chas’ Hand und presste ihn auf die Wunde an ihrer Stirn. Der Druck linderte das Pochen ein wenig. „Bist du okay?“, krächzte sie schließlich.
Chas antwortete nicht. „Das war verflixt knapp“, sagte er stattdessen.
Niemand pflichtete ihm bei. Sie waren alle noch zu beschäftigt, den Schrecken zu verdauen. Urs war zu Biene gerobbt und redete beruhigend auf sie ein. Mira konnte mehr hören als sehen, wie die beiden sich aneinanderklammerten und einander hielten.
In der Dunkelheit spürte sie, wie Chas seine Finger sachte auf ihre freie Hand legte. Als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Nachdem alle grundlegenden Fragen beantwortet waren − dass niemand ernstlich verletzt war und dass sie gerade noch einmal mit dem Schrecken davongekommen waren −, wurden sich die vier schnell in einem Punkt einig: Sie mussten so bald wie möglich von hier verschwinden.
Vermutlich würden die Wachen von Cem keinen großen Aufwand betreiben, um ihre vermeintlichen Leichen zu bergen. Aber sie konnten doch nicht sicher sein, ob sie nicht schon in Kürze zurückkehren würden.
Urs machte sich daran, ihnen einen Weg nach draußen freizuräumen. Alle Türen klemmten, und so schlug er das Heckfenster ein, um von dort aus mit der Arbeit zu beginnen. Es war kein leichtes Unterfangen. Immer wieder brach der schon geschaffene Tunnel über ihm zusammen und drückte einmal sogar die Decke des Wagens gefährlich ein. Von da an war Urs noch vorsichtiger bei dem, was er tat.
Zwar versuchte Chas anfangs, ihm zur Hand zu gehen, doch wurde schnell klar, dass er keine große Hilfe war. Im Gegenteil: Chas’ unsteter Gesundheitszustand war nicht nur beim Freiräumen eines Weges ans Tageslicht hinderlich.
„Es wäre das Beste, so schnell es geht so viel Distanz wie möglich zwischen uns und Cem zu bringen“, erklärte Urs, während er an einer Stoßstange rüttelte, die seinen weiteren Weg nach oben blockierte. Das Metall über ihnen ächzte dabei bedenklich. „Dein Job ist es jetzt ausschließlich, so schnell wie möglich zu Kräften zu kommen. Damit wir schnell weiterziehen können.“
Chas schnaubte verächtlich.
Mira konnte es ihm nicht verdenken. Er war nicht nur frustriert, Urs beim Bau ihres Fluchtweges nicht helfen zu können. Urs’ Rat war auch leichter gesagt als getan. Sie hatten hier drinnen weder Wasser noch Nahrung, die er gebraucht hätte, um sich von seiner Verletzung und der langen Zeit des Fiebers zu erholen.
„Wohin wollt ihr überhaupt gehen?“, fragte Mira. Sie kauerte im Kofferraum des Wagens und erledigte hin und wieder Handlangeraufgaben für Urs. Dass sie oder Biene zu ihm nach draußen in den instabilen Tunnel kletterten, wollte er partout nicht zulassen.
Urs hatte die Stoßstange mittlerweile aufgegeben und bahnte sich stattdessen einen Weg um sie herum. Er reichte Mira ein weiteres Stück rostiges Metall, das sie auf dem freien Teil der Rückbank ihres Wagens verstaute.
„In die Hauptstadt“, gab Biene an seiner Stelle Auskunft. „Zu den Rebellen.“
Mira wandte sich zu ihr um und gab sich alle Mühe, sie nicht anzustarren. „In der Hauptstadt … gibt es Rebellen?“
„Klar, am Puls des Geschehens. Sie sind viel mehr als die kleinen Grüppchen in den anderen Städten. Aber sie arbeiten alle zusammen. Sie wollen …“ Biene verstummte.