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Das Tal der Untoten. Matthias AlbrechtЧитать онлайн книгу.

Das Tal der Untoten - Matthias Albrecht


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entspricht. Nur mit dem Unterschied, dass es einem nicht vergönnt ist, zu erwachen. Man wundert sich nicht über Absurditäten – man empfindet sie als „realistisch“ und völlig normal. Ein Untoter sägt seinem ehemaligen Kumpel den Kopf vom Körper und ist in diesem Moment der festen Überzeugung, etwas zu tun, was selbstverständlich und logisch ist. Er baut im Bergwerk Gestein ab, ohne zu wissen, wozu das gut sein soll. Schürft er Edelmetall? Erz? Kohle? Oder gräbt er lediglich einen Tunnel? Er weiß es nicht und fragt nicht danach. Es ward ihm so aufgetragen, also tut er es. So wie Sie in Ihrem Traum Dinge tun, auf die Sie im wachen Zustand nie kämen.

      Untot zu sein bedeutet also, einen immerwährenden Traum zu träumen, in welchem man Bergbau betreibt, Gemüse anbaut, Ziegen melkt oder Körbe aus Weidenruten flicht, dann und wann einem Kumpel den Kopf absägt und am Ende des Arbeitstages mit erholsamem Schlaf belohnt wird.

      Die Schicht war für heute zu Ende, und wir gingen auf kürzestem Weg in unsere Unterkünfte. Die Langhäuser sahen alle gleich aus. Damit man sich zurechtfand, waren an den Stirnseiten neben der Tür Nummern angebracht worden. Ich hatte meine Schlafstatt im Ruhehaus „RH M150 – 210“. Unter dieser Bezeichnung hing seit zwei Tagen eine Schiefertafel und der mit Kreide aufgemalte Zusatz: „Außer M167 und M189. Diese jetzt in H4.“ Das hieß, dass 167 und 189 zu anderen Aufgaben abgestellt waren und jetzt in einer Hütte mit der Nummer 4 schliefen. Aus welchen Gründen auch immer. Die zusätzliche Beschilderung war nur aus dem Grund angebracht worden, damit alle Aufseher und Schwestern Bescheid wussten und sich M167 und M189 an ihre neue Behausung gewöhnen konnten, falls sie nach getaner Arbeit anfangs noch immer ihr altes Ruhehaus ansteuern sollten.

      Wenn wir Untoten auch nicht zu geistigen Höhenflügen fähig waren, so kam es doch nur selten vor, dass wir uns im Gelände regelrecht verliefen oder unsere Unterkunft nicht gleich fanden. Jeder kannte seinen „Namen“ und konnte die betreffende Nummer im Schlaf herbeten. Und für den Fall, dass sich wirklich mal einer verirrte, gab es Streifenposten, die ihn wieder auf den rechten Weg brachten.

      Auch an den hölzernen, mit Strohmatratzen und Decken ausgestatteten Betten waren Schilder mit unseren Nummernamen angebracht worden. Noch nie war es vorgekommen, dass sich jemand versehentlich ins Bett des Nachbarn gelegt hatte. Absichtlich schon gar nicht. Nicht dass ich wüsste.

      Die Betten standen zu jeweils dreißig Stück an beiden Längsseiten des Hauses im Abstand von einem Meter zueinander. Nur in der Mitte gab es einen größeren, freien Raum, welcher der Feuerstelle in Form eines durchlöcherten Stahlfasses vorbehalten war. Hier wurde in den kälteren Monaten ein Feuer unterhalten, das die Temperaturen im Haus nicht unter zehn Grad Celsius sinken ließ. So seltsam es klingen mag – auch Untote konnten in sehr kalten Wintern erfrieren. Die Feuerstelle war von einem Käfig aus Streckmetall umgeben, der fast bis zum Dach reichte, in welchem sich der Rauchabzug befand. Der Job des Heizers war den Lebenden vorbehalten. Kein Untoter durfte mit offenem Feuer in Berührung kommen. Einzige Ausnahme: Das Geleucht der Bergmänner. Doch die Ölfunzeln und Kerzenstumpen waren im Vergleich zu den brennenden Holzscheiten in den Ruhehäusern ja auch recht harmlos.

      Ein Aufseher entfachte und unterhielt den Brand, bis spätabends die Glut im Fass eine Höhe von einem halben Meter erreicht hatte und die Arbeiter in tiefen Schlaf gesunken waren. Dann schloss er die Käfigtüre ab und ging seiner Wege. Im Dunkeln glühte der untere Teil des Fasses dunkelrot. Durch die Belüftungslöcher sah man die grelle Glut funkeln. Die Untoten, deren Schlafstätten in der Nähe der Feuerstelle lagen, starrten kurz vor dem Einschlafen wie hypnotisiert auf dieses Fass, ohne recht zu wissen, worum es sich bei diesem eigentlich handelte. Unser Wärme- und Kälteempfinden war ohnehin nur sehr schwach ausgeprägt.

       V

      Eines Morgens wollten wir die Unterkunft verlassen, um unserer Arbeit nachzugehen. Noch in der Tür zögerten die Vorderen. Die Landschaft draußen hatte sich verändert. Die Ruhehäuser waren weg. Die Wege, Gatter, Hütten, Bäume – wie vom Erdboden verschwunden.

      So etwas Ähnliches hatten wir erst kürzlich erlebt: Als sich vor zehn Tagen dicker Nebel ins Tal wälzte, dass man die Hand vor Augen nicht erkennen konnte. Da fanden sich nicht mal die Lebenden zurecht, und wir blieben bis zum nächsten Tag in unseren Häusern. Irgendwie schafften es die Schwestern am Abend, bis zu uns vorzudringen und uns wenigstens den Drink zu verabreichen. Deshalb wurde auch niemand aggressiv und streitsüchtig.

      Dennoch – wir sollten jetzt eigentlich im Bergwerk sein und Höchstleistungen vollbringen. Schnell wurden wir unruhig. Wir wollten raus. Raus und an die Arbeit. Wir waren es so gewohnt. Einige begannen, ziellos im Raum umherzulaufen. Andere saßen auf ihren Betten und wippten mit dem Oberkörper vor und zurück. Wieder andere, darunter auch ich, puhlten das Stroh aus ihren Matratzen, nur um etwas zu tun.

      Die Schwestern wussten sich keinen Rat, und eine ging, den Oberaufseher zu holen. Es dauerte eine Weile, ehe sie mit ihm zurückkehrte. Als er dann in der Tür stand, erfasste er die Situation mit einem Blick. Ich weiß nicht, wie er es schaffte, doch plötzlich waren wir alle Huntstößer. Als Hauer hätten wir im Ruhehaus auch schlecht beschäftigt werden können. So stellte sich auf Weisung des Oberaufsehers nun ein jeder vor sein Bett, schwenkte es um neunzig Grad herum, und schob dann das Gestell gegen den Uhrzeigersinn durch das Haus. Immer einer hinter dem anderen. Auf gerader Strecke kein Problem. In den engen Kehren an den Stirnseiten des Hauses jedoch kamen wir ins Schwitzen. Es war ein Kraftakt, die schweren Betten herum zu wuchten. Zu Beginn kam es öfter zur Staubildung, weil man warten musste, bis der Vordermann um die Kurve war. Doch bald hatten wir den Dreh raus. Die Geschwindigkeit erhöhte sich. Der Oberaufseher stand mit verschränkten Armen grinsend in der Tür, derweil sich die Schwestern die Ohren zuhielten. Im Quietschen und Kreischen, mit denen die grob gearbeiteten, hölzernen Füße von sechzig Betten über die Dielen schabten, wäre selbst der Lärm eines Presslufthammers untergegangen.

      Am frühen Nachmittag waren wir am Ende. Wir nahmen unseren Brei zu uns und fielen auf die Betten, die wir mit letzter Kraft wieder an ihren angestammten Platz geschoben hatten. Und Sekunden später in tiefen Schlaf.

      Würde es heute wieder so kommen? Niemand traute sich, die Schwelle zu überschreiten. Die Schwestern redeten uns gut zu. Ob wir nicht das Lämpchen über der Tür des Nachbarhauses sehen würden, fragten sie und lachten. Es sei diesmal kein Nebel sondern Schnee. Dann zeigten sie auf die Gemüsebauern, die während des Winters anderweitig beschäftigt werden mussten. Sie räumten die Wege, damit wir zum Bergwerk gelangen konnten. Wir atmeten auf. Schnee kannten wir – aber solch eine Menge hatten wir noch nicht gesehen. Auf dem Weg zur Arbeit staunten wir über die aufgetürmten, mannshohen Wälle aus Schnee zu beiden Seiten unseres Weges. Die Bauern hatten ganze Arbeit geleistet.

      Nicht dass Missverständnisse aufkommen: Wir staunten über jene Schneemassen nicht so, wie es Lebende tun würden, aber wir bemerkten sie immerhin und ahnten das Ausmaß dieses Naturphänomens zumindest im Ansatz. Das war für uns Untote bereits eine unerhörte geistige Leistung. Als wir einfuhren, waren diese Eindrücke allerdings schon wieder aus unseren Hirnen gelöscht.

      Im Berg war es, verglichen mit der Außentemperatur, regelrecht warm. Wir hauten drauflos, dass es eine Art hatte. Die Huntstößer schoben ihre vollen Loren mit einer Geschwindigkeit zum Förderschacht, als gäbe es kein morgen. Die Spurlatten vibrierten regelrecht auf den geraden Strecken. Und um die Kurven bellten die Hunte, wenn sich Holz auf Holz rieb, wie kläffende Terrier. Ein quietschendes, nervenzerreißendes Bellen.

      Wir wollten den Rückstand aufholen. Die Norm erfüllen. Übererfüllen! Pluspunkte sammeln. Jeder Einzelne von uns. Das war sogar den Oberaufsehern suspekt. Nur mühsam gelang es ihnen, unsere Arbeitswut zu zügeln. Was hatten sie davon, wenn uns ein Unfall zustieß oder wir einen Schwächeanfall erlitten? Wenn wir für Tage, gar Wochen, ausfielen? Und vor allem: Was hatten wir davon? Eine Zurückstellung vom Paradieseintritt – wie lange auch immer – wäre wohl noch das geringere Übel gewesen …

      An diesem Tag gab es nur acht leicht und zwei mäßig stark Verletzte. Keine Toten. Das war das Verdienst der Aufseher, die uns beizeiten gestoppt hatten.

      Kurz vor dem Zubettgehen kamen die Schwestern mit ihren untoten Helferinnen.


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