Das Tal der Untoten. Matthias AlbrechtЧитать онлайн книгу.
Augen auf meiner Lagerstatt und starrte in die Dunkelheit. Irgendetwas war anders als sonst. Ich schwitzte, obgleich ich mich weitab vom Ofenfass befand. Mein Herz raste, und meine Kehle war trocken. Ich hatte Durst. Meine Handgelenke, Oberarme und Schenkel schmerzten. Das war mir noch nie passiert. Waren das Symptome einer Krankheit? Ich war doch noch nie krank gewesen. Wie sollte ich als Kranker meine Norm schaffen?
Ich setzte mich auf. Mir schwindelte, und ich fühlte mich schwach. Also doch krank? Also doch!
Nach und nach beruhige ich mich. Es würde schon wieder werden. Ich durfte mir nichts anmerken lassen und legte mich wieder hin. In meinem Kopf herrschte ein buntes Durcheinander. Gedanken kamen und gingen, bevor es mir gelang, deren Sinn zu erfassen. Es strengte mich an, und bald ließ ich es bleiben. Es machte mir Angst, hatte ich mir doch nie zuvor soviel Gedanken gemacht. Endlich schlief ich doch ein.
Meine Hacke trifft das Gestein nicht im rechten Winkel und wird mir beinahe aus der Hand geschlagen. Splitter verletzen meinen Nachbarkumpel an der rechten Wange und der Schläfe. Dunkles Blut läuft ihm über das Gesicht. Er bemerkt es nicht. Sein Blick streift mich nur kurz und teilnahmslos. Dann führt er seinen letzten Schlag, dreht sich nach links und geht zum Ende der Schlange. Ich folge ihm. Der Aufseher tritt zu mir heran. Fragt, was los sei mit mir. Er hat alles gesehen. Ich gebe keine Antwort.
„Das ist nicht professionell, M203“, sagt er. Nicht professionell heißt: Nicht der Norm entsprechend. Und damit ist nicht die Arbeitsleistung, sondern das Verhalten gemeint.
Er zieht mir das rechte Lid empor, leuchtet mir ins Auge und runzelt die Brauen. „Du bist doch nicht krank, 203?“
Ich zucke die Schultern. „Heute Nacht …“
„Was war in der Nacht?“
„Ich, ich weiß nicht. Irgendwie anders.“
„Versuche es zu beschreiben.“
Ich schließe die Augen und tue mein Bestes, doch die Erinnerung will nicht kommen. Der Aufseher klopft mir auf die Schulter. „Ihr seid beide wieder dran. Reiß dich jetzt zusammen.“
Ich nicke, hebe die Hacke und schlage zu. Diesmal trifft die Breitseite des Blattes den Fels. Prallt zurück und gegen meine Stirn. Ich gehe zu Boden.
„Ausfahren!“, befiehlt der Aufseher. Mühsam komme ich auf die Beine, torkle zum Ende der wartenden Hauer und breche erneut zusammen. Der Huntstößer wird angewiesen, mich aufzuladen. Er schafft es nicht allein. Ich bin ein Doppelzentner schlaffes, kraftloses Fleisch.
„Helfen!“Andere packen mit zu und wuchten mich rücklings auf die Lore. Dann werde ich ausgefahren. Ich sehe noch die Verschalung über mir vorübergleiten, dann schwinden mir die Sinne.
Was für ein Traum! Oder war es gar keiner? Ich sah mich um. Und wusste plötzlich, wo ich mich befand: In der Sanitätsbaracke! Hier herrschte nicht gerade Hochbetrieb. Untote wurden nur selten krank. Und ausgerechnet mich musste es erwischen. Außer mir lagen hier noch zwei „Versager“ in ihren Betten und schienen mehr tot als lebendig zu sein. Sie bewegten sich kaum und waren blass wie eine frisch gekalkte Wand. Wäre es mir möglich gewesen, meine Gedanken zu ordnen, hätte ich über diesen Witz schmunzeln können. Halbtote Untote im Krankenrevier! Zum Totlachen.
Auf den ersten Blick unterschied sich diese Baracke nicht wesentlich von unseren Unterkünften. Nur dass sie kleiner war. Kürzer. Kein Langhaus. Statt dreißig Betten lediglich zehn auf jeder Längsseite. Der obligatorische Ofen mit dem Drahtkäfig drum herum stand auch hier inmitten des Hauses. Doch links neben jedem Bett befand sich ein kleines Schränkchen, welches nur die Schwestern zu öffnen vermochten. Manchmal, wenn eine von ihnen ans Bett des Kranken trat, entnahm sie diesem Schränkchen etwas und – tja, ich weiß nicht, was sie dann damit machte, aber irgendwie hatte es wohl mit der Pflege oder Betreuung zu tun. Vielleicht handelte es sich um Medizin. Oder Verbandsmaterial. Etwas in der Art.
Anfangs war ich sehr nervös. Eigentlich lag es nicht in unserer Natur, nervös zu sein oder diese Empfindung auch nur im Ansatz zu fühlen. Geschweige denn, sie in unser Bewusstsein zu lassen. Doch ich spürte es. Etwas Fremdes schien von mir Besitz ergriffen zu haben. Ich spürte auch, dass es mit der Zeit nachließ. Und wieder von mir Besitz ergriff, als ich die untote Helferin meiner Schwester erkannte. Die, welche mir gestern den Drink gereicht hatte.
Normalerweise empfanden männliche Untote nichts beim Anblick von weiblichen. Und umgekehrt. Das dürfte kaum verwunderlich sein, nicht wahr? Und damit hatte ich nun ein Problem. Denn ich erkannte diese Untote nicht nur – ich empfand auch etwas, das ich nicht in Worte kleiden konnte. Es ist ja schon für einen Lebenden schwer genug, seine Gefühle für das andere Geschlecht zu beschreiben, wie viel mehr dann für einen Untoten?!
Als sie mir an diesem Abend die Medizin verabreichte, wollte ich ihr eine Frage vorlegen. Allerdings kam mir kein Wort über die Lippen. Nicht dass ich die Fähigkeit, zu sprechen, eingebüßt hätte, obgleich das kein Wunder gewesen wäre, denn im Allgemeinen reden Untote ja nicht viel. Ich hatte das, glaube ich, bereits erwähnt. Es ist nur so, dass ich in diesem Moment nicht in der Lage war, meine Frage in Worte zu fassen.
Sie spürte meinen verzweifelten Versuch, ihr etwas mitzuteilen, berührte – mit einem schnellen Seitenblick auf die Schwester – ihre Lippen mit dem Zeigefinger und drückte meinen Oberkörper mit sanfter Gewalt auf die Lagerstatt. Dann legte sie die Hände flach aneinander, hielt sie sich an die Wange, neigte den Kopf zur Seite, schloss dabei kurz die Augen und nickte mir zu, als wollte sie sagen: „Schlaf nun oder tu wenigstens so.“ Die Schwester bekam von alldem nichts mit, denn sie war dabei, meine Schnittverletzungen an den Unterschenkeln zu verarzten. Tatsächlich entspannte ich mich und schlief kurze Zeit später ein.
Irgendwann in der Nacht – der Heizer war bereits gegangen – wurde ich wachgerüttelt. Ich öffnete die Augen und erkannte im diffusen Schein einer Öllampe „meine“ untote Assistentin. Wieder hielt sie sich den Finger an die Lippen, dann flüsterte sie: „Sprich leise und bewege dich nicht! Erkennst du mich?“
Ich nickte.
„Wie fühlst du dich?“
Diese Frage überforderte mich. Was meinte sie? Was wollte sie hören? Was sollte ich antworten? Es wäre besser gewesen, sie hätte mir die Antworten in den Mund gelegt. Als Alternativen, meine ich.
„Ich – eh …“
„Spürst du etwas Merkwürdiges?“
„Etwas Merkwürdiges?“ Ich verstand sie nicht. Worauf wollte sie hinaus?
„Ich meine etwas, das du zuvor nicht gefühlt hast. Ist irgendwas anders als sonst?“
Ein paar Sekunden lang unternahm ich den krampfhaften Versuch, zu denken. Dann sagte ich: „Ich – ich sollte jetzt schlafen.“
Sie lächelte. „Richtig. Und warum?“
Wieder so eine Frage. Warum? Na, weil, weil …
„Weil es so sein muss?“
„Genau. Und wieso schläfst du dann nicht?“
Mir wurde warm. Nicht deshalb, weil sie eigentlich ganz hübsch war. Dies bemerken zu können, verwirrte mich zusätzlich. Aber diese Fragen! Sie zu beantworten fiel mir schwerer, als in einer Stunde einen Zentner Gestein zu hauen. Als hätte ich unmittelbar vor einer mündlichen Prüfung die falsche Frage gezogen.
Mündliche Prüfung? Wie kam ich darauf?
„Wie-so-bist-du-wach?“ Sie betonte die einzelnen Silben, indem sie zwischen jeder eine kleine Pause machte.
Ich hatte das Gefühl, dass von dieser Frage mein Eintritt ins Paradies abhängen würde und strengte mich an, die Antwort zu finden. Jetzt schwitzte ich regelrecht.
„Weil – weil du – mich – geweckt hast?“
„Gut“, sagte sie und schaute sich um. Die beiden Kranken hielten die Augen geschlossen und schliefen. Oder waren zumindest nicht in der Lage, ihr Umfeld wahrzunehmen. „Das wollte ich hören. Du machst schnell Fortschritte. Das ist ausgezeichnet.“
Ich