Seidenkinder. Christina BrudereckЧитать онлайн книгу.
Die meisten Lichter brannten aus, bevor ihr Wachs ganz verbraucht war, oder wenn er ganz viel Glück hatte, ertrank die Flamme, weil der Docht zu kurz war. Von solchen Kerzen sammelte er das Wachs, goss es, solange es noch flüssig war, in einen der leeren Becher, wartete, bis die Kerzen trocken waren, und verkaufte sie dann. Das war doch eigentlich kein Diebstahl, sagte er sich, sondern eine ganz vernünftige Verwertung von Resten, von dem, was die Schwester, die die Kapelle säuberte, sonst ohnehin nur wegwerfen würde. Er aber konnte sich mit den Kerzen ein bisschen Geld verdienen, meistens gerade genug für einen Tag. So jedenfalls hatte er die letzten Jahre irgendwie überlebt.
Sie hielten an einer Kreuzung an. Ein Polizist regelte den Verkehr und winkte jetzt eifrig, damit sich die Linksabbieger in Bewegung setzten. Er trug ein Tuch vor dem Mund, um sich vor den Abgasen zu schützen, darunter blies er immer wieder in seine Trillerpfeife, die ein schrilles Geräusch von sich gab, aber für so einen Ordnungshüter, eine Staatsautorität, zu sehr an Kindergeburtstag erinnerte. Niemand wollte mit ihm tauschen.
Rechts am Straßenrand - nur die eine Hälfte derer, die im Auto saßen, konnten die Szene sehen, aber die konnten nicht daran vorbeischauen - saß ein Mann, nur mit einem Lunghi bekleidet, der nackte Oberkörper ausgezehrt, man konnte jede einzelne seiner Rippen sehen. In seinem linken Arm hielt er ein ganz junges Baby, auf dessen Augen Fliegen saßen. Der Mann versuchte, die Fliegen mit seiner rechten, freien Hand zu verjagen, aber man sah ihm an, dass seine Muskeln zu müde waren. Die Fliegen hatten mehr Ausdauer als er, er war schwächer. Er wirkte wie betäubt, übermüdet, erschöpft. Hin und wieder hob er seine Hand hoch, mit einer bettelnden Geste, aber niemand legte eine Münze in die offene Handfläche. Dann wieder ging seine Hand zum Gesicht des Babys.
Jaya sah auf die Gesichter seiner Gäste und konnte ihre Fragen dort lesen: Was wird aus den beiden? Wer stirbt zuerst? Wie lange wird der Vater sich noch um sich selbst und das Kind kümmern können? Wo ist die Mutter? Wie viele solcher Menschen gibt es in diesem Land? Wo soll man anfangen? Wie könnte man helfen? Eingreifen in ein Rad aus Armut und Chancenlosigkeit? Den Teufelskreis unterbrechen? Wie? Da fuhr der Wagen an und sie wurden weggebracht von diesem Anblick, einem Augenblick voller Fliegen, die stärker waren als ein Vater.
Der Fahrer lenkte sie sicher und mit viel Hupen durch die Straßen, bis sie in ein Viertel kamen, in dem es ruhiger wurde. Auf der rechten Seite lag das große Gelände der Don-Bosco-Schule. Für die meisten Jungen war der Unterricht zu Ende und man sah jede Menge Kinder, die in unterschiedliche Richtungen auseinandergingen, sich Bälle zuwarfen, um die Wette liefen, sich voneinander verabschiedeten und winkten. Die unterschiedlichen Jahrgänge, je nach Alter und Klasse, waren für jeden an der jeweiligen Farbe des T-Shirts zu erkennen, Rot, Gelb, Blau und Grün, immer mit weißem Kragen, das neben der schwarzen Hose die Schuluniform ausmachte. Jetzt sah auch Raja aus dem Fenster, mit großen, neugierigen und neidischen Augen.
Jaya erklärte an seine Gäste gewandt: „Die meisten unserer Kinder besuchen diese Schule. Sie ist recht groß, aber sehr gut. Die Lehrerinnen und Lehrer sind engagiert, geleitet von der Pädagogik von Don Bosco. Ja, die Schule überzeugt mich. Unsere Kinder lernen gerne und sie bringen gute Ergebnisse mit nach Hause, nicht nur in Mathematik oder Englisch, auch in Sport und Musik. Wenn ich die Entwicklung unserer Kinder betrachte, bin ich froh, so eine renommierte Schule in der Nähe zu haben und sie hierhin schicken zu können.“
Die Gäste nickten und einer, der Lehrer, meinte: „Don Bosco in allen Ehren, aber die Entwicklung der Kinder im Pattu-Heim hat ganz sicher noch viel mehr mit dir zu tun, mit deiner Art, mit der Atmosphäre, die du dort schaffst, mit der Liebe, die du schenkst, du und das ganze Team.“
Jaya hörte die Anerkennung in diesen Worten und bedankte sich auf eine so einfache Art und mit der für Inder typischen kleinen Verbeugung, dass klar war, er würde die Komplimente zulassen, aber niemals irgendeine Form von Verehrung. Das aber schien den Lehrer geradezu herauszufordern, doch noch weiterzureden, und Jaya hörte in seiner Stimme diese Spur von Aggressivität, so typisch für Gäste aus dem Westen. Einer von ihnen, ein Deutscher, hatte ihm einmal erklärt, dass echte Bescheidenheit sie unglaublich provozierte.
Das Gespräch konnte nicht fortgesetzt werden, denn in diesem Moment bogen sie in die Karishma-Straße ein. Sofort öffnete sich das Tor zu Haus Nummer sieben und mehrere Kinder sprangen auf die Straße, um das ankommende Auto zu begrüßen. Jaya wusste, sie waren aufgeregt, sie mochten es, Besuch zu haben, das brachte Abwechslung in ihren Tagesablauf, neue Geschichten, erweiterte ihren Horizont, machte das Leben spannend. Die Jungen öffneten die Türen des Autos und halfen den Gästen, auszusteigen, nahmen ihnen die kleinen Taschen und Rucksäcke ab und begleiteten sie mit ihren fröhlichen Grüßen ins Haus. „Uncle! Uncle!“ Überall waren ihre Stimmen, die Kinder wünschten sich Aufmerksamkeit. Sie holten Stühle und platzierten sie im Eingang, bedeuteten den Gästen, sich zu setzen, und brachten innerhalb kürzester Zeit Tassen, frischen Tee und Kekse. Dann begannen sie, den Gästen ihre Bücher und Schulhefte zu zeigen, und die hatten keine andere Wahl, wurden mitgerissen von ihrem Eifer und fanden sich ein paar Minuten später alle mitten in der konzentrierten Stimmung von Kindern, die tatsächlich gerne ihre Hausaufgaben machten.
Raja war in der Eingangstür stehen geblieben und wartete auf ein Zeichen, wie es weitergehen würde mit ihm. Er beobachtete die anderen Jungen, die ganze Szene. Alles wirkte natürlich und gleichzeitig eingespielt. Er hatte so ein Haus noch nie erlebt. Er konnte nur ahnen, dass es hier bestimmte Spielregeln gab, und er war neugierig, sie kennenzulernen, und fragte sich, ob er sie verstehen und einhalten könnte. Aber weil alle so ausgelassen wirkten, wurde er allmählich ruhiger.
„Raja!“ Die warme Stimme von Jaya riss ihn aus seinen Gedanken und er ging zu ihm, folgte ihm eine Treppe hinauf in die erste Etage in ein Büro. Jaya bot ihm einen Stuhl an, aber bevor sie anfingen, miteinander zu sprechen, kam einer der Jungen mit einem Tablett mit zwei Bechern, einer Teekanne und einem Teller mit Keksen und in Scheiben geschnittenem Apfel. Er stellte das alles auf dem Tisch ab und reichte Raja dann die Hand. „Ich bin Muthu“, sagte er und schenkte ihm ein breites Lächeln. Raja ergriff die Hand und sagte ebenfalls lächelnd: „Ich bin Raja.“
Jaya bedankte sich für den Tee und bat Muthu, später, in einer Stunde etwa, wiederzukommen und Raja dann das Haus zu zeigen. Muthu nickte und verließ das Zimmer. Raja sah ihm hinterher und musste plötzlich ganz unerwartet und heftig weinen. Er kämpfte gar nicht erst gegen die Tränen an, denn er merkte, sie überwältigten ihn. Er fragte sich auch nicht, warum er weinte oder ob er hier überhaupt weinen dürfe, er weinte einfach. Die Traurigkeit war auf einmal so groß, gleichzeitig war es hier endlich möglich, sie loszulassen. Auch Jaya fragte sich nicht, warum der Kleine weinte, es war nicht das erste Mal, dass er genau diese Reaktion erlebte. Er ließ ihn eine Weile für sich, reichte ihm dann die Pappbox mit den Papiertüchern hinüber und berührte ihn dabei kurz am Arm. Raja spürte, dass alles in Ordnung war, putzte sich die Nase und sah Jaya an. Der sagte mit ruhiger Stimme: „Weinen ist nicht schlimm, ist auch nicht peinlich, weinen ist manchmal einfach angemessen.“ Raja nickte, er verstand und er wusste sich verstanden.
Die beiden begannen, sich zu unterhalten. Diesmal aber folgten sie nicht mehr dem Frage-Antwort-Schema wie bei ihrer Unterhaltung im Krankenhaus, sondern Raja erzählte seine Geschichte. Jaya fragte sich wieder, wie viele solcher Gespräche er jetzt im Laufe der Zeit wohl schon geführt hatte? Damals bei der Kindernothilfe hatte er zunächst zugehört, wenn sein Lehrer, sein Mentor Lüder Lürs, mit den Kindern sprach. Er hatte sehr genau beobachtet, sich einiges von ihm abgeschaut und dann gemerkt, dass er selbst eine gute Art hatte, mit den Kindern umzugehen. Ja, es waren viele Kinder, aber von Routine konnte man nicht sprechen, weil sich die Geschichten zwar ähnelten, aber vor allem der Schmerz, den ein Mensch erlebte, immer seinen eigenen Respekt forderte. So sah er Raja an, ein besonderes Kind mit einer eigenen Geschichte.
Er erzählte tapfer, Satz für Satz: Seinen Vater hatte er kaum gekannt, er war die meiste Zeit des Jahres in Sri Lanka, arbeitete dort, trank aber auch sehr viel. Wenn er nach Hause kam, wurde das Leben in der kleinen Hütte anstrengender, er hatte nicht gelernt, sich seinen Kindern zuzuwenden, und auch seiner Frau gegenüber kannte er nur einen kommandierenden Ton. Als er den Unfall und den Tod seines Vaters erwähnte, kam er kurz ins Stocken.
Sie waren von Chennai aus nach Vellore gekommen,