Seidenkinder. Christina BrudereckЧитать онлайн книгу.
ihn am Morgen gefunden. Vor der Tür unserer Hütte, mit einer Flasche in der Hand, tot.“
Jaya spürte, dass er wohl nicht mehr Einzelheiten erfahren würde, zumindest nicht heute, und gab sich zufrieden. Stattdessen erzählte er, wie er Raja kennengelernt hatte.
„Ich habe ihn eingeladen, sich das Haus anzusehen und die anderen Jungen kennenzulernen. Er ist ohne zu zögern mitgekommen.“
Priya nickte: „Du hast das Richtige getan. Wir müssen teilen, was wir haben.“
„Ja“, sagte Jaya, „das stimmt. Und weißt du, das ist immer das Beste, was passieren kann. Es gibt mir das untrügliche Gefühl, dass hier ein Kind ist, das seine Chance erkennt und deshalb nicht wegwerfen wird. Raja wird uns nicht enttäuschen.“
Priya nickte zustimmend und sagte: „So wie du damals den weißen Missionar nicht enttäuscht hast. Erinnerst du dich noch?“
Oh ja, das tat er. Er schob die Gedanken an den kleinen Raja beiseite, hoffte, dass sein Besuch in den Gästezimmern des Kinderheims gut versorgt war, sah für einen Moment die funkelnden Augen von Dr. Kala Ranjini vor sich und tauchte dann vollkommen ein in die Erinnerung an den Tag, der zum ersten Mal alles in seinem Leben wirklich zum Guten verändern sollte. Nicht, dass er an Einzelheiten zurückdenken konnte, dafür war er wohl noch zu jung gewesen, gerade erst fünf. Die konkreten Bilder stammten aus den Erzählungen seiner Mutter, er selber verband mit dem Tag der wunderbaren Wendung, wie Priya ihn nannte, nur ein unbestimmtes, aber starkes Gefühl von Glück.
Kapitel 8
Madras/Chennai 1958
Es war Ende September. Der Sommermonsun hatte eine volle Regenzeit lang das Land mit Wasser versorgt. Alles war grün. Die warme Feuchtigkeit steckte in den Kleidern, auch die Matratze, auf der sie jede Nacht zu fünft nebeneinanderlagen, war ganz klamm. Priya stillte ihr Neugeborenes, ihr viertes Kind, Parveen, ihre erste Tochter. Gleich würden sie alle zusammen wie jeden Tag zur Arbeit gehen, versuchen, etwas Geld zu verdienen. Sie setzte Jaya, Kumar und Sajan nebeneinander auf die Matratze und las ihnen wie jeden Morgen aus ihrer alten Bibel vor, eine Geschichte und einen Psalm, ein uraltes Gebet. Jaya war jetzt fünf Jahre alt und sie dachte, es wäre gut für ihn, einige der Verse auswendig zu lernen. Sie selber hatte Tamil zu lesen und zu schreiben gelernt, besaß aber nur ein einziges Buch, eben ihre Bibel, aber sie würde versuchen, ihren Kindern wenigstens das beizubringen, was sie selber wusste; auch wenn das nicht gerade viel war.
Priya hatte noch etwas Reis gekocht und jetzt gingen sie alle fünf zusammen weg von ihrer Hütte hin zu der Stelle an der Straße, wo sie jeden Tag saßen und die Palmkörbchen verkauften. Priya sorgte immer dafür, dass sie vorher eine Kleinigkeit aßen, damit sie nicht mit leerem Magen an den Gerüchen der Straße vorbeigehen mussten. Die drei Brüder hielten sich an den Händen, gingen eng nebeneinander in einer Reihe, Priya trug die kleine Parveen in einem Tuch vor ihrem Bauch. Es war ein Tag wie jeder andere, aber es lag Hoffnung in der Luft, denn man spürte, dass die Regenzeit bald vorbei sein würde, und sah das Land aufblühen. In der Linken hielt Priya zwei große Palmblätter. Eins, um ihre Waren, die verschiedenen Körbe, darauf auszubreiten. Das andere, um sich selbst daraufzusetzen und nicht direkt auf der Straße, dem dreckigen Asphalt zu knien und, falls es doch noch dazu käme, einen Schutz vor dem nächsten Regenschauer zu haben. Mit der Rechten balancierte sie einen Karton mit den geflochtenen Palmkörbchen auf der Schulter.
Priya war tapfer und ihr Lebenswille war ungebrochen. Aber ihr Herz war schwer. Ihr Mann war von ein paar Monaten gestorben, als sie noch schwanger mit ihrem vierten Kind war. Er war in den letzten Jahren nicht viel bei ihnen gewesen, aber jetzt waren sie keine ganze Familie mehr, jemand fehlte und die Lücke tat weh. Ihre größte Sorge galt der Zukunft der Kinder. Mit ihrem Mann zusammen hatte sie manchmal noch träumen können, aber so, allein, als Witwe, hatte sie aufgehört, Pläne zu schmieden. Sie hatte kein Geld, keine Möglichkeiten, keine Alternativen. Sie musste um ihr Überleben kämpfen. Der größte Wunsch, wenigstens eines von ihnen, wenn nicht alle, zur Schule schicken zu können, war reinste Fantasie. Die Aussicht, in einem Haus zu leben statt in einer Hütte, gab es nicht. Und die Hoffnung, irgendwann einmal etwas anderes zu tun, als selbst geflochtene Palmkörbchen zu verkaufen, war ganz weit weg.
Aber an diesem Tag sollte sich das alles mit einem Mal ändern.
Sie hatten drei kleine und einen größeren Korb verkauft, als ein Mann vor ihnen stehen blieb und die Körbe aufmerksam betrachtete. Er war ein Weißer und sprach Tamil mit einem eigenartigen Akzent und fragte, ob er die Körbe einmal genauer ansehen dürfe. Priya nickte. Er ging jetzt in die Knie, um nicht so von oben herab mit ihr zu sprechen, sein Blick glitt von ihr zu dem Baby, das an ihren Bauch gedrückt schlief, und zu ihren anderen Kindern und wieder zu ihr. Die Kinder saßen ruhig da und blickten ihm offen ins Gesicht. Er lächelte freundlich und kaufte zwei Körbe, einen großen und einen kleinen. Ob sie mehr erhofft hatte? Sie wusste, dass die meisten Weißen, die in Indien lebten, Geld hatten, aber sie hatte sich abgewöhnt, Hoffnungen in einzelne Käufer zu setzen, sie wünschte sich nur, dass ein Tag insgesamt genug Umsatz mit sich brachte.
Der Weiße stand wieder auf, bedankte sich und sagte schon im Weitergehen: „Gott segne Sie.“
Jaya hörte die vertrauten Worte, die er noch am Morgen von seiner Mutter vorgesagt bekommen hatte, und sagte mit Kinderstimme, aber sicher und stolz darüber, dass er den Vers behalten hatte: „Es segne uns Gott, unser Gott.“
Der Weiße blieb stehen und drehte sich zu ihnen um. Was Jaya sagte, musste sich in seinen Ohren wie eine Antwort angehört haben, die sich an ihn richtete. Er kam zurück und kniete sich noch einmal vor Priya hin und fragte: „Haben Sie das gehört? Ihr Sohn hat soeben ein Bibelwort zitiert, den siebenundsechzigsten Psalm. Woher hat er das? Geht er sonst zur Schule?“
Hätte er diese letzte Frage nicht auch noch gestellt, wäre Priyas Antwort vielleicht nüchterner ausgefallen, aber so kamen ihre Worte mit Leidenschaft heraus: „Zur Schule? Es ist mein größter Wunsch, wenigstens eins von ihnen zur Schule schicken zu können, aber davon kann keine Rede sein. Ich habe das Geld nicht. Ich habe nichts außer diesen Palmkörbchen und den vier Kindern.“ In diesem Moment begann das Baby zu weinen und Priya war für einen Moment abgelenkt.
Sie dachte schon, der Weiße habe genug gehört und würde weitergehen, aber er blieb und wartete geduldig, bis Parveen sich wieder beruhigt hatte. Dann fragte er: „Und Sie bringen Ihren Kindern Bibelworte bei?“
Priya nickte jetzt eifrig, überzeugt von ihrem Konzept: „Es ist das einzige Buch, das ich habe, ich erzähle ihnen die Geschichten und lese ihnen die Texte vor. So werde ich meinen Kindern auch ohne Schule etwas beibringen, das Lesen, vielleicht auch etwas das Schreiben. Und ihnen etwas weitergeben, das tröstet“, setzte sie noch hinzu.
Der Weiße hörte das alles, er sah die fünf und ihm kam eine Idee. Er stellte sich vor: „Ich bin Benjamin Franz und ich arbeite bei einem deutschen Kinderhilfswerk. Wir haben mehrere Kinderheime hier in der Stadt und in ganz Indien.“
Priya legte automatisch den Arm um ihre drei Jungen und drückte mit dem anderen Parveen enger an sich.
„Nein“, sagt sie. „Es ist nett, dass Sie helfen wollen, aber Sie werden mich nicht von meinen Kindern trennen.“
Der Weiße versuchte, sie zu beruhigen, und sagte: „Nein, nein. Mir kam eine ganz andere Idee. Mein Chef, ebenfalls ein Deutscher, sucht eine Hausangestellte, ein Kindermädchen für seine Familie. Könnten Sie sich vorstellen, ihn kennenzulernen? Gleich dortzubleiben? Sie müssten dazu aber in eine ganz andere Gegend der Stadt mitkommen.“
Priya sah ihn an, merkte, dass er überzeugt war, mit ihr genau die richtige Person gefunden zu haben. Wie konnte das sein? Sie sah ihre Kinder an. Die drei waren abgelenkt, spielten zusammen Fingerknoten. Für sie müsste sie es riskieren und diese Chance wahrnehmen, oder? Sie dachte an den Psalmvers. Es segne uns Gott, unser Gott. Ja, warum nicht?