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Seidenkinder. Christina BrudereckЧитать онлайн книгу.

Seidenkinder - Christina Brudereck


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      Sie verabredeten miteinander, sich in zwei Stunden an derselben Stelle wieder zu treffen. Priya würde in ihre Unterkunft eilen und ihre Sachen zusammenpacken, er würde mit einem Auto wiederkommen und sie abholen.

      Und so kam es. Priya packte ihre zwei Decken, ihre Bibel, zwei Töpfe, eine Öllampe, eine alte Postkarte mit dem Bild von Mutter Teresa und die andere, die eine schwarze Ikone zeigte, eine Maria, die ihr neugeborenes Kind auf die Stirn küsste, zusammen in einen Karton, packte ihren zweiten Sari, die paar Windeln, Kleidungsstücke der Kinder und ein paar restliche Palmblätter und ein kleines Päckchen Reis in eine Leinentasche und entfernte das Schloss von ihrer Tür aus Wellblech. Sie verschenkte die Matratze an eine Nachbarin, die sich unermesslich freute und gar nicht aufhören wollte, ihr zu danken. Dann ging sie zurück zur Straße.

      Hattest du keine Zweifel, ob er sein Versprechen wirklich wahr machen würde? Immer wieder wurde sie das später gefragt. Aber sie hatte dem Weißen vertraut. Wohl wegen des Bibelwortes, das sie verband. Wenn er sie betrügen sollte, dann würde der Segensvers sich zu einem Fluch umdrehen. Aber ganz sicher nicht nur für sie, sondern für sie beide.

      Kapitel 9

      Jaya sah seine Mutter an. Er musste sich an jenem Tag damals so gefühlt haben wie der kleine Raja heute. Denn Benjamin Franz hielt sein Versprechen und holte sie ab. Ja, er wartete schon auf sie, als sie mit ihrem Karton und der einen Tasche um die Ecke kamen, und brachte sie nach Tenampet, einem ruhigen Stadtteil von Chennai, stellte sie seinem Chef Lüder Lürs vor und von diesem Moment an wurde das Leben leichter.

      Jaya war überglücklich, weil er nur wenige Wochen später, noch vor Weihnachten, zur Schule gehen und endlich lernen konnte. Er tat es mit großem Eifer, schnell und überaus gerne. Familie Lürs schenkte ihnen ein Zuhause und Priya tat das Ihre, um sich als Kindermädchen, Köchin und Haushälterin nicht nur nützlich zu machen, sondern das Haus, ihre eigenen und die deutschen Kinder, das Missionarsehepaar selbst und dessen Gäste mit Liebe und Mütterlichkeit zu beschenken.

      Jaya stand auf, ging in sein Zimmer und kam einen Moment später mit einem alten Brief zurück. Priya sagte: „Du hast ihn aufbewahrt, natürlich hast du das.“

      Sie erkannte sofort den Brief, den ersten, den Jaya von seinen deutschen Pateneltern bekommen hatte, weil er jetzt von dem Kinderhilfswerk, für das Benjamin Franz und Lüder Lürs arbeiteten, der Kindernothilfe, unterstützt wurde. Wie ihre drei anderen Kinder auch alle.

      Am Ende hatten sie tatsächlich alle zur Schule gehen und studieren können. Sie bekamen weitere Stipendien und Empfehlungen aufgrund ihrer guten Noten. Und Jaya bekam, schon als er dreizehn war, einen allerersten kleinen Ferienjob im Büro von Lüder Lürs. So hatte er sich nicht nur ein eigenes Taschengeld verdienen können, von dem er sich meistens Bücher kaufte und süßen Kuchen für Priya, sondern hatte auch schon sehr früh Einblick bekommen in die Leitung des großen Kinderhilfswerkes. Anfänglich hatte er einfache Jobs erledigt, den Papierkorb geleert, die Post sortiert, Unterlagen abgeheftet. Er war als Hilfskraft eingearbeitet worden, hatte aber schnell eigene Ideen mit eingebracht, die dankbar aufgenommen wurden. Immer wieder sagte Lüder Lürs: „Der Junge hat sehr originelle Vorschläge.“

      Jaya merkte selbst, dass sein neu erworbenes Wissen aus dem Studium, seine indische Art, zu denken, seine Lebenserfahrung eine Mischung ergaben, die seinen Mentor veranlasste, ihm mehr Verantwortung zu übertragen. Er hatte gelernt, Briefe zu schreiben und Menschen außerhalb von Indien die besonderen Nöte und Herausforderungen seines Landes zu vermitteln. Er hatte eine Leidenschaft entwickelt dafür, dass Kinder eine Chance bekommen und die Ärmsten echte Hilfe. Er hatte über die Jahre die Organisation einer Vision kennengelernt.

      Er hatte Bücher gelesen über die Geschichte Indiens, über die Kolonialzeit, über Gandhi und den Weg zur Unabhängigkeit. Zu seinen besten Lehrern gehörten Hindus, Muslime, Buddhisten, Sikhs und Christen.

      Er hatte immer wieder das Gespräch mit seiner Mutter gesucht, die ihm über die Jahre zunehmend wie eine wirklich weise Frau erschien, wenn sie auch nie eine Ausbildung im eigentlichen Sinne gemacht hatte. Das Leben hatte sie klug gemacht, ihre heiligen Texte ließen sie träumen, formten in ihr sehr konkrete Vorstellungen davon, was wichtig war. Seine Liebe an Kinder zu verschenken, war für sie das Größte. Und der Wunsch, dass diese Kinder stark wurden und sanft, teilen konnten und spielen, kühne Ideen entwickeln, selbstbewusst und sich im Klaren darüber, dass sie nicht allein auf dieser Welt waren. Dass andere Menschen sie brauchten und dass es einen Gott gab, der an sie glaubte. Jaya wusste, dass seine Mutter sich mit einer amerikanischen Freundin über diese Themen austauschte. Er übersetzte ihr die Briefe, die sie regelmäßig schrieb. Die beiden mochten dieselbe Idee, die sie „die Seidenkinder“ nannten. Diese Werte seiner Mutter hatten ihn begleitet und er hatte sich gerne von ihnen umwerben und beschenken lassen.

      Und er hatte sich in diesen Jahren mit Lüder Lürs unterhalten, nächtelang, ihm seine vielen unruhigen Fragen gestellt. Er wusste es wirklich zu schätzen, dass sich der Missionar so viel Zeit für ihn genommen hatte und auch den kritischen Fragen nie ausgewichen war. Er war ein Mentor, der sein, Jayas, Potenzial gesehen und ihn gefordert und gefördert hatte, ihm Vertrauen geschenkt und Verantwortung übertragen hatte. Er hatte viel von ihm gelernt und er wollte das Prinzip, das er hier erlebt, von dem er so profitiert hatte, jetzt auch selber umsetzen. Ja, er merkte, wie glücklich er war, wenn es ihm gelang, andere zu unterstützen, und wie sehr er sich freute, wenn zum Beispiel ein Junge das Vertrauen, das man in ihn setzte, zu schätzen wusste und dann Fortschritte machte, lernte, erwachsen wurde und dabei manchmal sogar über sich hinauswuchs.

      Er hatte damals erst überlegt, Arzt zu werden, diese Art zu helfen schien so direkt anzukommen, das erschien ihm sehr attraktiv. Aber dann hatte er sich doch dafür entschieden, Lehrer zu werden, und er hatte es nie bereut - obwohl er heute nicht an einer Schule Unterricht erteilte, sondern sein Weg sich dann anders entwickelt hatte. Es war die Faszination am Lernen und der Wunsch, Kindern, wie er eins gewesen war, etwas beizubringen, sie zu entdecken und zu fördern. Er hatte eine leitende Position in dem großen Kinderhilfswerk ausgefüllt, Seite an Seite mit Lüder Lürs, und war glücklich gewesen. Bis es dann eine weitere Wende in seinem Leben gab, die ihn auf den Weg führte, auf dem er heute ging.

      Am Anfang hatte er noch, gespeist von den Bildern einer anderen Generation von Leitern, die Haltung gehabt, dass es in dieser Welt eben arme und reiche Nationen gab und dass es zu seinen Aufgaben gehörte, die Reichen zu bitten, den Armen etwas abzugeben.Naiv hätte er als Zwanzigjähriger sicherlich gesagt, dass Sonne und Regen und damit Armut und Reichtum eben leider einfach ungleich verteilt waren, man mit einigen Tricks und ein paar zumutbaren kleinen Projekten aber wenigstens ein bisschen Ausgleich schaffen könnte. Mit der Zeit war er misstrauisch geworden und hatte gemerkt, dass es so einfach nicht war.

      Den entscheidenden Impuls, umzudenken, es noch einmal neu zu betrachten, hatten ihm die Leute auf der Straße gegeben. Er war durch die überfüllten Straßen Chennais gegangen, hatte die Gerüche und den Lärm wahrgenommen, die vielen Gesichter, die unendlich vielen bettelnden, hungrigen Hände, die sich ihm an diesem Tag entgegenstreckten. Er hatte dabei, mehr unterbewusst als schon wirklich reflektiert, wahrgenommen, dass die Kinder noch Energie ausstrahlten, die Älteren aber aufgegeben hatten. Da hatte er verstanden, dass sie niemals kämpfen würden, weil sie ihr Schicksal akzeptierten, und diese Erkenntnis hatte eine unglaublich große Wut in ihm ausgelöst. Er hätte sie am liebsten alle geschüttelt und angeschrien: Steht auf! Findet euch nicht ab mit dem, wie es ist! Tut was!

      Aber diese Welt gab einem so schnell das Gefühl, dass man sowieso nichts ändern könne, und so gewöhnte man sich schnell an die Ungerechtigkeit, das Elend und die Gewalt; das war wohl überall so. In Indien aber konnte diese Haltung noch von der Religion unterstützt werden: Das Leben war ein festgeschriebenes Schicksal. Zu erdulden war im Hinduismus eine Tugend, die im nächsten Leben belohnt wurde. Gegen sein Karma anzukämpfen aber würde bestraft werden. Und so fand er sich umgeben von Menschen, die sich in den Lauf ihrer Geschichte fügten, deren Ende jetzt schon feststand.


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