Seidenkinder. Christina BrudereckЧитать онлайн книгу.
hier, er würde sie gerne kurz sehen. Und ein junger Mann, der Bruder eines der älteren Jungen aus dem Kinderheim, lag hier als Patient; auch ihn würde er besuchen.
Sie verließen alle zusammen die Kapelle, zogen ihre Sandalen wieder an und Jaya ging voran zu den Büros der Klinikleitung. Man grüßte einander und eine junge Frau nahm sich auf charmante und zielstrebige Art der Besuchergruppe an.
Jaya sah ihnen einen kleinen Augenblick lang nach und sprach ein kurzes Gebet für seine Gäste. Schon im Weitergehen fügte er dann noch ein kleines Dankgebet für Ida Scudder an und bat seinen Gott um Segen für die Menschen hier in dieser Klinik, Kranke und Gesunde, Patienten und Personal.
Er ging den Gang hinunter, der ihn zum Krankenzimmertrakt bringen würde. Plötzlich kam ihm ein kleiner Junge entgegengerannt. Er wich ihm aus und sah ihm hinterher. Nur einen kurzen Moment später kam eine Frau um die Ecke gelaufen, sie gehörte wohl zum Personal, denn sie trug einen weißen Sari, der sie irgendwie beeindruckend aussehen ließ, sie jetzt aber daran hinderte, schnell laufen zu können.
Als sie Jaya sah, blieb sie stehen, ihr Atem ging schnell. „Langsam“, sagte er freundlich. Allmählich beruhigte sie sich. Sie sah den Gang hinunter und dann zu ihm.
„Dieser kleine Dieb“, seufzte sie tief und schüttelte den Kopf. „Steht neben der Kapelle, sammelt Wachs und verkauft dann die Teelichte.“
Jaya lächelte.
„Was gibt es denn da zu lachen?“, fragte sie, halb entsetzt, halb belustigt - Jaya konnte nicht so recht einschätzen, was sie wirklich dachte und empfand. Er sagte:
„Ich habe ihn am Morgen kurz beobachtet, er ist sehr geschickt.“
Erstaunt fragte sie nach: „Wo? Hier? Sie waren hier in unserer Kapelle?“
Jaya nickte. Und als fühlte er sich von ihren Besitzansprüchen ausgegrenzt oder angegriffen, fügte er hinzu: „Eine Kapelle ist ein öffentlicher Ort des Gebetes und der Andacht. Eine Kirche spricht von Gnade, also von allergrößter göttlicher Zugänglichkeit, da sollte sie doch allen Menschen gehören, jedem offenstehen, meinen Sie nicht?“
Jetzt musste sie lachen. „Sie haben recht. So war es nicht gemeint. Ich habe mich nur gewundert.“
Jaya erklärte: „Ich habe einige Gäste, Amerikaner, zu einer Klinikführung hierhin gebracht.“ Sie verdrehte die Augen. Er ahnte, warum. „Nun“, fuhr er scheinbar streng fort, „auch Ida Scudder war Amerikanerin, nicht wahr? Und noch heute lebt das CMC doch von der Unterstützung aus der ganzen Welt, insbesondere von Spenden aus Amerika und Europa. Man könnte hier sonst wohl nie dem Ideal nachkommen, die ärmsten Patienten unentgeltlich zu behandeln. Aber mit ihrer Unterstützung ist es möglich.“
Sie schaute jetzt interessiert: „Haben Sie noch nie den Wunsch gespürt, unabhängig zu sein? Wäre es nicht wunderbar, das CMC könnte mittlerweile ganz auf eigenen Füßen stehen? Auf indischen Füßen?“ Er nickte. „Weil ausländische Füße manchmal stolzieren, trampeln, treten?“
„Ja, so in etwa“, sagte sie zustimmend, nachdenklich.
Jaya überlegte kurz, ob er sagen sollte, was er wirklich dachte, und weil er das Gespräch zu genießen begann, beschloss er, ehrlich zu sein. Diese Frau - Schwester oder Ärztin? - er sah flüchtig auf ihr Namensschild und las ihren Namen, „Dr. Kala Ranjini“ -, diese Frau machte den Eindruck, als wisse sie Aufrichtigkeit mehr zu schätzen als oberflächliche Zustimmung, und so sagte er: „Ich wünschte, und so habe ich es heute Morgen meinen Gästen gesagt, Familie Mensch fühlte sich insgesamt verantwortlich für ihre Kinder. Unabhängigkeit ist meiner Ansicht nach ein sehr merkwürdiges Konzept. Ich glaube, die Wahrheit liegt genau in der umgekehrten Richtung und es wäre wichtig, die Zusammenhänge zu sehen, das Ganze nicht immer weiter aufzuteilen, sich nicht immer mehr voneinander abzugrenzen und nur an sich zu denken.“
Er stockte, fragte sich, ob er vermitteln könnte, was ihm wichtig war. Sie sagte etwas spöttisch: „Sie sind also ein Globalisierungsbefürworter.“
Er war kurz irritiert, wollte schnell widersprechen, etwas entgegnen, aber da sah er sie lächeln, mit einem ironischen, frechen Schmunzeln, was ihn vollkommen aus dem Konzept brachte.
Mit einer wegwerfenden Handbewegung sagte er: „Ist ja auch egal.“ Er sah ihren Sari, nahm wahr, dass er nicht weiß war, wie er zuerst gedacht hatte, sondern von einem sehr hellen Grün, sah die passenden grünen Perlen in ihren langen schwarzen Haaren, die zu einem Zopf zusammengebunden waren, sah ihre klugen Augen, die ihn anfunkelten, und erinnerte sich nicht mehr daran, was er eigentlich hatte sagen wollen. Sie hatte es doch tatsächlich geschafft, ihn zu verwirren. Mit freundlicher Stimme sagte sie: „Es ist nicht egal, es ist wichtig, über diese Themen zu sprechen.“
Bevor sie aber weitersprechen oder beide auf die Idee kommen konnten, in der Cafeteria einen Tee miteinander zu trinken, stand plötzlich der kleine Kerzenwachsdieb an einen Türpfosten gelehnt ihnen gegenüber, ganz in ihrer Nähe.
Jaya hatte Sorge, er würde direkt wieder weglaufen, deshalb ging er nicht auf ihn zu, sondern fragte ihn von dort aus, wo er stand, nach seinem Namen. „Raja“, sagte der Junge. Einem inneren Impuls folgend, fragte er weiter: „Du bist allein?“ Der Junge nickte. Um sicherzugehen, dass er die Frage auch richtig verstanden hatte, fragte er noch einmal anders nach: „Wo ist deine Mutter?“ Der Kleine sagte leise: „Sie ist tot.“ Und setzte noch hinzu: „Die anderen auch.“ Jaya spürte, dass er die Wahrheit sagte. Wer sich hinter „die anderen“ verbarg, würde er vielleicht später herausfinden. „Und wo lebst du?“ Es war eine riskante Frage, denn der Kleine brauchte sein Versteck noch und würde es ihm sicher nicht verraten. Jaya wartete gespannt und nickte anerkennend, als Raja eine Antwort gab, die wohl gleichzeitig der Wahrheit entsprach als auch klug war: „Hier“, sagte er, „auf dem Gelände.“ Jaya nickte. Das Gelände war sehr weitläufig, die Gebäude verwinkelt und der Junge war klein, er rollte sich vermutlich nachts in einer Ecke zusammen und schlief unentdeckt hinter irgendeiner der vielen Türen. Er sah aus wie fünf oder sechs, aber Jaya wollte es genau wissen und fragte: „Wie alt bist du?“
„Ich bin neun Jahre alt“, sagte der Junge. Und etwas selbstbewusster fügte er hinzu: „Ich habe am 30.Januar Geburtstag.“
Jaya betrachtete ihn aufmerksam. Er hatte also einen Jungen vor sich, der nicht genug zu essen gehabt hatte und mit seiner körperlichen Entwicklung hinter seinem Alter zurückgeblieben war, der aber wohl wusste, dass er an einem historischen Tag geboren worden war, am Todestag Gandhis.
„Was ist mit der Schule?“, fragte er offen.
Raja sah auf den Boden und sagte traurig: „Ein Jahr. Ich bin nur ein Jahr lang hingegangen. Als meine Mutter noch da war. Danach ging es nicht mehr.“
Jaya verstand. „Bist du gerne hingegangen?“
Der Junge sah ihn an und strahlte: „Ja, sehr, sehr gerne.“
Er konnte später nicht sagen, in welchem Moment genau er gewusst hatte, dass er dem Jungen einen Platz in seinem Kinderheim anbieten würde, aber als er es tat, war er sich sicher, dass Raja das Angebot annehmen würde. Und so war es auch. Er stellte sich ihm kurz vor, erzählte ihm von dem Kinderheim und lud ihn ein, sich das Haus selber anzusehen und dort zu entscheiden, ob es ein Platz sein könnte, an dem er leben wollte. Es war jetzt Mittag und die jüngeren Kinder würden gleich aus der Schule nach Hause kommen. Er könnte sie kennenlernen, mit ihnen spielen und am Abend entscheiden, ob er länger bleiben wollte.
Doktor Ranjini dachte, dass dieser Mann absolut vertrauenswürdig wirkte und dass auch der Junge das zu merken schien. Er lehnte jetzt nicht mehr an dem Türrahmen, sondern war näher gekommen und hörte dem Leiter des Kinderheims zu. Wie oft dieser wohl schon enttäuscht worden war, weil ein Kind seine Chance nicht erkannte? Wie oft so eine Begegnung vielleicht zwar zunächst vielversprechend weiterging, dann aber doch im Leeren verlief, weil ein Kind, das einmal auf der Straße und auf sich gestellt gelebt hatte, sich schwer in so ein System wie ein Kinderheim eingliedern ließ? Wie oft dieser Mann wohl schon diese Art von Gespräch mit einem Kind geführt hatte?
Jaya