Seidenkinder. Christina BrudereckЧитать онлайн книгу.
ich den Kleinen heute Morgen wahrgenommen, als er bei den Kerzen vor der Kapelle stand? Und warum habe ich andere Kinder dagegen wohl übersehen? Ist es Gott, der mich leitet? Wird dieser Junge seine Chance erkennen? Wird er irgendwann sagen können, dass es Glück war, ihn heute getroffen zu haben? Wird er zu den anderen Kindern passen, wird er gerne zur Schule gehen, gut lernen, fleißig sein?
Er fragte: „Kommst du mit, um dir das Ganze anzusehen?“
Raja willigte, ohne zu zögern, ein.
Jaya merkte, dass die Zeit weggelaufen war und er es nicht mehr schaffen würde, seine geplanten Besuche zu machen. Er erklärte Raja, dass sie in wenigen Minuten einige ausländische Besucher vor dem Haupteingang treffen würden, um dann gemeinsam mit dem Auto zum Heim in der Karishma-Straße zu fahren. Raja nickte und Jaya wandte sich Doktor Ranjini zu.
Sie war jetzt nachdenklich und erklärte ihm, bevor er noch etwas sagen konnte: „Ich arbeite hier als Kinderärztin in der Kinderklinik.“ Gerade hatte sie noch den Eindruck gehabt, als habe er es eilig, aber als er jetzt nicht signalisierte, dass er sich schnell verabschieden wollte, sprach sie weiter: „Wussten Sie, dass Doktor Scudder ihrer Zeit weit voraus war, auch was die Behandlung von Kindern angeht? Als sie ihre Arbeit hier begann, starb noch jedes vierte Baby bei der Geburt. Eine ihrer ersten Taten war, ein kleines Haus zu bauen für die Neugeborenen der Ärmsten, wo sie in wohnlicher Atmosphäre besondere Pflege bekamen. Eine Kinderklinik entstand und ein besonderer Trakt für Kinder mit ansteckenden Krankheiten und für Frühgeborene kam hinzu, außerdem das Therapiezentrum für behinderte Kinder.“ Sie hielt inne. „Ich wollte damit eigentlich nur sagen, dass Sie sich jederzeit an mich wenden können, wenn Sie im Kinderheim medizinische Hilfe brauchen, ich eins Ihrer Kinder untersuchen soll oder Sie irgendwie spezielle Unterstützung brauchen. Ich könnte dann natürlich auch zu Ihnen kommen, in die Karishma-Straße, um Ihnen und den Kindern den Weg zu ersparen.“
Sie hoffte inständig, dass dieses Angebot nicht zu gewagt war und er ihr nicht anmerkte, wie neugierig er sie gemacht hatte und wie gerne sie das Kinderheim sehen und ihn wiedertreffen würde. Sie wusste, sie hatte ihm Unrecht getan, als sie ihn als Globalisierungsbefürworter bezeichnet hatte. Warum hatte sie ihn so provozieren müssen? Sie wollte sich entschuldigen, das Gespräch fortsetzen, es wiedergutmachen. Sie wollte ihn kennenlernen.
Jaya bedankte sich bei ihr für das großzügige Angebot. Er überlegte, mit welchem Argument er sie überzeugen könnte, doch möglichst bald einmal vorbeizukommen, am liebsten gleich heute, als ihm eine Idee kam und er sagte: „Sie haben den Jungen ja gesehen, Raja. Er wirkt wie ein Fünfjähriger, höchstens wie sechs, ist aber schon neun Jahre alt. Wahrscheinlich ist er aus Mangelernährung nicht gewachsen. Ich wäre ihnen sehr dankbar, wenn Sie ihn sich einmal ansehen könnten.“
„Und wäre es nicht gut, ich würde ihn mir gleich heute ansehen“, fragte sie, „bevor Sie ihn aufnehmen? Nur, um zu wissen, wie es wirklich um ihn steht.“
„Wenn das möglich wäre, so spontan, wäre das wunderbar.“
Sie nickte. „Also abgemacht. Dann komme ich gegen Abend vorbei“, sagte sie. „Auf Wiedersehen.“ Sie gaben sich die Hand und sie wandte sich zum Gehen.
„Karishma-Straße Nummer sieben“, rief er hinter ihr her. „Das hellblaue Haus mit dem blühenden Oleander vor dem Tor.“
Sie drehte sich zu ihm um und sagte: „Ich werde Sie finden.“ Und damit war sie um die Ecke verschwunden.
„Ich werde Sie finden“, wiederholte Jaya für sich. Was bedeutete dieser letzte Satz jetzt genau? Und was bedeutete er in Verbindung mit diesem schelmischen Funkeln? Jaya musste lachen und schüttelte den Kopf. Mit neuen leichten Schritten ging er in Richtung Eingangshalle.
Seine Gäste waren so sehr ins Gespräch vertieft, dass sie ihn zunächst gar nicht bemerkten. Das war sicher ein gutes Zeichen; der Besuch im Krankenhaus hatte ihnen Stoff zum Nachdenken gegeben. Er stellte sich zu ihnen und hörte mit halber Aufmerksamkeit zu, wie sie über Krankenversicherungen und das Gesundheitssystem Amerikas diskutierten. Die andere Hälfte war bei Raja, der mit etwas Abstand bei ihm stand und geduldig wartete, wie es weitergehen würde. Jaya merkte, dass er ihn jetzt schon in sein Herz geschlossen hatte. Er erinnerte ihn an sich selbst und er fragte sich, ob es am Ende immer wieder seine eigene Lebensgeschichte war, die ihn mit jedem neuen Jungen einholte.
Kapitel 5
Matt saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und starrte jetzt schon seit einer halben Stunde vor sich auf die Wand. Er wusste, dass er bald nach Indien reisen würde, im Mai, wenn Tom mit der Schule fertig sein würde. Ja, er war sich sicher, dass er Tom mitnehmen würde und diese Zeit für ihre Vater-Sohn-Beziehung von großer Bedeutung sein würde. Er war sich inzwischen auch darüber im Klaren, dass seine Mutter in Verbindung mit dieser Reise irgendeine Bitte an ihn hatte und es ihr aus irgendeinem Grund sehr viel bedeutete, dass er dorthin reisen würde. Sie würde es ihm sicher bald erklären, noch aber, das spürte er, war sie nicht so weit. Sie blieb in diesen Tagen oft allein in ihrem Zimmer, saß in ihrem Sessel am Fenster und schrieb, wirkte nachdenklich, in sich gekehrt und doch alles andere als schwermütig, eher euphorisch. Blieb nur noch Amy. Er verstand nicht, warum seine Frau sich seiner Idee, zu reisen, so total versperrte, und es machte ihn traurig und hilflos, dass es scheinbar keinen Schlüssel gab, damit sie sich seinen Plänen mehr öffnen könnte. Er rieb sich mit beiden Händen über sein Gesicht, verdrängte das Gefühl der aufkommenden Kopfschmerzen und machte seinen Laptop an.
In den nächsten zwei Stunden surfte er durch das weltweite Netz. Dank verschiedener Suchmaschinen fand er auf Anhieb einige Seiten mit genau den Informationen, die er suchte. Er las gebannt. Die Berichte über die Staudammprojekte fielen sehr unterschiedlich aus, je nachdem, ob sie von Regierungskreisen, Baufirmen, Ingenieuren oder Umweltorganisationen geschrieben waren. Er las alles, bis er nach einer Weile zunehmend den Eindruck bekam, jetzt zwar eine Menge Wissen angesammelt zu haben, aber noch lange keine Weisheit, wie mit diesen Informationen umzugehen sei. Als er gerade aufgeben wollte, stieß er auf einige Berichte über Arundhati Roy, eine indische Schriftstellerin und Aktivistin, die mit ihrem Buch „Der Gott der kleinen Dinge“ einen Bestseller geschrieben hatte, der inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt worden war und internationale Beachtung erhalten hatte. Eine Frau, die für die Rechte der Armen kämpfte, sich dabei schon mit den Allergrößten angelegt hatte, die immer wieder mal im Gefängnis landete und unter Druck geriet, weil sie zum Beispiel die Methoden der Staudammfirmen entlarvte und nicht müde wurde, darauf hinzuweisen, dass weder die weggeschwemmten Dörfer im Norden noch die Trockenheit im Süden des Landes Schicksal, Karma, waren, sondern hausgemacht.
Das war, was er suchte. Ohne lange nachzudenken, bestellte er einige Bücher von ihr und fand, bevor er sich dann ausloggte, ein Zitat, das ihn sehr berührte und das gleich auf mehreren Ebenen in seine Situation hineinzusprechen schien. Er kopierte die klaren, herausfordernden Worte der jungen Aktivistin, druckte das Zitat auf einem weißen DIN-A4-Blatt aus, hängte es gut sichtbar über seinem Schreibtisch auf und las es wieder und wieder durch, bis er sich sicher war, dass er es auswendig konnte:
„Liebe. Und lass dich lieben. Vergiss niemals deine eigene Bedeutung. Gewöhn dich nie an die unsagbare Gewalt, die Gemeinheit und Verzweiflung um dich herum. Such Freude und Schönheit noch in den dunkelsten Orten. Vereinfache nicht, was komplex ist, und verkompliziere nicht, was einfach ist. Respektiere Stärke, aber nicht bloße Macht. Beobachte. Und versuch zu verstehen. Sieh nicht weg.“
Er surfte weiter. Bald merkte er, dass die Staudämme zwar ein großes Thema waren, dass es aber eine ganze Reihe anderer dringender Herausforderungen gab, denen sich Indien gegenübersah oder denen es ausgeliefert war - so wirkte es manchmal. Die schlimmste Bedrohung ging vielleicht von der schnellen Verbreitung von Aids aus.
HIV ist in Indien außer Kontrolle. Nach Angaben von Experten hat Indien Südafrika als das Land mit den meisten Aidskranken oder HIV-positiven Patienten überholt. Die Epidemie