Briefe aus der Ferne. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
leben in einer Zeit, die neue Formen gefunden hat, die männlichen Werte zu heiligen. Zeiten, in denen das Ungleichgewicht, verursacht vom Gewicht der Macht, des Geldes und des Testosterons bestehen bleibt, und in der die Frauen, besser ausgebildet denn je, sich nachweislich großen Schwierigkeiten gegenübersehen, ihren Platz zu finden.
Cynthia Cockburn
London, Großbritannien
Dr. Cynthia Cockburn, Professorin der Soziologie an der City University London.
Veröffentlichungen: Die Herrschaftsmaschine, Hamburg 1988; The Space Between Us: Negotiating Gender and National Identities in Conflict, London 1998; From Where We Stand: War, Women’s Activism and Feminist Analysis. London/New York 2007.
Die feministische Agenda in die Linke tragen – geht das?
Für mich wie für viele Frauen, die in den 1960er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts politisch wurden, war der erste Schritt in Richtung Feminismus eine Marx-Lektüregruppe. Wir entdeckten das Kapital, Band 1, und die Deutsche Ideologie (oder entdeckten sie wieder, falls wir sie schon kannten). Wir lasen mit Bewunderung, kritisierten aber auch mit einem neu erwachten Frauenbewusstsein. Da war Arbeit – aber wo war unbezahlte Arbeit, Ausbeutung von Frauen? Da waren Klassenunterschiede – aber wo war Geschlechterdiskriminierung? Da war die Reproduktion kapitalistischer Klassenverhältnisse – aber wo war die biologische Reproduktion? Diese (Neu-) Lektüre war für viele von uns ein Sprungbrett für die Forschung über Arbeit und Arbeitsprozesse. Sie half auch denen von uns, die wie ich an Geschlecht, Qualifikation und technologischer Entwicklung (Produktivkräften) interessiert waren.
Ein Verständnis von Herrschaft zu entwickeln bedeutete für uns als Feministinnen jedoch mehr, als marxistische Theorie zu erweitern. Wir verlangten die Klärung des Verhältnisses zwischen kapitalistischer Klassenherrschaft und Patriarchat bzw. männlicher Herrschaft über Frauen. Wir Feministinnen trugen interne Kämpfe aus. Sollten wir Kapitalismus als kapitalistisches Patriarchat (patriarchalen Kapitalismus) betrachten, also als ein einziges System mit zwei verschiedenen Auswirkungen? Oder als zwei Systeme in unheilvoller Interaktion (dies nannten wir »dual economy«)?
Diese Fragen blieben unbeantwortet, denn in den späten 1980ern hatte uns der Thatcherismus (Neoliberalismus) im Griff und delegitimierte das Ziel des Sozialismus, die Möglichkeiten der Gemeinschaft und die Vermittlung im Staat. Das war ein schwerer ideologischer Schlag gegen uns. Trotzdem gab es für mich und vielleicht auch für andere in den späten 1980ern gute und vernünftige Gründe, darüber nachzudenken, was Sozialismus für uns bedeutete.
Ich erinnere: 1987 lernte ich auf einer Konferenz in Moskau meine erste wirklich feministische sowjetische Freundin kennen. Wir gingen Arm in Arm, glücklich, einander gefunden zu haben. Gleichzeitig weinten wir über den Schmerz, den wir einander antun mussten. Sie genoss ihren neu entdeckten »Individualismus«, etwas, das vom Sowjetregime erstickt worden war. Ihre Augen glänzten, als sie dieses Wort sagte, während meine sich zu argwöhnischen Schlitzen verengten. Ich nannte mich Sozialistin. Sie verzog das Gesicht. Ich verstand immer besser (was ich natürlich schon vorher gewusst hatte), dass mein Sozialismus in der Zeit von »Glasnost« mehr denn je versprechen, ja garantieren musste, nie, niemals etwas wie Stalinismus zuzulassen.
Zwischen 1989 und 1991 versagte die sowjetische Systemreform und die UdSSR brach unter dem Druck des kapitalistischen Westens zusammen. Ihr Untergang entriss unserem Vokabular die Wörter Sozialismus und Kommunismus und veränderte die Diskussionskultur. Es ist nicht verwunderlich, dass sich zu dieser Zeit in der akademischen, sozialen, kulturellen und politischen Analyse die bekannte poststrukturalistische/postmoderne Wende vollzog. Ich sah die Eleganz und Scharfsinnigkeit dieser neuen Art, Dinge zu beschreiben, und schätzte einige Einsichten, die sie mit sich brachte. Es schien mir sogar, als hätte der Feminismus selbst zur Neuordnung linken Denkens beigetragen. Aber die wesentliche Empfindung war, zum Schweigen gebracht worden zu sein. Nicht nur war Marxismus als große Erzählung abgeschrieben und Materialismus zu einer nebensächlichen Idee geschmolzen. Auch das Patriarchat war zusammen mit dem Kapitalismus und anderen derartigen »Strukturen« abserviert. Der Feminismus veränderte sich radikal. Mancherorts wurde er schnell zum Postfeminismus.
In den letzten Jahren beobachte ich bei einigen Feministinnen das Bedürfnis, den Kampf um ein Verständnis kapitalistischer und patriarchalischer Herrschaft wieder aufzunehmen, und neuerwachten Respekt für den historischen Materialismus als Methode. Vielleicht ist es eine perverse Art von Appetit, auf alten Knochen herumzukauen, aber was auch immer diese Lust ist, ich teile sie und ich freue mich, wenn ich andere Frauen treffe, denen es genauso geht. Dieser Aufruf, sich zu einem linken feministischen Projekt zu äußern, ist so ein Fall.
Dennoch … Ich sehe mich schon wieder in Opposition zu manchen der neu-alten sozialistisch-feministischen Vorstellungen. In einem Artikel, etwa Mitte der 1980er geschrieben und 1988 publiziert, beklagte ich, dass diejenigen von uns, die sich sozialistische Feministinnen nannten und in der Linken aktiv blieben, unseren Feminismus dafür auf stumm schalteten. Wir forderten zwar von der Linken, Frauenarbeit – bezahlte und unbezahlte – und die geschlechtsspezifischen Weisen der Ausbeutung durch den Kapitalismus zu berücksichtigen. Aber wir versäumten es, unsere Politik des Körpers in die Partei einzubringen – Themen, die Sexualität und physische Gewalt mit einschlossen. Ich schrieb:
Zu den (sehr materiellen) Benachteiligungen und Ängsten normaler Frauen, zu »den objektiven Bedingungen« gehört heute, so würde ich behaupten, eine umfassende und sehr gerechtfertigte Angst vor Männern und Männlichkeit. Männern ausgeliefert, fürchten Frauen um ihre eigene Sicherheit. Sie fürchten das, was Männer ihren Söhnen antun: Teil ihrer Erfahrung ist die Lust mancher Kerle, eine Waffe zu besitzen, ein schnelles Motorrad zu fahren oder in die Armee einzutreten. Und sie fürchten, was Männer ihren Töchtern antun könnten: Tägliche Nachrichten von vergewaltigten und ermordeten Mädchen (und Jungen) treibt die Angst der Frauen um ihre Kinder in die Höhe, sobald diese außer Sichtweite sind. Frauen untereinander sprechen über Männer in der gleichen sorgenvollen Weise, wie sie über Arbeitslosigkeit, Armut und Krankheit sprechen. In ihren Träumen stellen sich diese Frauen ganz sicher eine Welt vor, in der Geschlechterverhältnisse ebenso wie die Kontrolle über Produktion und Distribution anders organisiert sind. Es wird Zeit, dass »materiell« und »materialistisch« erweitert werden um diese objektiven Lebensbedingungen der Frauen aus der Arbeiterklasse und darüber hinaus. (Cockburn 1988: 307)
Auch wenn mein Artikel etwas unvorsichtig war und bei manchen geschätzten Freundinnen Schmerz und Ärger auslöste, habe ich meine grundlegenden Überzeugungen in den seither vergangenen zwei Jahrzehnten nicht verloren. Genau genommen wurden sie gestärkt, als sich mein Forschungsschwerpunkt von »Geschlecht in Arbeitsprozessen« zu »Geschlecht in Militarismus und Krieg« verschob. Die beengenden und ausgrenzenden Effekte der sozialen Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit als gegensätzliche Formen sowie die Kontrolle und Beschränkung weiblicher Autonomie durch Männer (nicht einfach Kapitalismus) ist noch immer Realität.
Nehmen wir nur ein paar der Fakten, die im Internet diskutiert wurden. Human Rights Watch in Balutschistan bestätigt, dass kürzlich sechs weibliche Teenager hingerichtet wurden. Sie wurden von Männern ihrer Familie und Gemeinschaft durch Schüsse verwundet und dann lebendig begraben, weil sie sich geweigert hatten, von ihren Eltern gewählte Männer zu heiraten. In der krisengeschüttelten Republik Kongo appellierten 71 Frauen-NGOs an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Frauen vor Vergewaltigungen zu schützen. Sie zitierten 880 UN-dokumentierte Fälle in einem normalen Monat und schätzten, dass diese ein Zehntel der tatsächlichen Zahl ausmachten. Die Folgen von Vergewaltigungen werden hier wie in vielen anderen Ländern durch das nachfolgende Verstoßen der Opfer durch Ehemänner, Familien und Gemeinschaften noch verschlimmert. Wenn es so scheint, als stammten diese Fälle aus ausgeprägten Patriarchaten, wie sie in westlichen »Demokratien« lange überwunden sind, sollten wir erinnern, dass in England und Wales in den letzten Jahren durchschnittlich zwei Frauen pro Woche durch die Hand ihrer Ehemänner und Partner starben. In den USA wurde eine Frau des Mordes an ihrem Baby schuldig gesprochen. Sie steckte es in die Mikrowelle. Warum? Einer Zellengenossin