Briefe aus der Ferne. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
Krise kürzer arbeiten, weniger und sinnvoller produzieren und konsumieren, dafür mehr gestalten, mehr selbst tun, mehr Muße, mehr Leben ohne Entfremdung. Auf dem Wege dahin können Kinder sich ihren Platz in der Gesellschaft zurückerobern, wenn sie nicht in Institutionen weggesperrt werden.
Feministinnen könnten eine Lernkultur propagieren, wie sie im 19. Jahrhundert in den Arbeiterbildungsvereinen oder heute in demokratischen Schulen oder wo immer Menschen sich gleichberechtigt zusammentun, um zu lernen, gepflegt wurde und wird. Wir wollen die Gesellschaft wieder für die Lernenden – seien sie Kinder oder Erwachsene – öffnen.
In ein nicht-entfremdetes, egalitäres Leben passen selbstverwaltete, kleine Schulen in Nachbarschaften, die vom persönlichen Engagement aller Beteiligten getragen sind. In den Niederlanden sind 70 % der Schulen klein und privat, dabei voll vom Staat finanziert.
Im gelobten Finnland haben von den rund 3180 Gesamtschulen tausend weniger als 50 und ebenfalls tausend zwischen 100 und 300 Schüler/innen. Linke müssen lernen, zwischen Eliteschulen, die ohnehin nicht zu verhindern sind, und selbstorganisierten Nachbarschafts- oder Bürgerschulen zu unterscheiden. Die berechtigte Furcht vor Privatisierung à la Bertelsmann darf uns nicht in die Arme des Staates treiben, in dessen Bildungssystem Bertelsmann längst massiv mitmischt.
»An die Stelle der alten Bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, schreibt Karl Marx. Daraus möchte ich machen: die freie Entwicklung einer und eines jeden »von Anfang an«.
Literatur
Bronfenbrenner, Uri (1982): Wie wirksam ist kompensatorische Erziehung, Frankfurt/M.
Freire, Paolo (1981): Der Lehrer ist Politiker und Künstler, Reinbek.
Illich, Ivan (1977): Schulen helfen nicht, 4. Aufl. Reinbek.
Reimer, Everett (1972): Schafft die Schule ab, Reinbek.
Sack, Eduard (1878): Unsere Schulen im Dienste gegen die Freiheit, 2. Aufl., Braunschweig.
Wilkinson, Richard, u. Kate Pickett (2009): Gleichheit ist Glück, Zweitausendeins.
Christel Buchinger
Gries (Pfalz), Deutschland
Christel Buchinger, Diplom-Biologin, aktiv in der feministischen Bundesfrauenarbeitsgemeinschaft LISA der Partei DIE LINKE, in den Bereichen Feminismus und Mentoring tätig.
Veröffentlichung: Humankapital, ein Plädoyer für die ernsthafte Beschäftigung mit einem Phänomen, www.westpfalz-journal.de/Seiten/100politikallgemeinseiten/Buchinger/humankapital.htm.
Fragen an ein linkes feministisches Projekt
Feministinnen oder auch einfach Frauen, die heute in der alten BRD auf Gruppen-, Kreis- oder Landesebene der Partei DIE LINKE Politik machen wollen, sind überrascht über die überall anzutreffende Frauenfeindlichkeit, den offenen Sexismus und Antifeminismus.9 Die Erlebnisse, die wir einander berichten, gleichen sich. Wir erleben eine politische Kultur, die auf Großspurigkeit, Lautstärke und Aggressivität gründet, wir erleben persönliche Anmache, Beleidigungen und Versuche, uns lächerlich zu machen, wir erleben ständiges Übergangenwerden, Unterbrechungen unserer Rede, Abwertungen und das ganze Arsenal von Handlungen und Haltungen, die seit 100 Jahren von Feministinnen angeklagt werden. Die Angriffe sind umso dreister und aggressiver, je mehr es um die Themen Gleichberechtigung, Feminismus, Gender, Quote und allgemein »Frauenthemen« geht. Solche Verhaltensweisen gegenüber Menschen anderer Hautfarbe oder Türken würde sofort den Vorwurf des offenen Rassismus hervorrufen. Gegenüber Frauen ist das alles möglich und wird weithin auch von jenen geduldet, die nicht aktiv an diesem Klima mitwirken.
Nun finden Frauen für diese Verhaltensweisen vielfältige Erklärungen. Sie gelten als Charakterschwächen (»sind halt Machos«), als Ausdruck von Bildungslücken (»er hat es noch nicht verstanden«) und persönlichen Handicaps (»lernresistent« oder drastischer »zu blöd«). Gesehen wird auch, dass sich in einer Partei, in der Mann wegen der Quote an Frauen schlecht vorbeikommt, der Konkurrenzkampf mit all seinen männlichen Schönheiten auch gegen Frauen richtet und oft mit besonderer Wut, denn die Quote wird als Hindernis für das verdiente Fortkommen gesehen.10 Mit der Mutmaßung, solches Verhalten sei insofern interessengeleitet, kommen wir der Wahrheit aber schon nahe. Denn es handelt sich tatsächlich, das ist meine These, um ein Handeln und um Haltungen, die eigenen Gruppeninteressen dienen, wenn auch nicht (nur) denen um Fortkommen innerhalb der Linken.
Um dies zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen. Eine verbreitete Erklärung für die Zerstörung des Sozialstaats ist die sogenannte »neoliberale Revolution«. Dabei wird unterstellt, der Sozialstaat hätte bis heute überlebt, wenn diese nicht stattgefunden hätte, man müsse also zur Rettung und Wiederherstellung des Sozialstaats nur die Neoliberalen zurückkämpfen. Dies ist der Gründungskonsens der Partei DIE LINKE. Die Krise des Sozialstaats ist aber nicht nur politischer Willkür gezollt, sondern eine objektive Entwicklung.
Aus den sozialen Kämpfen und Revolutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Zwillingsbrüder Sozialismus und fordistischer Sozialstaat11 hervorgegangen – der eine als Ergebnis der russischen und folgenden Revolutionen, der andere als Versuch, Revolutionen zu verhindern. Mit dem fordistischen Wohlfahrtsstaat modernisierte sich der Kapitalismus selbst. Grundlage war ein recht lange tragfähiger Klassenkompromiss zwischen den stärksten Gruppen des Kapitals – Rüstungs-, Metall-, Fahrzeug-, Elektro-, Energie- und Chemieindustrie – und den dort beschäftigten (männlichen) Arbeitern. Dieser Klassenkompromiss wurde Grundlage der Sozialpolitik. An den Löhnen dieser Kerngruppe des Proletariats orientierten sich die Einkommen aller abhängig Beschäftigten – in der Regel mit Abschlägen.
Der Kompromiss war für beide Seiten vorteilhaft. Er versprach durch höhere Löhne, durch die Massenkaufkraft der schnell wachsenden Bevölkerung die Ausweitung der kapitalistischen Konsumgüterproduktion. Die Beschäftigten erlebten einen Wohlstand, wie ihn der konkurrierende Sozialismus zu bieten nicht in der Lage war. Der soziale Friede war gesichert. Der Lohn versprach, die Familie zu ernähren, und vergrößerte dadurch die Abhängigkeit vom sicheren Arbeitsplatz.
Die Familie, als Keimzelle des Staates definiert, war ausersehen, Disziplinierungs- und Bildungsaufgaben wahrzunehmen, flankiert durch Schule, Kirche und Militär sowie Vereine und Wohlfahrtsorganisationen. Die Familienarbeit wurde den Frauen zugewiesen. Das fordistische Familienmodell sah jene strikte Trennung der Geschlechterrollen vor, wie sie im Westen Deutschlands dem Idealbild der kleinbürgerlichen Kleinfamilie der fünfziger Jahre entsprach. Da die Familienväter die einzige ökonomische Stütze der Familie waren, war die Sicherung der Vollbeschäftigung, der Vollerwerbstätigkeit und der möglichst ununterbrochenen Erwerbsbiografien notwendig. Frauen verdienten allenfalls hinzu, ihre Löhne waren deutlich geringer, die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze und ihre Ausbildung nachrangig, ihre Vollbeschäftigung unerwünscht. Sie übernahmen die Rolle der industriellen Reservearmee nahezu alleine.
Was wir heute an Abbau sozialer Dienste und Sicherheiten erleben, ist die Demontage, die Zerstörung dieses fordistischen Wohlfahrtsstaates, ist die Aufkündigung des Klassenkompromisses durch die Kapitalseite. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die vielleicht wichtigsten:
1. Als Gegenkonzept zum Sozialismus wird der Wohlfahrtsstaat nicht mehr gebraucht. Die entfesselten Finanzmärkte gieren nach Geld, das dem Sozial- oder Wohlfahrtsstaat entzogen wird. Der Wohlfahrtsstaat muss ausgenommen werden, weil in ihm viel Geld gebunden ist, Geld, das auf den Finanzmärkten Zinsen und Zinseszinsen verspricht. Das ist der Hintergrund der Privatisierung von Altersversorgung, Gesundheitswesen, öffentlichem Wohnungseigentum, Bildung, Wasser, Bahn, Post, Telekommunikation, Strom, Gas etc. Die viel diskutierte Umverteilung von unten nach oben hat nur einen Zweck: die oben mit frischem Geld zu versorgen.
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