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Wer die Lüge kennt. Beate VeraЧитать онлайн книгу.

Wer die Lüge kennt - Beate Vera


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Scheiße, Greta! Sie nahm das gefrorene Blut auf Gretas tarngrüner Winterjacke wahr. Ihre Freundin hatte es endlich hinter sich und würde nie wieder frieren müssen. Der Gedanke war auch ein bisschen tröstlich, fand Jeanny. Sie zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette und schnippte sie achtlos gegen die Wand. Der kalte Wind hatte eine Strähne des dunklen langen Haares über Gretas Gesicht geweht. Eine abgeknickte Ecke der Pappe, auf der die Tote saß, bewegte sich auf und ab. Jeanny drehte sich um und lief durch die Unterführung zurück zu den Häuserfluchten der Brennpunktsiedlung.

      Lea Storm betrachtete das Schattenspiel an ihrer Schlafzimmerdecke und seufzte wohlig, die Haut von einem dünnen Schweißfilm bedeckt. Ihr Körper fühlte sich an wie Götterspeise. Lea musste grinsen. Sie war eigentlich nicht prüde, aber bei dem Gedanken an den soeben vollzogenen Akt errötete sie bis in die Haarspitzen. Jetzt waren sie schon etwas über ein halbes Jahr zusammen, doch der Sex war nach wie vor unfassbar gut. Sie bekamen einfach nicht genug voneinander. Morgens, abends, nachmittags, mitten in der Nacht – wann immer ihnen danach war. Es war fantastisch.

      Lea hatte größte Mühe, sich aus den warmen Laken zu schälen, die ihr übergroßes Bett bedeckten. Als Halbschottin verzichtete sie auf die dicken Daunenbetten, die man im Winter in vielen deutschen Schlafzimmern vorfand. Ihr reichten zwei Laken in Übergröße, dazwischen legte sie in den kalten Monaten eine Steppdecke. Im Sommer genügte oft eines der Laken. Tagsüber zierte ein Quilt, eine Art Patchworkdecke, das Ensemble. Darauf lagen zahlreiche, unterschiedlich große Kissen in passenden Farben.

      Mit einem breiten und sehr zufriedenen Lächeln betrachtete Lea das Deckenknäuel und Martins muskulösen Schwimmerrücken daneben. Dem war immer zu warm, aber das passte gut, denn meist raffte sie nachts das gesamte Bettzeug an sich.

      Am Aufstehen führte kein Weg vorbei, Lea musste sich weiter auf die am Montag beginnende Tagung zur Bekämpfung von Rassismus und Gewalt im europäischen Fußball vorbereiten, auf der sie die Delegation der Scottish Football Association betreuen sollte. Die Einarbeitung in die Materie fiel ihr zum Glück nicht schwer, sie hatte rund zwanzig Jahre mit zwei fußballbegeisterten Männern, ihrem Sohn und seinem verstorbenen Vater, verbracht. Da war durch ihre schiere Anwesenheit so manches Wissen hängen geblieben. Allein ihre andauernde Müdigkeit und ihr Auftraggeber machten ihr zu schaffen.

      Im Flur neben dem Schlafzimmer erhob sich Talisker, ihr ungewöhnlich rotbraun gefärbter Schottischer Hirschhund, zu seiner gewaltigen Größe. Er dehnte sich ausgiebig und folgte ihr die Treppe hinunter in die Küche.

      Kriminalhauptkommissar Rolf Prinz war das soziale Engagement seines Gegenübers gänzlich unverständlich, und an einem Freitagmorgen hielt sich sein Interesse dafür auch stark in Grenzen. Thomas Hartmann, Chemiker von Beruf und eine imposante Erscheinung, kümmerte sich laut seiner zehnminütigen und viel zu umfangreichen Schilderung schon seit Jahren ehrenamtlich um Obdachlose. Seitdem im Spätherbst eine Gruppe von Frauen eine leer stehende Lagerhalle ganz in der Nähe für sich entdeckt hatte, konzentrierte er sich ganz auf die Arbeit im eigenen Kiez. Offenbar war der Mann einer von diesen Gutmenschen, die einem den letzten Nerv rauben konnten. Es gab doch genug Übernachtungsmöglichkeiten für Menschen, die keine eigene Wohnung hatten, und die soziale Hängematte, die der Staat nicht nur seinen Bürgern, sondern sogar jedem Emigranten bot, war nun wahrlich bequem, fand Prinz. Niemand musste in Deutschland auf der Straße schlafen. Diejenigen, die es dennoch taten, waren entweder geistig minderbemittelt oder wollten bewusst dem Radar der Behörden entgehen. Neben ihm leierte Hartmann irgendeine Statistik herunter, der zufolge obdachlose Frauen häufig Opfer von Gewalt würden. Aber Prinz glaubte ihm kein Wort. Es gab doch kaum wohnungslose Frauen auf den Straßen. Jedenfalls sah er nie welche.

      Thomas Hartmann gab an, von einer anderen Obdachlosen telefonisch informiert worden zu sein. Daraufhin habe er die Tote gefunden und die Polizei alarmiert. Er wirkte verzweifelt und gestikulierte wild. »Kommissar Prinz, das ist jetzt die zweite tote Obdachlose innerhalb von sechs Wochen. Da hat es jemand gezielt auf diese Frauen abgesehen! Was unternehmen Sie dagegen?« Er wartete die Antwort nicht ab, die Prinz auch gar nicht zu geben vorhatte. »Sicher gar nichts! Denn Sie interessieren sich ebenso wenig für diese Frauen wie der Rest der Gesellschaft. Wenn die Tote aus dem noblen Dahlem käme, stünde hier ein vielköpfiges Ermittlungsteam auf der Matte. Aber eine Frau, die seit Jahren unter Brücken lebt – wen kümmert’s schon, wenn so eine draufgeht!« Hartmann atmete tief ein. »Herr Prinz, ich werde keine Wahl haben und an die Presse gehen müssen, wenn Sie nicht innerhalb angemessener Zeit mit Ermittlungsergebnissen aufwarten können.«

      Das fehlte Prinz gerade noch! Er riss sich zusammen, um Kompetenz auszustrahlen. »Herr Hartmann, zunächst einmal bin ich Hauptkommissar. Mein Dienstgrad sollte Ihnen verdeutlichen, dass wir diesen Vorfall durchaus ernst nehmen. Und die Presse zu involvieren wird nicht nötig sein. Wir tun alles in unserer Macht Stehende, um den oder die Täter zu ermitteln. Morde im Obdachlosenumfeld erfordern eine spezielle Vorgehensweise, die selten von sofortigen Erfolgen gekrönt ist. Ich muss Ihnen sicher nicht erklären, dass es oft schon schwierig genug ist, die Namen der Opfer in Erfahrung zu bringen, geschweige denn Angehörige ausfindig zu machen. Obdachlose tragen meist keine Papiere bei sich, sind nirgendwo gemeldet, und die Erfahrung zeigt zudem, dass die Menschen aus diesem Milieu die Polizei nicht freiwillig bei deren Ermittlungen unterstützen.«

      »Es ist mir egal, was Sie tun müssen, um diese Morde aufzuklären. Tun Sie es einfach, sonst informiere ich nächste Woche die Presse!« Hartmann schickte sich an zu gehen, drehte sich dann aber noch einmal zu Prinz um. »Sie hieß Greta. Greta Langner. Sie kam aus der Nähe von München. Und sie hatte eine wunderschöne Stimme. Sie hätten sie mal singen hören sollen. Sie sang jeden Abend dasselbe Lied … Das war einfach unglaublich schön.« Dann schlug er den Kragen seiner dick gefütterten Winterjacke hoch und ging mit schnellen Schritten in Richtung des Eifelviertels, in dem das kleine Reihenhaus stand, das er mit seiner Frau Sabine bewohnte.

       2

      Jeanny war sechzehn, fühlte sich aber wie dreißig. Sie hatte keine Kindheit gehabt, die man als schön hätte bezeichnen können. Spätestens als ihr Vater begonnen hatte, sie anzufassen, war diese beendet gewesen. Da war sie sechs Jahre alt. Die Menschen in ihrer Umgebung nahmen an, der Schulstart mache ihr zu schaffen, als sie immer stiller wurde und sich zurückzog. Kurz nach ihrem neunten Geburtstag, als ihre Mutter die Nachtdienste übernehmen musste, kam der Vater das erste Mal in ihr Bett. Mit dreizehn ertrug sie es nicht mehr. Niemand merkte, was los war, und Jeanny wusste, dass sie sich alleine helfen musste. Also hatte sie einen Rucksack gepackt und das Weite gesucht. Jeanny hatte endlich an einen friedlichen Ort gewollt, an einen Ort, an dem sie nicht auffiel. Die ersten Monate auf Trebe waren ganz okay gelaufen, doch dann war es draußen genauso beschissen geworden wie zu Hause. Seitdem lebte sie auf den Straßen Berlins. Das war nach wie vor weit entfernt von dem, was sie sich wünschte, aber es war allemal besser als ihr Leben davor. Hier entschied sie selbst, wer sie anfassen durfte und wer nicht. Meistens jedenfalls.

      Jeanny hatte Greta unbedingt zeigen wollen, was sie dem dämlichen Schnösel abgenommen hatte, als der auf einer Bahnhofstoilette am Südkreuz mit ihr beschäftigt gewesen war. Sie hatte Glück gehabt, der Idiot hatte wenigstens einen passablen Musikgeschmack. Auf seinem Smartphone, das sie aus seiner Jackentasche gefischt hatte, waren ganz gute Titel, aber auch eine Menge Songs, die sie nicht kannte. Sie hatte angenommen, dass Greta ihr etwas dazu sagen könnte. Die war schon sehr alt, bestimmt vierzig oder so. Greta war immer am Singen. Die anderen Frauen im Kiez erzählten sich, dass sie mal was mit Musik zu tun, viele Jahre im Ausland gelebt und sogar eine Familie gehabt habe. Backgroundsängerin sei sie gewesen, sogar für die irische Rockband U2, raunte man. Greta selbst hatte nie über ihre Vergangenheit gesprochen. Aber mit Musik hatte sie sich ausgekannt.

      Jeanny lehnte sich gegen einen zurückgelassenen Traktorreifen auf einem bewachsenen Streifen inmitten des großen Felds kurz hinter dem Berliner Stadtrand. Sie hatte Thomas angerufen. Der würde wissen, was zu tun war. Sie selbst wollte auf keinen Fall mit den Bullen reden, das hatte sie ihm auch deutlich gesagt. Dann war sie einfach losgelaufen, durch die Hochhaussiedlung, die Osdorfer Straße entlang, dann die Ausfallstraße hinaus aus Berlin. Bei dem großen Feld war sie abgebogen und dem Trampelpfad entlang des Grünstreifens gefolgt, bis


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